Codename: Sempo (eBook)
232 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-491-0 (ISBN)
Andreas Neuenkirchen, geb. 1969 in Bremen, ist seit 1993 Journalist, zunächst frei im Feuilleton Bremer Tageszeitungen und Stadtmagazine, später als Redakteur in München online und offline. Er ist der Autor mehrerer Sachbücher (darunter der Bestseller 'Gebrauchsanweisung für Japan', seit 2020 'Gebrauchsanweisung für Tokio und Japan') und Romane mit Japan-Bezug und wirkte an rund zwanzig internationalen TV-Produktionen als Autor, Berater und Redakteur mit. Er lebt mit seiner japanischen Frau und der gemeinsamen Tochter in Tokio.
Andreas Neuenkirchen, geb. 1969 in Bremen, ist seit 1993 Journalist, zunächst frei im Feuilleton Bremer Tageszeitungen und Stadtmagazine, später als Redakteur in München online und offline. Er ist der Autor mehrerer Sachbücher (darunter der Bestseller "Gebrauchsanweisung für Japan", seit 2020 "Gebrauchsanweisung für Tokio und Japan") und Romane mit Japan-Bezug und wirkte an rund zwanzig internationalen TV-Produktionen als Autor, Berater und Redakteur mit. Er lebt mit seiner japanischen Frau und der gemeinsamen Tochter in Tokio.
KAPITEL 1
ZWISCHEN DEN KRIEGEN,
ZWISCHEN DEN JAHRHUNDERTEN
Herr Iwai zieht in den Krieg, Herr Sugihara kehrt zurück.
Frau Iwai heiratet unter ihrem Stand.
Chiune lernt früh zu schwimmen, im Fluss und in der Gesellschaft.
Um ein Haar wäre der Vater des Diplomaten, Spions, Soldaten und Kaufmanns Chiune Sugihara gestorben, bevor er einen Sohn hätte zeugen können. Sogar bevor er selbst ein Sugihara werden konnte.
Im August 1894 brach zwischen Japan und China Krieg um die Vorherrschaft in Korea aus. Im folgenden Jahr wurde Yoshimizu Sugihara an die Front gerufen. Nur hieß er da noch nicht Yoshimizu Sugihara. Sein Name lautete Mitsugoro Iwai. Iwai war ein häufiger Familienname in seiner Heimatpräfektur Gifu. Doch nicht alle Iwais waren eine große Familie, und nicht alle Iwais waren gleichermaßen angesehen. Yoshimizu gehörte zu den niederen Iwais. Seine Familienlinie lässt sich kaum zurückverfolgen, und während des Krieges schien es ziemlich wahrscheinlich, dass sie bei ihm enden würde.
Dass er beinahe als Kriegstoter auf den Schlachtfeldern in China oder der Mandschurei geendet wäre, war derweil nicht den Schwertern, Speeren, Pfeilen, Spießen und Hellebarden der kaum organisierten chinesischen Heere geschuldet, die gegen die Feuerkraft der Repetierbüchsen und Krupp-Kanonen der Kaiserlich Japanischen Armee wenig ausrichten konnten. Es war die Tuberkulose, die ihn niederstreckte. Doch ein freundlicher Offizier namens Kosui Sugihara nahm sich seiner an. Er pflegte Iwai wieder gesund. Aus Dankbarkeit ließ sich Iwai von Offizier Sugihara adoptieren, woraufhin er den Familiennamen seines neuen Vaters übernahm. Das war im Japan jener Zeit keine ungewöhnliche Praxis. Und noch heute gefällt es manchen, sich im Erwachsenenalter einen neuen Vornamen zu wählen, der besser zum Selbstbild passt. Dabei wird diese Namensänderung nicht immer offiziell vorgenommen, sondern lediglich informell im Alltag praktiziert. Laut einigen Quellen soll der ehemalige Iwai von seinem Wohltäter auch den Vornamen Kosui übernommen haben, meistens jedoch wird er als Yoshimizu oder Yoshimi gelistet.
Die Namensänderung ist verbürgt, die Beweggründe sind Legende. Einer anderen Theorie zufolge wollte der ehemalige Iwai lediglich eine größere Trefferquote bei der Zustellung seiner Post bewirken. Es gab einfach zu viele Iwais vor Ort.
Obwohl er über so viel Weitsicht nicht verfügt haben wird, führte die Namensänderung auch zu weniger Verwirrung, als er nach seiner vollständigen Genesung auf Freiersfüßen durch die Straßen Gifus wandelte. Bald fand er eine Dame, der er den Hof machen wollte, und sie war ebenfalls eine Iwai. Nicht nur irgendeine. Heute würde man sagen: Sie spielte außerhalb seiner Liga. Yatsu Iwai war nicht nur als die Stadtschönheit bekannt, sie war außerdem von edler Abstammung. Eine von den besseren Iwais. Sie entstammte einem Samuraigeschlecht mit langer Tradition und einigen Vermögenswerten. Dennoch beschied sie sein Werben positiv. Aus den beiden Iwais wurde eine Familie, und zu zweit blieben sie auch nicht lange. Nicht mal zu dritt. Nach dem kleinen Toyoaki wurde ihnen am 1. Januar 1900 in der Stadt Kōzuchi ihr zweiter Sohn Chiune Sugihara geboren. So steht es im Geburtenregister jenes Ortes (heute die Stadt Mino), und so wird es mittlerweile gemeinhin akzeptiert. Bis vor wenigen Jahren hatte auch die Kleinstadt Yaotsu, ebenfalls in der Präfektur Gifu, für sich beansprucht, Sugiharas Geburtsort zu sein, basierend auf zwei handgeschriebenen Dokumenten, die dem späteren Diplomaten zugeordnet wurden und für die man sogar die Aufnahme ins Weltdokumentenerbe der UNESCO beantragt hatte. Sein letzter lebender Sohn Nobuki bezweifelte allerdings die Authentizität der Schriftstücke, und tatsächlich wurden sie schließlich als Fälschungen entlarvt. Trotzdem hielt Yaotsu seinem vermeintlichen Sohn der Stadt die Treue, zumal er später mit seiner Familie tatsächlich dort lebte. Heute erinnern in jenem Ort ein Museum und ein Monument an den Mann, der knapp nicht dort geboren worden war.
Chiune Sugihara hatte nie großes Aufheben um sein nach westlicher Rechnung bemerkenswertes Geburtsdatum gemacht. Das Jahr 1900 war nach japanischem Kalender das Jahr 33 der Meiji-Zeit, benannt nach dem posthumen Namen ihres Kaisers Mutsuhito. Auch wenn der Krieg mit China vorüber war, sollte 1900 kein friedliches Jahr für Japan und China werden. Die japanische Armee unterstützte die britische dabei, den Boxeraufstand niederzuschlagen, bei dem selbst erklärte chinesische Freiheitskämpfer gegen ausländische Institutionen und chinesische Christen vorgingen. Es dauerte außerdem nicht mehr lange, bis die Kaiserliche Armee in ihren nächsten großen eigenen Krieg zog. Im Februar 1904 wurden bei einem Angriff auf russische Schiffe vor der chinesischen Küstenstadt Dalian die ersten Schüsse des Russisch-Japanischen Krieges abgefeuert. Der Konflikt, ausgelöst von Rivalitäten über Gebietsansprüche in der Mandschurei und in Korea, endete mit dem ersten Sieg einer asiatischen über eine europäische Großmacht in der Moderne.
Yoshimizu Sugihara, ehemals Mitsuguru Iwai, mischte diesmal nicht mit. Zumindest nicht an der Front. Er fand, dass er in seiner neuen Position seinem Land bereits ausreichend diente: Er arbeitete in seiner Region als Steuereintreiber des Kaisers.
Obwohl der Titel einen respektablen Stand suggerierte, war die Bezahlung eher solide als großzügig, und das Ansehen des kaiserlichen Steuereintreibers bei der gemeinen Bevölkerung war kaum besser als das irgendeines anderen Steuereintreibers. Sugihara sen. war den traditionsbewussteren Bürgerinnen und Bürgern zudem schon äußerlich suspekt. Obwohl er ein Amt ausfüllte, das in einer gewissen patriotischen Tradition stand, trug er westliche Kleidung wie Jacken und Hosen. Er legte bei Tanzveranstaltungen zu westlicher Musik eine heiße Sohle aufs Parkett und war Stammgast in den zu dieser Zeit neu eröffnenden Lichtspielhäusern der Gegend. Dieser Mann, der adrett zwischen Tanzpalast und Kino flanierte, mochte seinem Sohn Chiune in dessen späteren Jahren alles andere als unähnlich gewesen sein, auch wenn ihr Verhältnis da längst zerrüttet war. Yoshimizus kulturelle Neugier, die keine geografischen und ideologischen Grenzen kannte, war anscheinend vererbt.
Ob in Jacke und Hose oder Herren-Kimono, er machte seine Arbeit sehr gewissenhaft. Es kam nicht von ungefähr, dass Pfandhäuser in den aktiven Jahren des Steuereintreibers Sugihara die am schnellsten wachsenden Unternehmen in seinem Wirkungsgebiet waren. Der siegreiche Krieg gegen Russland kam seinem Wirken zugute. In Kriegszeiten beziehungsweise nach gewonnenen Kriegen ließen sich die Bürgerinnen und Bürger leichter in patriotische Wallungen bringen, und sie waren viel eher bereit, den Geldbeutel für den Staat zu öffnen. Für die Familie Sugihara fiel zusehends mehr ab. Zunächst lebte sie in einem Tempel, daraufhin zog sie um in eine Personalwohnung im Finanzamt von Nagoya. Schließlich konnte man sich ein kleines Eigenheim leisten.
Jenes Holzhaus befand sich nah am Fluss Kiso, der durch die Stadt Yaotsu floss. Ein vortrefflicher Platz zum Angeln, wovon der junge Chiune und sein zweieinhalb Jahre älterer Bruder Toyoaki reichlich Gebrauch machten, wenn sie nicht gerade in den Läden des Ortes ihr bescheidenes Taschengeld für Süßkartoffeln, Süßspeisen oder Reisgebäck ausgaben. Im Sommer konnte es in den Ebenen der Region unerträglich heiß werden, deshalb verbrachten die Jungen nicht nur einen großen Teil ihrer Freizeit im Fluss selbst, sondern vor allem im Haus ihrer Großmutter mütterlicherseits, das ein paar Kilometer entfernt in einem schattigen Bambushain auf einem Hügel lag.
Obwohl die Sugiharas nicht in Saus und Braus lebten, so hatten sie durch die Reserven der Mutter und das geregelte Einkommen des Vaters doch ein komfortableres Leben als die meisten Familien im Ort, die auf den Feldern schufteten; eine harte Arbeit, um die auch die jüngeren Familienmitglieder nicht herumkamen. Da die Sugihara-Familie nicht landwirtschaftlich tätig war und man von den Kindern kaum erwarten konnte, dass sie dem Vater beim Eintreiben der Steuern und bei der Buchführung halfen, hatten sie mehr Zeit für Spiel und Müßiggang als ihre Altersgenossen aus der Nachbarschaft. Bereits mit fünf Jahren war Chiune Sugihara ortsbekannt als ein exzellenter Schwimmer mit breiten Schultern. Er verfügte schon über den stechenden Blick, der später so viele Menschen, denen er beruflich oder privat begegnete, tief beeindrucken sollte. Der Fluss war sein Revier. Er und sein Bruder bauten sich Angelruten aus den Bambushalmen, die sie am Haus ihrer Großmutter schnitten. Die Schnüre fertigten sie aus Pferdeschwanzhaaren, die sie eigenhändig ausrupften. Wurmköder für ihre Fänge fanden sie mit Leichtigkeit am schlammigen Flussufer. Ihre Konkurrenten waren die Kormorane, die über dem Wasser ihre Runden zogen und blitzschnell hinabschossen, wenn sie unter der Oberfläche...
Erscheint lt. Verlag | 3.11.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Schlagworte | Agent • China • Chiune „Sempo“ Sugihara • Codename Sempo • Deckname Sempo • Finnland • Flüchtlinge • Gefälschte Visa • Gegner von Tyrannei und Unterdrückung • Gerechter unter den Völkern • Holocaust • Israel • Japan • japanische See • Judenverfolgung • Jüdische Flüchtlinge • Korea • Litauen • Mandschurei • menschlicher Triumph • Nationalsozialismus • Nazi-Deutschland • NS-Zeit • Odyssee • Russland • Sibirien • Späte Anerkennung • Spionage • Stiller Held • Transitvisa • Visa • Widerstand • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-95890-491-2 / 3958904912 |
ISBN-13 | 978-3-95890-491-0 / 9783958904910 |
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