Die Unbeirrbare (eBook)
352 Seiten
Edition W (Verlag)
978-3-949671-55-5 (ISBN)
Marie-Luise Wolff, geboren 1958, Studium der Anglistik und Musikwissenschaft, arbeitete in leitender Funktion in vielen bedeutenden Unternehmen (wie der Bayer AG, bei SONY und E.ON). Seit 2013 ist sie Vorstandsvorsitzende der ENTEGA AG sowie seit 2018 Präsidentin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Bei Westend erschien 2020 "Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung". Marie-Luise Wolff lebt in Darmstadt und Köln.
Gefangennahme
REIMS, Sommer 1789
»Und jetzt, komm mit.«
Stumm, angstvoll, gelähmt, lässt sie sich auf dem Vorplatz der Abtei Saint-Pierre-les-Dames in eine Nische bugsieren. Nicole wendet ihren Kopf zur Seite und richtet den Blick auf ihre Freundinnen – drei, vier Mädchen, die sich noch in der Nähe der Eingangspforte der Schule aufhalten. Sie versucht, ihre Augen scharf zu stellen auf Mathilde, als könnte die Freundin zu ihr herüber kommen und ihr helfen.
»Schau da nicht hin, Nicole«, zischt jemand von oben.
Sie wendet ihren Kopf zurück, blickt hinauf zu der Frau, die zu ihr spricht und sie fest am Arm hält. Sie nimmt ihr großes Kinn wahr, ihre müden Augen, ist irritiert über ihre Bauerntracht, ihr offenes Haar, ihre ungepflegte Erscheinung und über die ungewöhnliche Ruppigkeit, mit der sie ihr Befehle erteilt, sie vor sich her treibt, als wäre sie ein Stück Vieh.
Alles das ist neu.
Nicole Ponsardin ist elf Jahre alt und die Frau, die sie in dieser Weise gängelt, eine Schneiderin in den Diensten der Familie. Direkt vor dem Eingang zur königlichen Mädchenschule hat sie sie abgefangen, gerade in dem Augenblick, als Nicole nach der väterlichen Kutsche Ausschau hält, von der sie erwartet, wie an jedem anderen Tag der Woche, genau hier abgeholt zu werden. Warum kommt die Kutsche nicht? Auch nicht, als sie sich noch einmal gründlich nach ihr umsieht? Alles ist in diesen Wochen möglich. Entführung, Erpressung, Putsch, oder aber: Nichts davon. Ihr Vater hat sie vorgewarnt. Keine Zeit für Fragen verlieren, hat er ihr eingeschärft. Ein Pulk von Mitschülerinnen steht um sie herum, als die Schneiderin erscheint und sie herauswinkt. Hat ihr Vater sie wirklich geschickt? Aber warum jetzt? Warum genau heute? Was will sie von ihr, sie, die sonst die Schneiderin ihrer Mutter ist? Widerwillig und skeptisch wartet Nicole auf eine Erklärung.
»Du ziehst das jetzt an,« sagt die Schneiderin, die Elise Le Compes heißt.
Sie hält ihr ein gefaltetes Stück Stoff vor die Augen, so nah, dass Nicole nichts davon erkennen kann. Sie klingt erregt, ungeduldig, sieht verärgert aus, denkt Nicole, oder angespannt. Während sie sich langsam vom Schultor entfernen, prüft sie mit umherschweifendem Blick, ob sich ihnen jemand nähert. Die beiden Frauen befinden sich jetzt an der Seite der mächtigen Klosterbasilika. Hellgelber Sandstein, vor Jahrhunderten dem heiligen Petrus geweiht. Saint-Pierre ist die kleine, die zweite gotische Basilika von Reims, deutlich älter und weniger spektakulär als die Notre Dame-Kathedrale, hat jedoch ebenfalls zwei gedrungene Türme und jene typisch opulente Fensterrosette in der Mitte der Fassade. Direkt neben Saint-Pierre liegt das unscheinbare Frauenkloster, christlich-katholisch, mit Schulbetrieb, begehrt für die Erziehung höherer Töchter, reserviert für die behüteten Mädchen adeliger oder auf anderen Wegen zu Einfluss und Reichtum gelangter Eltern. Nicht nur aus den Departements der Champagne strömen die Töchter herbei, um diese Schule zu besuchen. Das Kloster wird die Revolution nicht überleben.
In der Krönungsstadt der französischen Könige stinkt es unangenehm in diesen heißen hochsommerlichen Tagen im Juli 1789. Und vor den Toren der Kirche ist es mit der Ruhe und Beschaulichkeit früherer Jahre vorbei. Massenweise Bettler halten sich dort auf. Überhaupt sind viel zu viele Menschen in der Stadt, und seit einiger Zeit ist es auch in Reims üblich, in der Umgebung von Kirchen zu urinieren.
An den Bettlern vorbei, um das Gotteshaus herum, biegen sie auf einen Kiesweg ein. Die Schneiderin ist zielstrebig, sie hat einen Plan, hat sich diesen Weg vorher ausgedacht, anders kann es nicht sein, denkt Nicole. Ihre Schritte sind kraftvoll und zügig. Der Gang verrät einen immer. Wie eine Puppe schiebt sie das Mädchen vor sich her.
»Du ziehst das jetzt gleich an,« wiederholt sie. Ihre Befehle klingen scharf, aber auch ein wenig einstudiert.
»Warum sind Sie hier?«, fragt Nicole. Der trockene Kies knirscht so laut unter ihren Füßen, als gäbe es kein anderes Geräusch auf der Welt. Von schräg über ihr keine Antwort.
»Heilige Maria«, denkt sie. »Was soll ich tun?« Ein Hund bellt, es schlägt vier Uhr.
»So, da wären wir!«, ruft die Schneiderin plötzlich und stellt ihre Kiepe auf dem Kies ab.
»Warum sind wir hier?«, wiederholt Nicole und sieht sie an.
Zum ersten Mal bemerkt sie eine senkrechte Kerbe im Gesicht der Schneiderin. Und einen scharfen Schlitz in der Mitte ihrer Stirn, direkt über der Nasenwurzel beginnend und fast bis zum Haaransatz in ihre dünne Haut gemeißelt, die ansonsten glatt ist.
»Du weißt, worum es geht. Du musst hier weg«, raunt sie ihr zu.
»Aber warum werde ich …«
»Du wirst dich jetzt umziehen – sei nicht töricht, dein Vater möchte, dass du mir folgst«.
Noch bevor Nicole weitere Fragen stellen kann, wirft die Schneiderin ihr das graue unscheinbare Stoffpaket zu, das sie schon den ganzen Weg über in ihrer Hand gehalten hat. Nicole fängt es auf, klemmt es zwischen ihre Knie, bevor sie ihr Kleid über den Kopf zieht. Der Stoff der neuen Bekleidung ist hart, er kratzt sie schon jetzt, wo er nur an einer einzigen Stelle ihres Beines schubbert, aber sie pariert, streift sich das raue Hemd über, während ihre Begleiterin es an ihrem Körper zurechtzupft. Zu Hause wird sie die nicht mehr benötigten Kleidungsstücke der Familie sorgfältig auftrennen und neue daraus nähen. Nichts verschwenden, auch aus den Stoffresten ist immer noch etwas zu machen, ist ihre Devise. Sie ist groß, diese Schneiderin, ihr Vater nennt sie »le perfectionniste«. Genau das ist wohl der Grund, warum er ihr diesen Auftrag gegeben hat, denkt Nicole.
Dieser Gedanke beruhigt sie ein wenig. Nicole will beobachten und sich merken, was die Schneiderin tut. Mit ihren kleinen durchdringenden Augen studiert sie die Handlungen ihrer Entführerin, versucht sich einzuprägen, was sie sagt. Ein unverdrossenes, zähes Mädchen ist diese Nicole, allerdings fügt sie sich nicht gern. Ständig verhandelt sie zu Hause über alles Mögliche. Sie möchte das Schachspielen lernen oder tote Vögel auseinander nehmen, um deren Flügel zu studieren. Noch lieber begleitet sie ihren Vater in die Fabrik.
An der Klostermauer tritt die Schneiderin zurück, mustert Nicole, reicht ihr eine grobe Kordel, damit sie sich das Hemd in der Taille zusammenbindet.
»Und nun gib her, deine Schuhe!«, befiehlt sie ihr.
Sie zieht ein Paar einfache Holzpantinen aus der Kiepe, stellt sie Nicole vor die Füße, wartet, bis sie Strümpfe und Schuhe ausgezogen hat. Die weißen Strümpfe des Mädchens wickelt sie rasch zu einem Knäuel und wirft sie samt der mit blauem Samt bezogenen Schuhe auf den Boden der Kiepe – wo schon Nicoles helles Chiffonkleid gelandet ist. Mit einem Bündel mitgebrachten Strohs bedeckt die Schneiderin Nicoles Kleidung am Boden der Kiepe, greift noch einmal in die Taschen ihrer Schürze, holt zwei Hände voll staubiger Kartoffeln hervor und legt sie auf das Stroh, bis keine Lücke mehr bleibt. Sie sind so etwas wie ein Deckel, der jetzt auf der bürgerlichen Existenz des Mädchens liegt. Nicole Ponsardins vornehme Erscheinung, begraben in einer Bauernkiepe.
»Selbst wenn uns jemand kontrolliert – selbst wenn jemand in die Kiepe hinein schaut, er wird nichts bemerken«, sagt die Schneiderin. »Es gibt überhaupt nichts, das einen glauben machen könnte, du gehörtest nicht zu mir«.
Die elfjährige Nicole Ponsardin ist die älteste Tochter des reichsten Textilkaufmanns der Stadt Reims. Ihre Intelligenz sticht früh heraus. Alle Anregungen fruchten bei ihr und schlagen Wurzeln. Niemand in der Familie übertrifft ihr Vermögen, sich Dinge zu merken. Die Aufmerksamkeit, mit der sie zuhören, etwas betrachten und es dann irgendwo in ihrem Kopf aufbewahren kann, ist beachtlich. Dazu ist sie mit einer Redegewandtheit ausgestattet, die weder zu ihrem Alter noch zu ihrer vornehmen Erziehung, noch zu ihrem Geschlecht passen will. Schon mit zehn Jahren weiht der Vater sie in seine Sorgen ein, er fördert und vergöttert sie. Bei ihr muss er nicht lange überlegen, wie er eine Sache einleitet oder ob sie seine Äußerungen versteht. Sie ist nicht wie eine Elfe oder ein Schmetterling, diese Tochter, eher hat sie etwas von einem geschäftstüchtigen Verkäufer von Goldmünzen, sagt ihr Vater zuweilen.
In der Schule erledigt Nicole Stickarbeiten, genau wie die anderen Mädchen, aber zusammen mit Mathilde, ihrer Freundin, macht sie sich über ihre Lehrerin lustig, die fromme Adèle, eine Nonne, die laut und anklagend die Namen der Mädchen ruft – »Nicole Ponsardin et Mathilde de L’Haridon« -, wenn sie die Köpfe zusammen stecken und miteinander schwätzen. Ständig korrigiert Adèle die beiden. Der Faden zu lang, die Stiche zu groß, die Abstände zu unregelmäßig. Wenn sie es zu bunt treiben, es zu laut wird in der Klasse, haut Adèle mit einer Holzlatte auf den Tisch. Sie ergreift die Latte mit beiden Händen, fasst sie am unteren Ende, holt mit ihren Armen weit nach oben aus und schlägt das sicher vier Fuß lange Stück Holz mit Wucht auf den Tisch. Genau in die Mitte ihres Katheders, damit der Lärm im ganzen Flügel des Klosters zu hören ist. Über den lauten Knall bricht Nicole jedes Mal in Lachen aus, bevor sie dann still wird, weil ihr die Ohren summen. Ihr Holzstück hat Adèle immer dabei, sie trägt es von Raum zu Raum wie ein Schwert, das sie zur Verteidigung braucht gegen die Albernheit.
»Hat Papa sie geschickt?«, fragt Nicole die Schneiderin.
»Nicht...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-949671-55-2 / 3949671552 |
ISBN-13 | 978-3-949671-55-5 / 9783949671555 |
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