Muschel, Meer und Mut (eBook)

Mit einer Angststörung auf dem Jakobsweg

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
160 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06575-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Muschel, Meer und Mut -  Marina Bauer
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Marina leidet seit 20 Jahren an einer Angststörung. Der Gedanke, irgendwann einmal alleine zu verreisen, war lange Zeit nicht vorstellbar. Doch dann hört sie den Ruf des Jakobswegs und seine Stimme wird immer lauter. Marina beschließt, sich ihrer größten Angst zu stellen. In ihrem Buch schreibt die junge Frau über ihre Höhen und Tiefe auf dem Weg, über zahlreiche einzigartige Begegnungen und Erfahrungen auf dem Camino, die sich wie einzelne Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen.

Marina Bauer, Jahrgang 1984, hat Germanistik und Europäische Ethnologie studiert.

Marina Bauer, Jahrgang 1984, hat Germanistik und Europäische Ethnologie studiert.

In der Praxis wurde mir, umso näher der Tag heranrückte, bewusst, was ich da eigentlich vorhatte. Ich stand wenige Wochen vor meiner Abreise in einem innerlichen Konflikt, wie Engelchen und Bengelchen. Ich schwankte zwischen Vorfreude und Angst. Ich war einfach total nervös. Hatte ich auch nichts vergessen? Wollte ich das alles überhaupt noch? Wie sieht es denn eigentlich mit Notfallnummern aus? Diese schrieb ich mir für alle Fälle auf einen separaten Zettel. Bei all der Nervosität im Vorfeld spürte ich Momente der Vorfreude. Ich wusste, dass die Zeit gekommen war, meinen Weg zu gehen.

Und dann war der Tag da. Besser gesagt, der Tag vor dem Tag, an dem ein angehender Pilger sehr bedacht darauf ist, dass er nicht mehr umknickt oder sonst keine Dummheiten mehr passieren. Ich packte meinen Rucksack und stellte fest, dass er mit zwölf Kilogramm (ohne Wasser und Proviant) viel zu schwer war. Aber egal, für Planungsänderungen hatte ich keinen Kopf mehr. Ich telefonierte mit guten Freunden, die mich alle noch einmal bestärkten, diese Reise zu machen. Ich weinte vor Freude und vor Angst, aber der Entschluss stand.

Mein Flug ging früh, gegen sieben Uhr morgens. Ich denke, es ist egal, in welchem Alter jemand sich befindet, aber ich hatte eine Heidenangst davor zu verschlafen. Also fragte ich eine gute Freundin, ob sie bereit für einen zusätzlichen Weckruf wäre. Das hätte sich wie immer eigentlich erübrigt, denn ich war lange vor dem Alarm wach. Um ehrlich zu sein, schlief ich so gut wie gar nicht in jener Nacht. Ich packte meine Sachen zusammen, checkte die Wohnung und es ging los … auf den Weg zum Flughafen, in die Nacht, ins Ungewisse.

Ich hörte Musik, um mich von meinen Gedanken abzulenken, aber ich ging. Die Wanderschuhe hatte ich an. Ich spürte, dass nun etwas Großes auf mich zukam. Dennoch versuchte ich Ruhe zu bewahren, als ich in den Zug stieg. Noch „zwei Stationen“ dachte ich, dann bist du am Flughafen. Ich versuchte Schritt für Schritt zu denken. Ich versuchte, nicht weiter zu fühlen als diesen nächsten Schritt.

Es klappte alles, ich verlief mich nicht und stieg in das richtige Flugzeug. Ich hatte so viele Bedenken im Vorfeld und reservierte mir sogar im Flieger vorab einen Sitzplatz am Gang. So hatte ich das Gefühl, wenigstens schnell aufstehen zu können, wenn irgendwas war – so dachte ich in meinem Angstmodus. Der Gedanke, was wäre, wenn ich einen Rückzieher mache, wog jedoch viel schwerer als alle befürchteten Sorgen. Es hätte sich um ein Vielfaches schlimmer angefühlt, wenn ich diese Chance nicht ergriffen hätte. Ich war in Porto – und nicht in Shanghai. Und das ohne befürchtete Panikattacke!

Im Verlauf des Tages erkundete ich die Stadt auf eigene Faust, besser gesagt mithilfe von Google Maps. Ich schaute mir ein paar Sehenswürdigkeiten an, wie den alten Eisenbahnhof São Bento, in dessen Vorhalle viele bunt gestaltete und bemalte Bilder aus Keramikfliesen von vergangenen Zeiten erzählen. Ich lief zur Kathedrale von Porto auf dem Pena-Ventos-Hügel, um schon erste Jakobswegluft zu schnuppern und mir meinen ersten Stempel für den Pilgerpass abzuholen. Auf dem Weg dorthin sah ich meine erste Jakobswegmuschel, den Richtungsweiser für den Weg. Morgen wollte ich von diesem Startpunkt meine Reise beginnen. Dabei konnte ich nicht ahnen, dass ich diesen Wegpfeiler mindestens noch zweimal umrunden sollte, bevor es „wirklich“ los ging.

Da ich aber am ersten Tag davon nichts wusste, marschierte ich weiter über die Brücke Dom Luís I, die im Herzen der Stadt die Gemeinden Vila Nova de Gaia und das Altstadtviertel Riberia voneinander trennt. Die Aussicht auf den Fluss Douro, der in den Atlantischen Ozean mündet, ist großartig. Porto ist eine Mischung aus verspielter Kunst und Tradition. Mich erinnerte es ein wenig wegen des Hoch und Runters der Gassen und Straßen an San Francisco. Die kleinen Gässchen, durch die ich mich bisweilen bewegen musste, sind zum Teil gerade mal so breit, dass man sie noch bequem passieren kann. In den verwinkelten Häuserreihen fühlte ich mich manchmal etwas unwohl, aber der mediterrane Charme dieser Stadt machte das wieder wett. Porto ist so aufregend, wunderschön und vielseitig und einfach eine perfekte Einstimmung für alles, was danach noch folgen sollte.

Als ich mich gegen Spätnachmittag wieder zurück in meiner Unterkunft einfand, schrieb mir eine Bekannte eine Textnachricht. Sie hatte Bilder gesehen, die ich regelmäßig in meinem Status bei WhatsApp zeigte, um meine Familie und Freunde an meinen Eindrücken teilhaben zu lassen. Ich saß auf dem Balkon meiner Unterkunft und las: „Du bist doch nicht alleine unterwegs? Ich hoffe nicht.“ Auch ein paar meiner Freunde hatten mich vor meiner Abreise gefragt: „Hast du denn keine Angst? Ich hätte Angst, das alleine zu machen!“

Als ich die Nachricht durchging, dachte ich mir, dass es im Leben manchmal irgendwie merkwürdig zugeht. Menschen, die keine Angststörung haben, fragten mich nach meiner Angst, alleine unterwegs zu sein. Es war eine andere Form der Angst, die bei mir in den Hintergrund gerückt war. Ich hatte Angst vor vielen Situationen, aber vor dem Alleinsein in diesem Moment war eine Angst, die ich nicht spürte.

„Warum sollte ich das denn nicht alleine machen?“, kam es mir daher in den Sinn. Mit einem Mal wurde mir richtig bewusst, was ich da tat. Ich war alleine in Porto. Ich würde morgen alleine auf dem Jakobsweg gehen. Plötzlich wurde mir klar, wie weit ich gekommen war – gerade wegen meiner Angst?! Die wenigsten meiner Bekannten oder Freunde würden eine solche Unternehmung alleine machen. Bei ihnen handelte es sich zwar ebenfalls um Ängste, die mit anderen Unsicherheiten verbunden sind – wie eben das Auf -sich-gestellt-Zu-Sein und für einen bestimmten Zeitraum in einem unbekannten Land unterwegs zu sein. Im gemeinsamen Nenner war es das fehlende Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Bei einer Angststörung beziehen sich die Ängste zusätzlich auf ganz andere Aspekte, wie eben dem Umgang mit einer Panikattacke. War ich am Ende mutiger, als ich es mir selbst eingestand oder sogar als die meisten, die ich kannte? Hätte ich diesen Trip ohne meine Angststörung gemacht? Habe ich mich auf diese Reise vielleicht gerade wegen meiner Angst gewagt? Das war eine Perspektive, die sich mir noch nie eröffnete. Darüber musste ich nachdenken.

Es benötigt eine große Portion Mut, sich seinen Ängsten zu stellen. In manchen Momenten, in denen ich meiner Angst gegenübertrete, fühle ich mich, als meistere ich die größte Mutprobe meines Lebens. Diese Reise war definitiv eine davon. Vor einigen Jahren wäre eine solche Allein-Erfahrung für mich völlig unmöglich gewesen. Tatsache ist, dass mich meine Angststörung – im Guten wie im Schlechten – schon immer gefordert hat. Sie zeigt mir an schlechten Tagen auf, wo meine Grenzen (noch) liegen und auf welche Signale meines Körpers ich hören sollte. In guten Zeiten hilft sie mir, das Leben besser zu genießen. Weil ich weiß, dass all dies nicht selbstverständlich und mit viel Arbeit an mir selbst verbunden ist. Sie hilft mir, meinen Horizont ständig zu erweitern und zu wachsen. Erst wenn ich weiß, wo meine Grenzen liegen, kann ich versuchen, über sie hinauszugehen. Erst wenn ich etwas verändere, kann ich erfahren, dass sich etwas verändern kann.

Die meisten Menschen gehen oft nicht über ihre Grenzen hinaus. Und das ist auch etwas ganz Natürliches, denn Veränderungen sind mit Unsicherheiten (Schaffe ich das? Finde ich den richtigen Weg?) und eben mit Ängsten verbunden. Angst kann eine sehr starke Emotion bei Veränderungsprozessen sein. Insbesondere, wenn man als Mensch unterwegs ist, der unter einer Angststörung leidet, ist es oft das Unvorhersehbare, das diesen Prozessen innewohnt. Auch ich halte gerne an Routinen und meinen Strukturen fest. Sie geben mir einen sicheren Rahmen. Übersetzen wir die Sprache der Angst, ist es eigentlich immer die Angst vor einem Kontrollverlust, der mit dem Verlust von vermeintlichen Sicherheiten einhergeht. Daher versuchen wir die Kontrolle zu behalten, indem wir die Angst durch Vermeidungsverhalten kontrollieren wollen – und uns deswegen auch Veränderungen und damit neu gemachten Erfahrungen versperren.

Ich kenne diese Gefühl der Angst, der Angst vor der Angst und dem Vermeidungsverhalten sehr gut und setze mich vielleicht aus meiner Geschichte heraus intensiver damit auseinander. Ich habe gelernt, dass Angst einem nicht schaden möchte, sie kann einem nicht gefährlich werden, denn im Grunde ist sie mein Bauchgefühl und ein überlebenswichtiges Alarmsignal meines Körpers. Bei einer Panikattacke sind es die Gefühle, die in diesem Moment durcheinandergeraten sind und welche dann übersteigert wahrgenommen werden. Ich musste in einem jahrelangen und sehr schmerzlichen Prozess jedes Mal wieder diese Gefühle durchleben und über meine eigenen Grenzen hinausgehen. Zeigte mir diese Reise nun, dass ich so weit war und es geschafft hatte, meine Grenzen zu verschieben? Oder wollte ich mir nur beweisen, dass ich es kann, weil ich so...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2022
Zusatzinfo mit s/w-Abbildungen
Verlagsort Würzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Angststörung • Jakobsweg • Pilgern • Spiritualität
ISBN-10 3-429-06575-5 / 3429065755
ISBN-13 978-3-429-06575-1 / 9783429065751
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