Feuerwanzen lügen nicht -  Stefanie Höfler

Feuerwanzen lügen nicht (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
234 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75684-8 (ISBN)
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Mischa findet die Sprüche seines besten Freundes Nits super. Der bewundert den rundum talentierten Mischa, weil er tausend Tatsachen über Tiere weiß. Nits hätte Mischa bedingungslos alles geglaubt, bis er über immer mehr Lügen stolpert und erfährt, dass hinter alldem ganz andere Wahrheiten stecken - fatale Familiengeheimnisse, von denen nicht mal Mischas kleine Schwester Amy etwas ahnt. Aber wie kann es sein, dass er all das nicht gesehen hat!? Eine aufwühlende Geschichte, in der es um Armut, Scham und Ungerechtigkeit geht. Ein Roman, in dem die preisgekrönte Autorin Stefanie Höfler klangvoll und mit aller Wucht von tiefem Vertrauen, von Verletzlichkeit und Mut erzählt. Und von einer phänomenalen Freundschaft, die auch das übersteht.

Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie ist Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr bisher das Kinderbuch »Helsin Apelsin« (Illustrationen von Anke Kuhl) und die Romane »Mein Sommer mit Mucks«, »Tanz der Tiefseequalle«, »Der große schwarze Vogel« und »Feuerwanzen lügen nicht«, die alle unter anderem für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden. Zusammen mit der Illustratorin Claudia Weikert entstanden die Bilderbücher »Waldtage« und »Die Eroberung der Villa Herbstgold«.

1


Kann es sein, dass Enten rennen,
wenn sie fliegen wolln,
und dann vor lauter Füßerolln
zum Schluss das Fliegen verpennen?

Früher, auf dem Heimweg von der Grundschule, haben Mischa und ich immer Enten-Erschrecken gespielt. Wir haben den Splitt von der Straße gepickt, der sich im Frühling am Rand sammelt, wenn der Schnee schmilzt. Jeder von uns beiden hatte eine Faust voll mit diesen fies spitzen Mini-Kieseln. Und dann haben wir uns angeschlichen, und erst, wenn wir ganz nah bei den Enten waren, nur noch zehn Schritte entfernt etwa, haben wir laut »Uaaah!« gebrüllt und unsere Munition auf den Teich geschleudert, sodass es auf der Wasseroberfläche gerasselt und geprasselt hat wie ein heftiger Hagelschauer.

Die Enten haben panisch geschnattert, mit den Flügeln geflattert vor Schreck und sind losgerannt, oben auf der Wasseroberfläche, so, wie Enten eben rennen, bis sie dann, man glaubt schon nicht mehr dran, dass sie die Kurve noch kriegen, doch noch abheben und losfliegen. Weg waren sie, abgehoben, abgeflogen, weggeflattert und fort, und Mischa und ich schauten hinterher.

Jeden Tag auf dem Heimweg von der Schule haben wir das gemacht. Und als der Pfarrer uns in Reli die Geschichte erzählte, wie Jesus übers Wasser geht, da hat Mischa mir zugeflüstert: »Und was soll daran besonders sein? Sogar Enten können übers Wasser rennen!« Während Mischa nach seinem Kommentar so ruhig und ernst blieb wie immer, musste ich natürlich kichern, weil ich mir sofort vorstellte, wie Jesus übers Wasser rennt: den Hintern herausgestreckt und mit flappenden Flügeln und schnatterndem Schnabel, entenmäßig eben – wahnsinnig witzig!

Meine fantastische Vorstellungskraft hatte ich damals schon: Wenn ich mir etwas vorstelle, dann sehe ich es vor mir, als wäre es echt – einen entenmäßig rennenden Jesus zum Beispiel. Darum konnte ich nicht mehr aufhören zu lachen und der Pfarrer konnte nichts machen, außer bitterböse Blicke auf mich abzuschießen. Natürlich nur auf mich und nicht auf Mischa. Dem Musterschüler Mischa mit der außergewöhnlichen Aufmerksamkeit traute der Pfarrer natürlich nicht zu, dass er einem fiese Dinge ins Ohr flüstert. Schon damals nämlich hatte Mischa auf alle Fragen eine angemessene Antwort. Und schon damals wurde ich mit meiner hyperaktiven Hibbeligkeit dauernd ausgeschimpft.

Nur dass ich damals noch nicht mit den Sprüchen angefangen hatte. Noch nicht damit begonnen hatte, alle Dinge, die passieren, gut gereimt zu kommentieren. Erst etwas später habe ich bemerkt, dass mein Gehirn das kann – Worte finden, die zusammen zu klingen beginnen.

Reime sind wie gesprochene Musik, finde ich: Wortmusik. Beim Reimen kommt dein Kopf in einen irren Rhythmus, das ist, als würdest du mit dem Gehirn tanzen. Und ist es nicht logisch, dass jemand mit einem hibbeligen Hintern auch ein tanzendes Hirn hat?

Wirklich, seit ich diese Wortmusik für mich entdeckt habe, schleichen sich die Reime in meinen Kopf, und nicht nur reibungslose Reime wie Mannomann und dann und wann, sondern auch komplizierte wie Reifenpaket und Seifenplanet. Ich bin unangemessen versessen darauf, Wörter zu benutzen, die mit denselben Buchstaben beginnen, so wie in hibbeliger Hintern. Stabreim heißt das. (Das hat mir natürlich Mischa gesagt. Mischa, der immer in allem für die Theorie zuständig ist.)

Früher fanden alle nur, ich hätte eine große Klappe. Seit ich reime, warten sie darauf, dass ich etwas sage. Wenn man schon dauernd quasselt, dann ist dichten offenbar besser als ungereimt reden.

Manche sagen, ich slamme. Manche nennen meine Reime Rap. Mischa nennt sie Sprüche. Nits-Sprüche. (Nits, das bin ich.) Und wenn ich jetzt anfange, diese Geschichte zu erzählen, muss ich ergänzend erwähnen, dass ich viele Sprüche für diese Geschichte gemeinsam mit Mischa gemacht habe, dass es also eigentlich Nits-Mischa-Sprüche sind. Die Sprüche sind sogar der Grund dafür, dass ich diese irre Geschichte überhaupt aufschreiben darf. Schließlich ist es mehr Mischas Geschichte als meine, und Mischa findet, wenn jemand so viel penetrant Peinliches über seine Familie verkündet, ist es wichtig, dass er das mit gutem Klang verbindet. »Erzähl die Geschichte«, hat er gesagt. »Von mir aus erzähl sie. Aber lass sie klingen, Nits!«

Mischa nennt mich schon immer Nits und deshalb nennen mich alle anderen auch so. Und das ist mein Glück. Denn eigentlich heiße ich Nityananda, nach einem Guru, der meinen Vater bei einer Reise durch Indien irgendwie irrsinnig inspiriert hat. Er wollte damals mit meiner Mutter, die in Deutschland aufgewachsen ist, ihre indischen Wurzeln erkunden, aber im Gegensatz zu ihm hat sie in Indien nicht die geringste Inspiration gefunden. Obwohl sie indische Eltern hat, war sie nicht halb so begeistert von Indien wie mein Vater. Mit dem indischen Vornamen hat er sich deshalb auch erst bei mir durchgesetzt und noch nicht bei meinem älteren Bruder Ole. Sicher hätte er auch bei mir darauf verzichtet, wenn er geahnt hätte, dass mein Wesen den denkbar drastischsten Kontrast zu einem entspannten indischen Guru darstellt. Das Einzige an mir, was zu meinem indischen Namen passt, sind meine Haare: rabenschwarz und immer auf neun Millimeter rasiert. Wie die Frisur eines buddhistischen Mönches, sagt Mischa – oder wie Maulwurfsfell.

Dass Mischa mein bester Freund geworden ist, war ebenso unwahrscheinlich wie, dass ich seiner wurde. Oder auch nicht: Mischa mit seinem ewigen Ernst und ich mit meinem irrwitzigen Nie-still-sitzen-Können, wir fügen uns zusammen wie zwei perfekt passende Puzzleteile.

Logischerweise war es Mischa, der damals in der zweiten Klasse den Pfarrer besänftigte, wahrscheinlich mit einem kurzen, klugen Satz zu Jesus. Zum Menschenberuhigen braucht Mischa nicht viel, nur sein ernstes Gesicht und ein paar wohlüberlegte Worte. Und auf dem Heimweg haben wir wieder Enten erschreckt. Natürlich, ohne dass einer Ente eine einzige Feder gekrümmt wurde. Denn das war Mischa wichtig. Die Enten flohen also übers Wasser, und ich kicherte wieder, weil ich an Jesus denken musste.

»Weißt du was!«, hat Mischa da plötzlich gesagt. »Die rennen gar nicht aus Schreck, sondern weil es ihnen Spaß macht! Das Schnattern ist in Wirklichkeit Freudengeschrei!«

Mischas Augen haben so geleuchtet wie immer, wenn er denkt, er kapiere etwas über Tiere, und Tiere sind nun mal das, was ihn am meisten interessiert. Und ich schaute den Enten hinterher und dachte direkt, dass er recht hat. Auch wenn ich genau eine Sekunde vorher noch absolut überzeugt war, dass die Enten vor Schreck rennen, fand ich plötzlich Mischas Erklärung viel logischer. Und falls sich jemand fragt, warum ich diese ganze Geschichte mit den rennenden Enten überhaupt erzähle, dann kann ich nur sagen: Weil ich hier am Anfang ein paar wichtige Dinge über Mischa loswerden will.

Mit Mischa ist es nämlich so: Mischa ist schrecklich schlau. Er weiß vielleicht vierhundertmal mehr als ich, weil er laufend liest, und alles, was er noch nicht weiß, erklärt er sich mit seiner lupenreinen Logik. Und dabei sieht er auch noch schlau aus. Nicht strebermäßig schlau, sondern lässig schlau, mit geschwungener Stirn-Haarwelle, ehrlich-ernstem Blick und immer im weißen Hemd. Den Tick mit den Hemden hat Mischa seit zwei Jahren: Seitdem trägt er nur noch weiße Männerhemden, bei denen er die Ärmel hochkrempelt, und weil Mischa ziemlich groß ist, sieht das nicht albern aus, sondern seriös, fast elegant, was sogar der fiese Felix auf Anhieb fand, als Mischa damit anfing. Und Felix spart selten an ätzenden Äußerungen.

Mischa hingegen spart sich jeden Kommentar. Nie lässt er seine Genialität raushängen. Er erwähnt das, was er weiß, so nebenbei, als sei es ihm einerlei. Er würde einem alles erklären, ohne sich je über die Dummheit der Frage zu beschweren. Und seine Antworten sind immer richtig. Kein Wunder, dass der fiese Felix neidisch auf ihn ist. Aber da ist er der Einzige. Alle anderen lieben Mischa. Und alle glauben ihm. Immer. Auch ich.

Ja, ich habe Mischa absolut ausnahmslos alles geglaubt. Bis das mit dem Attest passiert ist. Bis ich Mischa zum ersten Mal besucht habe und herausfand – aber halt, ich fange vorne an, mit der Badehose. Denn all das Verrückte, Überraschende und Gefährliche, was passiert ist, hat eigentlich mit Mischas Badehosengeschichte begonnen.

Vor ungefähr drei Monaten nämlich verkündete unser Klassenlehrer Herr Bassler, dass wir ab jetzt mittwochs Schwimmen statt Sport haben. Die meisten von uns Jungs jauchzten und jubelten, weil sie sich das natürlich fantastisch vorstellten, statt in die staubige Sporthalle...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-75684-4 / 3407756844
ISBN-13 978-3-407-75684-8 / 9783407756848
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