Ernst Barlach (eBook)

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2022 | 1. Auflage
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01626-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ernst Barlach -  Catherine Krahmer
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Ernst Barlach (1870 - 1938) war Bildhauer, Grafiker und Dichter. Während seine schriftstellerischen Arbeiten heute weitgehend vergessen sind, haben seine Bildwerke nichts an ihrer Wirkung eingebüßt. Er schuf in wuchtigen, das Naturvorbild weitgehend vereinfachenden Formen vor allem Holz- und Bronzeskulpturen von starker Ausdruckskraft, daneben Holzschnitte und Lithographien. Seine Arbeiten thematisieren den elementaren Kampf zwischen den Mächten des Lebens, zwischen Gut und Böse, Mensch und Gott. «Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir Deutschen je hatten», urteilte Bertolt Brecht. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Catherine Krahmer, geb. 1937 in Ostpreußen, lebt seit 1948 in Frankreich. Sie studierte in Oxford, München und Paris Soziologie, Literatur und Kunstgeschichte. Nach einer kurzen Lehrtätigkeit in den USA freie Forscher- und Schriftstellertätigkeit. Sie befasste sich mit zeitgenössischer Kunst («Der Fall Yves Klein», 1974), mit Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, übersetzte Peter Altenberg ins Französische und publizierte 1998 den Briefwechsel zwischen Richard Dehmel und dem französischen Nietzsche-Übersetzer Henri Albert. Sie widmete sich schließlich dem Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe, dessen Korrespondenz sie 2001 bei Wallstein herausgab («Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da»), wo ebenfalls «Das Tagebuch 1903-1917» 2009 erschien. Mit einer umfassenden Studie über Meier-Graefe, «Ein Leben für die Kunst» (Wallstein 2021), hat sie ihre Meier-Graefe-?Trilogie? abgeschlossen.  Für «rowohlts monographien» schrieb sie die Bände über Käthe Kollwitz (1981, rm 50294) und Ernst Barlach (1984, rm 50335).

Catherine Krahmer, geb. 1937 in Ostpreußen, lebt seit 1948 in Frankreich. Sie studierte in Oxford, München und Paris Soziologie, Literatur und Kunstgeschichte. Nach einer kurzen Lehrtätigkeit in den USA freie Forscher- und Schriftstellertätigkeit. Sie befasste sich mit zeitgenössischer Kunst («Der Fall Yves Klein», 1974), mit Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, übersetzte Peter Altenberg ins Französische und publizierte 1998 den Briefwechsel zwischen Richard Dehmel und dem französischen Nietzsche-Übersetzer Henri Albert. Sie widmete sich schließlich dem Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe, dessen Korrespondenz sie 2001 bei Wallstein herausgab («Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da»), wo ebenfalls «Das Tagebuch 1903-1917» 2009 erschien. Mit einer umfassenden Studie über Meier-Graefe, «Ein Leben für die Kunst» (Wallstein 2021), hat sie ihre Meier-Graefe-‹Trilogie› abgeschlossen.  Für «rowohlts monographien» schrieb sie die Bände über Käthe Kollwitz (1981, rm 50294) und Ernst Barlach (1984, rm 50335).

Ein selbsterzähltes Leben und frühe Romantik


«Das Merkmal eines Kunstwerks aber ist einzig dies, daß es im Leser jede Stimmung aufhebt und die seine hervorbringt.»

Adalbert Stifter

Ein Jahr bevor Barlach sich daran macht, sein Leben selbst zu erzählen, schickt er folgenden Lebensabriss an den damals achtzehnjährigen Edzard Schaper[1], der eine Biographie über den Künstler schreiben will:

Ich bin 56 Jahre alt, 1870 an der Niederelbe geboren, in Wedel in Holstein, lebte eine kleinbürgerliche Jugend, war oft mit dem Vater im Doktorwagen über Land in Bauernhäusern und -gütern. Hingegeben an das Leben von Regen und Wind fühlte mein Sein im Sein von Wolken und Wäldern und Wassern, immer mit Schreiben nicht weniger als mit künstlerischen Versuchen beschäftigt, wurde zünftiger Bildhauer ohne jede Orientierung durch geeignete Leitung und immer gedrängt, mich in Versen und Prosa höchst überschwänglich auszusprechen. Ein Zufall brachte meinen «Toten Tag» ans Licht, indem ich aufgefordert wurde, für die Panpresse ein lithographisches Werk zu geben. So kam das Buch mit meinen Zeichnungen heraus.

Eine zweimonatliche Reise nach Rußland, 1906, war es wohl, die mir den Begriff von Grenzenlosigkeit gab, aus dem heraus ich mich zu Unternehmungen ermutigt sah. Eine Grenzenlosigkeit, in der sich das Menschliche nur als kristallisierte, festgeformte Gestaltung behaupten konnte, wollte man das Menschliche überhaupt festhalten. Als Bildhauer glückte mir damals zum ersten Mal ganz solche Formung, wie weit sie mir als Dramatiker geglückt ist, wage ich nicht zu sagen, nicht zu sagen, ob ich hier mehr als einen Anfang gemacht habe, ob meine Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit eine Spur von Erfüllung gefunden.[2]

Alle wesentlichen Hinweise sind in diesem kurzen Abriss bereits enthalten. An äußeren Ereignissen ist Barlachs Leben arm. Das Erlebnis von Regen und Wind ist ihm erwähnenswerter als beispielsweise seine Aufenthalte in Paris und Italien. Die Reise nach Russland allerdings öffnete ihm gleichsam das Tor zum eigenen Schaffen. Er bezeichnet sich gern als zünftigen Bildhauer, während er seine Schriftstellerei nur zögernd der Öffentlichkeit anvertraute. Und nun: «ein selbsterzähltes Leben»?!

Ein Selbsterzähltes Leben ist auf Anregung von Barlachs Freund, Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer entstanden. Barlach hatte den Vorschlag zunächst beiseitegeschoben. Jahre später wollte der Paul Cassirer Verlag eine Monographie über Barlach mit dem Œuvre-Katalog des Bildhauers herausgeben, beauftragte einen bekannten Kunsthistoriker, den Text zu schreiben, der aber nicht geliefert wurde. So kam es, laut Georg Biermann, dem Direktor der Kunstzeitschrift «Der Cicerone», zu dem Entschluss, den Künstler und Dichter selbst um einen Vorspruch zu seinem bildhauerischen Werk zu bitten.[3] Aus diesem «Vorspruch» wurde ein bedeutendes literarisches Werk, das in der autobiographischen Literatur einen Platz für sich einnimmt.[4]

Ein Selbsterzähltes Leben. Schon die Doppeldeutigkeit des Titels weist auf das Wesen von Barlachs Autobiographie hin: ein Leben von ihm selbst erzählt, das sich aber gewissermaßen selbst erzählt. Es ist nicht Barlach, der die Welt entdeckt, es sind die Welt und das Leben, die ihn langsam zu sich selbst finden lassen. Barlach sieht das Leben nicht wie eine Folge von Ereignissen, sondern wie eine Reihe von «Sitzungen», die ihn, Barlach, modellieren. Das Leben ist der Bildhauer, Barlach der Ton.

Ich glitt durch die Tage und weidete durch die Jahre hin, die Augenblicke sogen sich voll Zeitlosigkeit und häuften sich zu Schichten und Gruppen, die unzusammenhängend mit dem Organismus des Schul- und Hauskinderdaseins das Leben im Rhythmus voranführten …

Doch das Leben nahm mich bisweilen am Genick und stieß mich mit der Nase in seine Wirklichkeiten, ich bekam die Elementarbücher des Geschehens um die Ohren geschlagen, daß mir der Kopf brummte.

Den Marterweg eines Menschen, der sich unter Krämpfen durch die Stadt schleppte, begleitete ich, unfreiwillig und fast unwesentlich, von Station zu Station, vergessend, wo, wer, was ich sonst war, wenn nicht der Mann der Schmerzen selbst, vielleicht schwerer leidend, im Gefühl unbarmherziger geschüttelt als er – – –.[5]

Hier schließt eine Beschreibung an, in der Barlach, als Kind eines Landarztes, zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert wird:

Mit unserm Kutscher «Hoschen», wie wir ihn nannten, saß ich einst neben den Pferden auf der Diele eines Bauernhauses, in dessen innerm Raum sich das Letzte eines an Diphtherie sterbendes Kindes begab. Mein Vater und der des Kindes unternahmen drinnen irgendwelche verzweifelten Handlungen zur Rettung oder Erleichterung, wovon die Tochter des Hauses der Mutter von Zeit zu Zeit wie mit gewürgter Kehle die grausigen Einzelheiten zutrug. Diese beiden Frauen standen vor unsern Augen leibhaftig im Tiefsten der Hölle. Als alles vorüber war, begleitete der Bauer meinen Vater an den Wagen, drückte seine Hand und sah immer noch wie ein Mensch aus. Wir fuhren heim und beobachteten ein schweres Schweigen gegeneinander. Als an einem der nächsten Tage die Mutter des Kindes aus dem Sprechzimmer trat, vor dem ich gelauscht hatte, weil mein Vater seltsam eindringlich und, was mich betroffen machte, wie selbst erschüttert zu ihr gesprochen, sah sie über mich hin mit Augen, denen das Sehen anderer Dinge als des eines einzigen von damals verlorengegangenen schien.

Die Begegnung mit dem Tod ist hier wie ein fremdes, unbegreifliches Erlebnis geschildert. Das Stichwort «Tod» taucht nirgendwo im Text auf. Es hätte der Schilderung seine Kraft genommen, indem es etwas scheinbar Bekanntes voraussetzt. Die Wirklichkeit des Todes wird ganz subjektiv und umso eindringlicher aus der Sicht des Kindes dargestellt, das etwas ahnt, was es nicht fassen kann – in Barlachs Worten: als das Bewußtsein eines Dinges, eines Wirklichen ohne Darstellbarbeit.

Je älter Barlach wird, desto unheimlicher, desto mysteriöser wird ihm der Alltag. Er setzt nichts mehr voraus; keine vorgefassten Urteile, keine angestammten Begriffe, keine eingefrorenen Metaphern. Die reine Existenz wird in dem Moment, da sie ins Bewusstsein dringt, erfasst; und dies sowohl in Ein Selbsterzähltes Leben als auch in den übrigen Schriften. Dies ist der Grund, weshalb Ein Selbsterzähltes Leben (1928), das gleichwohl seine Originalität virtuos behauptet, der Autobiographie von Jean-Paul Sartre – «Les Mots» (1964) – am nächsten steht. Nehmen wir beispielsweise den Passus, wo Anne-Marie, die Mutter, dem kleinen Jean-Paul vorliest:

«Anne-Marie ließ mich auf meinen kleinen Stuhl ihr gegenüber Platz nehmen; sie beugte sich vor, senkte die Lider, schlief ein. Aus dem Statuengesicht kam eine gipserne Stimme. Ich wurde ganz verwirrt: wer erzählte? was? und wem? Meine Mutter war verschwunden: kein Lächeln, kein Zeichen des Einverständnisses, ich war im Exil. Und außerdem erkannte ich ihre Sprechweise nicht wieder. Woher nahm sie diese Sicherheit? Nach einem Augenblick hatte ich begriffen: das Buch sprach. Sätze kamen daraus hervor, die mir Angst machten: Wahre Tausendfüßler, ein Gewimmel von Silben und Buchstaben, sie streckten ihre Diphthonge vor, ließen die Doppelkonsonanten vibrieren; singend, nasal, unterbrochen von Pausen und Seufzern, reich an unbekannten Wörtern; so erfreuten sich diese Sätze an sich selbst und an ihren mäanderhaften Windungen, ohne sich um mich zu kümmern …»[6]

Ähnlich wie die Sterbeszene bei Barlach ist hier das Vorlesen wie etwas Unbekanntes, Befremdliches, Unheimliches geschildert; selbst die Mutter erkennt der kleine Sartre in dieser Situation nicht wieder bis zu dem Moment, da er zu dem Schluss kommt: das Buch spricht! Die Ähnlichkeit in Auffassung und Gestaltung der Wirklichkeit zwischen dem Schriftsteller Barlach und dem späteren Existentialisten Sartre ist noch frappanter in einer Stelle des Güstrower Tagebuchs, da sich das behandelte Thema dem von Sartre annähert. Es handelt sich um eine Szene aus dem Kinderhort, in dem Barlach Anfang des Krieges, 1914, als Schulmeister aushalf.

Auf ihre Schiefertafeln gebückt und in ihre Schreibhefte geduckt, malen sie ihre Selbstbildnisse, ohne zu wissen, was sie tun. Die Tüchtigen schreiben über sich selbst nichts Unkluges nieder, ihre Buchstaben sind wie Ameisen mit gut gebauten Körpern, marschieren ordentlich hintereinander her, stoßen nicht, drängen nicht, verlieren keine Beine und Köpfe und wissen Weg und Steg. Die der Unbegabten wimmeln wie Läuse, Flöhe und Mücken durcheinander, man weiß nicht, ob sie stechen oder gestochen werden, ob sie noch saugen oder schon platt geschlagen und breit gepreßt sind, manchmal sitzen die Kleckse wie Spinnen in ihren Netzen, allerlei lahmgezappeltes Tier läßt in den Linien Köpfe und Glieder hängen.[7]

In diesem Text aus Barlachs Kriegstagebuch, das dreizehn Jahre vor Ein Selbsterzähltes Leben geschrieben wurde, sind wir allerdings der vergleichenden Bildersprache noch nahe. Barlach entfaltet zwar seine ganze Phantasie, aber sein unvoreingenommenes Sehen der äußeren Dinge hat sich noch nicht auf die existentielle Erlebnissphäre ausgedehnt. Die metaphorische Sprache (hier die Kinderschriften als Insektenbilder) nimmt jedoch solche Ausmaße an, dass die einzelnen Gegenstände, an denen Barlach seinen Blick schärft, als Fetzen selbständiger Wirklichkeit eingebracht...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Bildhauerei • Deutschland • Druck • Expressionismus • Monografie • Realismus • Schriftstellerei • Zeichnung
ISBN-10 3-644-01626-7 / 3644016267
ISBN-13 978-3-644-01626-2 / 9783644016262
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