Der Teufel hat keine Zeit -  Daniel Strassberg

Der Teufel hat keine Zeit (eBook)

Philosophisch-politische Betrachtungen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
220 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-85869-970-1 (ISBN)
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Daniel Strassberg verbindet in seinen lebensnahen philosophischen Essays auf eine bestechende Weise seine psychoanalytische Erfahrung mit philosophischen Gedanken, und nie fehlt ihnen ein aktueller Bezug. Seine Überlegungen kreisen alle um das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und speisen sich aus einem tiefen Wissen darum, dass der Mensch aus der lebendigen Gesamtheit seiner Eigenschaften und nicht aus etwas Einzelnem, Bestimmtem, seinem Bewusstsein etwa, besteht. Er beschäftigt sich mit Fragen wie, wo der Umschlagpunkt einer Befreiungsbewegung in etwas Totalitäres liegt oder ob wir unserer Existenz ein übergeordnetes Ziel geben müssen, um Erfüllung zu erlangen, oder warum unsere Demokratien mehr gelassene Skepsis brauchen als kontroverse Debatten. Es finden sich so schöne Vorschläge darin wie der, den Monat Juni doch mal einfach meinungsfrei zu halten, seine vermeintlichen Überzeugungen abzulegen, keine Likes, keine Bewertungen, keine Urteile, keine Behauptungen, nur Beschreibungen und Erzählungen von sich zu geben. Das ist zwar nicht einfach, aber man kommt ohne seine Meinungsrüstung den Dingen und den Menschen näher, verborgene Eigenschaften werden spürbar, die vielfältiger und farbiger sind und voller Widersprüche.

Daniel Strassberg, 1954 in St Gallen geboren, lebt in Zürich. Er ist Psychiater und hat in Philosophie promoviert, arbeitet seit 1985 als Psychoanalytiker und unterrichtet Philosophie an verschiedenen Universitäten. Er ist Mitbegründer des Netzwerks Entresol. Unter anderem sind von ihm die Bücher Der Wahnsinn der Philosophie. Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze (2014) und zuletzt Spektakuläre Maschinen. Eine Affektgeschichte der Technik (2022) erschienen. Seit 2018 schreibt er in der Onlinezeitung Republik monatlich eine philosophisch-politische Kolumne.

Daniel Strassberg, 1954 in St Gallen geboren, lebt in Zürich. Er ist Psychiater und hat in Philosophie promoviert, arbeitet seit 1985 als Psychoanalytiker und unterrichtet Philosophie an verschiedenen Universitäten. Er ist Mitbegründer des Netzwerks Entresol. Unter anderem sind von ihm die Bücher Der Wahnsinn der Philosophie. Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze (2014) und zuletzt Spektakuläre Maschinen. Eine Affektgeschichte der Technik (2022) erschienen. Seit 2018 schreibt er in der Onlinezeitung Republik monatlich eine philosophisch-politische Kolumne.

Einleitung


Ein Buch, schrieb Franz Kafka seinem Freund Oskar Pollak, müsse die Axt für das gefrorene Meer in uns sein. Ikarien von Uwe Timm war für mich eines dieser Bücher. Es erzählt die Geschichte des Eugenikers Alfred Ploetz. 1860 geboren, verbrachte er seine Jugend in Breslau, wo er mit kommunistischen Genossen eine sozialistisch-utopische Gemeinschaft nach dem Vorbild von Ikarien plante, ein vom französischen Revolutionär Étienne Cabet in den USA gegründetes Dorf. Ploetz begann Nationalökonomie zu studieren, um für sein Projekt das nötige Rüstzeug zu erwerben. Später zog er nach Zürich, in der Hoffnung, sich hier mit sozialistischer Volkswirtschaftslehre befassen zu können. Kurz darauf wechselte er das Fach, wohl weil er glaubte, als Arzt der Menschheit besser dienen zu können.

Enttäuscht darüber, wie steinig und hindernisreich der Weg bis zur Verwirklichung seiner sozialistischen Ideale war, wandte er sich mehr und mehr der Eugenik, der rassisch-genetischen Auswahl, zu. Mit Theorien der Menschenzüchtung war er durch Auguste Forel, den Direktor der Psychiatrischen Klinik Burghölzli Zürichs, in Berührung gekommen. Statt die Welt durch Umerziehung zu verändern, sollten die minderwertigen Elemente durch gezielte Fortpflanzung eliminiert werden. So rückte er den Ideen des Nationalsozialismus näher. Nach der Machtergreifung durch die NSDAP wurde er einer der Architekten des nationalsozialistischen Rassenprogramms, zusammen mit dem Schweizer Ernst Rüdin. Bald ging es nicht mehr nur um die Sterilisation behinderter Menschen, sondern um die systematische Ermordung sogenannten »unwerten Lebens«.

Die Geschichte von Alfred Ploetz führte mir vor Augen, wie viel Elend die Versuche, die Menschheit zu verbessern, über die Menschen gebracht haben. Um dieses Elend soll es in diesem Buch gehen.

Die Überzeugung, dass der Mensch, so wie er ist, nicht gut genug sei, ist fester Bestandteil der europäischen Geistesgeschichte. Heute sind die Regale in Buchhandlungen und in Bahnhofskiosken voll von Ratschlägen, wie man sich und sein Leben in kürzester Zeit optimieren könnte. Das ist keineswegs neu, ein beträchtlicher Teil des philosophischen Kanons seit der Antike befasst sich mit der Frage, wie Menschen sich verbessern können. Dass sie es auch müssen, wird kaum infrage gestellt. In der Dreigroschenoper macht sich Bertolt Brecht über das Bestreben nach Verbesserung lustig:

Der Mensch ist gar nicht gut

Drum hau ihn auf den Hut.

Hast du ihm auf dem Hut gehaun

Dann wird er vielleicht gut.

Denn für dieses Leben

Ist der Mensch nicht gut genug

Darum haut ihm eben

Ruhig auf den Hut!

Wofür gehört ihm auf den Hut gehauen? Der Mensch, so eine weit verbreitete Meinung, sei zu habgierig, zu egoistisch, zu gewalttätig, zu ängstlich, zu triebhaft, zu dumm, zu träge oder zu wenig empathisch, um in einer friedlichen, freien und gerechten Gemeinschaft mit anderen zusammenzuleben. Anders als die Soziologie begnügen sich die meisten philosophischen Gesellschaftstheorien nicht mit der Analyse der Verhältnisse, sondern liefern zugleich Rezepte, wie die Kluft zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlicher Ordnung zu überwinden sei. Die Theorien, die wie die marxistische die Gesellschaft den Menschen anpassen wollen, sind in der Minderheit geblieben. Die meisten setzen bei der Verbesserung von Individuen an.

In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft beschreibt Immanuel Kant den Prozess der inneren Umkehr, in welchem »der Mensch aus dem ethischen Naturzustande herausgehen [soll], um ein Glied eines ethischen gemeinen Wesens zu werden«.

Der ethische Naturzustand [ist] ein Zustand der inneren Sittenlosigkeit, aus welchem der natürliche Mensch, so bald wie möglich, herauszukommen sich befleißigen soll.

Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. – Man wird schon zum voraus vermuten, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden.1

Der Einzelne muss sich verbessern, um eine ethische Gemeinschaft bilden zu können, in der er oder sie dann auch das private Glück finden wird. Dazu müssen die Menschen zunächst ihre wahren Bedürfnisse kennenlernen. Wem der Sinn nur nach Lust, Ruhm und Reichtum steht, der arbeitet nicht an einer besseren Zukunft. Doch selbst diese Menschen werden, wenn sie sich auf sich selbst besinnen, erkennen, dass es in Wirklichkeit befriedigender ist, den Mitmenschen zu helfen als Geld zu scheffeln, mit anderen zusammenzuarbeiten als egoistisch die eigenen Ziele zu verfolgen, ein einfaches Leben zu führen als Luxus anzuhäufen. Ob der Mensch von Natur aus schlecht ist, wie im Beispiel Kants, oder ob ihn erst die Zivilisation verdorben hat, spielt für unsere Fragestellung eine untergeordnete Rolle. In beiden Fällen wird ein Erkenntnisprozess verlangt, der die wahren, das heißt der Gesellschaft nützlichen Wünsche zutage fördert. Dabei genügt es nicht, nur Gutes zu erkennen, die innere Umkehr soll dazu führen, das Gute auch zu wollen. Dass sich die Wünsche und Bedürfnisse, die Triebe und Träume der Menschen zugunsten der Gemeinschaft und der Zukunft ändern müssten, fordern nicht erst die Klimaaktivistinnen, es ist bereits in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles nachzulesen.

Die Arbeit als Psychoanalytiker seit fast vierzig Jahren hat mir die Illusion genommen, Menschen könnten bewusst ändern, was sie sich wünschen, wie sie handeln, was sie begehren oder was sie verabscheuen. Dass man seine Muster durch bloße Einsicht nicht durchbrechen kann, wussten schon die Alten. Einsicht und Verhaltensänderung brauchen Anleitung.

Der Titel von einem von Gotthold Ephraim Lessings Hauptwerken, Die Erziehung des Menschengeschlechts, ist seit ihren antiken Anfängen das Programm der westlichen Philosophie. Es geht darum, die Menschen zur Erkenntnis ihrer wahren Wünsche zu erziehen, was dann von alleine zu einer friedlichen und gerechten Gesellschaft führt, worin wiederum jeder Einzelne sein Glück findet.

Doch damit beginnen die Probleme. Viele Menschen wollen gar nicht nach Perfektion streben, wie es die Philosophie von ihnen erwartet. Ihnen genügt ein kühles Feierabendbier, eine bezahlbare Krankenkasse, einmal im Jahr in den Urlaub nach Mallorca zu fliegen und am Samstag die Sportschau zu schauen. Und wenn ihnen vorgeschrieben wird, was sie zu fühlen, zu denken oder zu wünschen haben, oder wenn ihnen mitgeteilt wird, was sie eigentlich schon immer gefühlt, gedacht oder gewollt haben, reagieren sie häufig allergisch. Der Songtext »We don’t need no education, we don’t need no thought control« von Pink Floyd bringt das auf den Punkt (The Wall, 1970).

Das Streben nach Perfektion ist nicht ein Grundzug des Menschen, sondern ein Grundzug des Bildes, das sich gewisse Philosophen vom Menschen gemacht haben und immer noch machen. Infolgedessen werden die banalen Wünsche der gewöhnlichen Menschen mit Verachtung gestraft. Tatsächlich diagnostizieren sowohl der amerikanische Philosoph Stanley Cavell als auch der in England lebende Amerikaner Raymond Geuss eine untergründige Verachtung vieler Philosophen für gewöhnliche Menschen. Sie betrachten sie als unmündige Kinder, die ohne ihre Anleitung und Erziehung kein glückliches Leben führen können. Doch die gewöhnlichen Menschen können den Spieß umdrehen und zurückfragen, woher sie, die Herren Philosophen – es waren tatsächlich fast immer Männer –, eigentlich wüssten, wonach man streben solle. Mit welchem Recht sie sich selbst von der Diagnose, der Mensch sei von Natur böse oder durch die Zivilisation verdorben, ausnähmen? Anders gefragt: Wer kann das Menschengeschlecht erziehen, wenn alle Menschen hoffnungslos verdorben sind? Woher kennen ihre Verkünder die Wahrheit, wenn der Mensch in einer Welt des Scheins lebt? Wie soll der Mensch mit seiner »radikal bösen Naturanlage« plötzlich zur Einsicht in die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Handelns gelangen?2 Wer soll die Lehrer belehren, die Aufklärer aufklären, die Erzieher erziehen, die Erleuchteten erleuchten?

Um den Teufelskreis zu durchbrechen, führen die Gesellschaftstheorien, die den Glauben an eine bessere Welt noch nicht verloren haben, einen Übermenschen ein, der schon im Besitz der Wahrheit ist. Um die Utopie einer besseren Welt zu retten, sind sie auf einen Erlöser, einen Führer, einen Meister, einen Guru oder eine Partei angewiesen. Im religiösen Kontext klingt das noch einigermaßen plausibel. Moses...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2022
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Autoritarismus • Demokratie • Entresol • Erziehung • Faschismus • Foucault • Freud • Gesellschaft • Hannah Ahrendt • Kant • Kolumne • Kolumnist • Lacan • Marx • Maschinen • Max Weber • Menschenrechte • Nietzsche • Philosophie • Politische Philosophie • Populismus • Psychoanalyse • Psychologie • Republik • Spektakuläre Maschinen • Verhalten ändern
ISBN-10 3-85869-970-5 / 3858699705
ISBN-13 978-3-85869-970-1 / 9783858699701
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