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Die große Beleidigung (eBook)

Erzählungen | Die Neuausgabe
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
176 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2794-5 (ISBN)
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»Da staunen die Kritiker, denn jetzt fliegen ihnen ihre alten Vorurteile um die Ohren. Wondratschek legt hier ein veritables Meisterwerk vor.« Werner Fuld, FOCUS Eine alte, aus aristokratischen Verhältnissen stammende und seit langem in Wien gestrandete Russin erinnert sich beim Anblick von Seidenstrümpfen in einer Auslage am Graben an ihre Jugend in St. Petersburg. Ein Schriftsteller hat für einen Tag seinen kleinen Sohn am Hals und entdeckt, wie man zu einem glücklichen Menschen werden kann. Einem Filmregisseur droht der Verlust seines Augenlichts. Ein Geigenvirtuose leidet so sehr an Lampenfieber, dass er darüber verrückt wird. »Mit diesem Sieg der Kunst über die Schwerkraft meldet sich ein neu zu entdeckender Wolf Wondratschek zurück.« Katrin Hillgruber, Süddeutsche Zeitung

Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der 1980er-Jahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.

Wolf Wondratschek wuchs in Karlsruhe auf. Von 1962 bis 1967 studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Heidelberg, Göttingen und Frankfurt am Main. Seit 1967 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in München. In den Jahren 1970 und 1971 lehrte er als Gastdozent an der University of Warwick, Ende der Achtzigerjahre unternahm er ausgedehnte Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko. Er lebt seit 1996 in Wien.

Auf dem Graben


Gisela Wenkums gewidmet

Auf dem Graben kam mir eine Frau entgegen, das Gesicht gepudert, die Wangen bis zu den Ohren mit Rouge bestäubt, als hätte sie nicht die Farbe des Flieders, sondern deren Duft aufmalen wollen, wie ein Ei umhüllt von Mantel und Kopftuch, die es trotz bereits sommerlicher Temperatur offenbar vorzog zu frieren, wenn auch nur aus Verachtung für den Anprall der Helligkeit, der sie sich ausgesetzt sah und vor der sie in Deckung zu gehen gedachte. Sie erschien mir trotz ihrer Verpackung (sie hätte sich genausogut in ein Stück eines Theatervorhangs einwickeln können) so zierlich, als wäre sie vor dem Verlassen ihrer Wohnung von einer schneeweißen Tabaksdose gestiegen, ganz in der Gewißheit, so wie sie aussah, jederzeit in angemessener Weise auch vor ein Erschießungskommando treten zu können. Und wenn es darauf ankäme, meine Herren, würde sie sogar die Sonnenbrille abnehmen. Ihr letzter Wunsch? Man möge die Schüsse bis nach St. Petersburg hören, wo man sich ihrer einst erinnerte als eines Mädchens, dem man (u. a.) eine Vorliebe für die Liebhaber seiner Mutter nachsagte.

Um den Stand mit den Zeitungen, Zeitschriften und Postkarten (ganze Schiffsladungen offenbar!) machte sie einen Bogen. Was passierte schon noch auf der Welt? Gab es etwa wieder Neuigkeiten? Neben ihr, in einem Kinderwagen, schlief ein Neugeborenes, und sein etwas älteres Brüderchen machte, einen Luftballon festgebunden am Handgelenk, die ersten ungeschickten Gehversuche. Mit dem Ausdruck, den sie auf dem Gesicht der Mutter wahrnahm, hatte sie schon immer ihre Schwierigkeiten gehabt. Ärgerlich, diese Hingabe in verzückter Verblödung (psst, das hätte Vater nicht hören dürfen!). Wie sie, an seiner Hand die Museen besuchend, schon früh mit großen, zornigen Augen selbst gesehen hatte, gab es sogar auf Meisterwerken der abendländischen Malerei kaum eine Maria (oder sonst eine Heilige), deren von Erhabenheit entstellter Gesichtsausdruck ernst zu nehmen war. Nein, der Blick dieser Damen war eine Zumutung, entschied sie, und auch durch Erleuchtung nur ungenügend entschuldigt. Was für eine Wohltat dagegen die Kleinigkeiten; wie gut sie sich an viele erinnerte, zum Beispiel an jene einer Linie einer Hand an einer Wange und dicht daneben der Ausblick in die ganze Grenzenlosigkeit der damals bekannten Welt – eine Kleinigkeit, dazu da, der Kunst vorbehalten zu bleiben. Allerdings, waren das Neuigkeiten?

Sie ignorierte auch die Auslagen eines Delikatessengeschäfts. In ihrer Jugend, der Blütezeit ganz und gar hoffnungsloser Affären, hatte sie selbst Fasane geschossen. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht, die Vögel aus der Luft fallen zu sehen. Das war in Ordnung. Nicht einmal heute bereute sie, wie sie damals der Reihe nach die Namen einiger Männer durchgegangen war, bevor sie mit ruhiger Haltung und offenen Augen abdrückte, für jeden Treffer einen, und für jeden hatte die geringste Bewegung genügt, die eines Fingers. Aber das hier fand sie geschmacklos. Auch ein toter Fasan hatte es nicht verdient, in Anwesenheit von italienischer Salami und Wildlachs aus Kanada zu enden, auch nicht in einem Schaufenster. Auf dem Fensterglas entdeckte sie die Spiegelung der Rückenansicht eines Mannes, der auf der Straße stand und telefonierte. Was tat er? Ohne Zweifel, das hatte es damals nicht gegeben, nicht zu ihren Lebzeiten, hätte sie fast gesagt. Wenigstens das also waren die Neuigkeiten. Aber wozu war das gut, und war es höflich?

Die Ausstellungsstücke in der Auslage eines Juweliers gleich daneben überflog sie ebenfalls mit wenig Interesse. Sie bewegte nur kurz ihre Hände, fühlte wohltuend das Gewicht der Ringe, die sie trug, und wandte sich ab. Dagegen hielt sie vor dem kleinen Geschäft mit den Seidenstrümpfen inne, ertrug die drei Gymnasiastinnen, die vor der Scheibe standen und nicht wußten, welche Richtung sie ihren Gedanken empfehlen sollten, und untersuchte das Gebotene.

Es war nicht ihre Art, beim Betrachten eines Gegenstandes, der sie interessierte, den Kopf schräg zu legen, wie sich das damals, nach dem Tod des Vaters, ihre Mutter angewöhnt hatte als eine theatralisch immer viel zu dick aufgetragene Ankündigung ihrer törichten Bemerkung, es sei halt jetzt ein bißchen dumm, so arm sein zu müssen. Noch dümmer war, daß sie das abrupte Ende eines zuletzt immer kostspieligeren Gesellschaftslebens gleichsetzte mit dem Sturz in die Verelendung. Die Wahrheit war, nicht ihr Mann fehlte ihr, sondern ihre Auftritte mit ihm in großer Robe. Sich als Witwe benehmen zu müssen (als Liebhaberinnen standen Witwen nicht gerade hoch im Kurs), darauf war sie nicht vorbereitet; und es machte auch, wie sie fand, von Anfang an keinen Spaß. Sein Tod hatte ihr Leben eliminiert. Erst jetzt, wo er tot war, war sie wirklich mit ihm verheiratet. Sie war endlich doch noch seine Frau geworden. Aber zu welchem Preis! Tot wie er war die Hoffnung auf die ungeteilte Aufmerksamkeit auch nur eines einzigen, halbwegs passablen jungen Galans. Wer beachtete sie denn noch groß, außer natürlich die gelangweilten Generalswitwen, die sich ansonsten über Spiritismus und Bridge stritten? Ein Flirt? Ausgeschlossen, mit wem? Wer suchte noch ihren Blick? Was für einen Sinn hätte es, vielsagend die Augen abzuwenden von einem, der einen gar nicht angeschaut hatte? Sein Herzklopfen genießen, das einer anderen galt? Sollte sie lächeln, daß sie alleine dastand, daß sie sitzenblieb beim Tanz, daß jetzt ihr Herz es war, das klopfte, und zwar aus Scham über die Peinlichkeiten, denen sie ausgesetzt war?

Sie hatte also Zeit genug, sich wieder einmal an die Geschichte zu erinnern, die sie als junge Frau zum ersten Mal gehört und darauf wie auf eine Gotteslästerung reagiert hatte, mit entsetztem Erschrecken und der Gewißheit augenblicklicher Bestrafung. Da war einer Dame auch plötzlich der Mann verstorben, aber was tat sie? Sie ließ ihn still und leise in seinem fernen Heimatdorf beerdigen, kehrte in die Hauptstadt zurück und erfand eine Auslandsreise von einiger Dauer, die er plötzlich habe antreten müssen – wobei ein keineswegs diskretes Augenzwinkern verriet, was sie zu ihrem Schutz so deutlich nicht hatte sagen wollen, daß es sich nämlich um eine Vergnügungsreise handle, und das durchaus zum Zwecke ehelicher Untreue! –, und stürzte sich noch glanzvoller und ausgelassener, als sie es gewohnt war, in die nächste und, wie sie annehmen mußte, für sie letzte Ballsaison. Imponierend, das mußte sie inzwischen zugeben, zumindest ihre konsequente Kaltblütigkeit. Drei Jahre später sorgte sie noch einmal für Aufsehen. Schulkinder waren die ersten, die ihre Leiche zwischen den Eisschollen in der Moika entdeckt, zuerst aber für nichts weiter als einen verspäteten Aprilscherz gehalten hatten.

Nun, konsequent konnte sie auch sein – und sie entschied, fromm zu werden. Immer mehr sah man dann, wie sie verfiel. Zuletzt rauchte sie selbstgedrehte Zigaretten.

Sie hielt sich aufrecht, schaute sich alles in Ruhe an und fragte sich nun, was Seidenwäsche mit dem Frühling, und sei es ein Frühling in Wien, zu tun hatte. Was sollte der Strauß Frühlingsblumen, der noch dazu, wie man sah, da drinnen kaum Luft bekam? Daneben, auf einem Monitor, konnte man die Übertragung einer Modeschau verfolgen, auch das noch. Irgendeine collezione primavera, hoch aufgeschossene Mädchen in Unterwäsche auf einem Laufsteg, denen vom Parkett aus applaudiert wurde. Mißtrauisch trat sie einen Schritt zurück, blieb aber stehen. Es genügte, daß unter all der mittelmäßigen Ware Strümpfe aus Seide ausgestellt waren, aus echter Seide. Dafür hatte sie ein Auge. Sie sah das. Sie sah noch immer, wie sie bedauerte, viel zu gut. Aber wozu, was gab es auf der Welt, seit sie nicht mehr reisen konnte, schon noch zu sehen? Ins Kino ging sie nicht mehr, auch nicht mehr in die Oper (warum sich anstarren lassen?) oder zu Konzerten, auch Pollak zuliebe nicht, der sie immer wieder zu überreden versucht hatte. Sie las nur noch ihre Bücher, auch wenn die Buchstaben auf den Seiten immer winziger wurden und die Augen beim Lesen rascher ermüdeten als früher – und sie die Geschichten, die sie verschlang, natürlich alle längst kannte; es war auch weniger ein Lesen als ein Nachprüfen, zum Beispiel, ob die gute unglückliche Anna immer noch rechtzeitig am Bahnhof eintraf oder der Zug, vor den sie sich zu werfen gedachte, nicht plötzlich etwa Verspätung hatte. Aber was sollte sie tun, wenn sie nicht gerade schlief?

Eine Bekannte von ihr hatte, auf Anraten eines Nervenarztes, mit dem Malen begonnen. Die Resultate waren peinlich und der Grund, sie nicht mehr zu treffen. Sie malte nicht nur ohne Talent, es fehlte ihr auch an der Begabung, die Sache mit sich selbst auszumachen. Rücksichtslos, wie sie war, schwärmte sie nur noch von Farben auf Leinwänden, vom Schwung ihrer Hand, die den Pinsel führte, von der Kraft eines Pinselstrichs. Unappetitlich war das, vor allem, wenn man wußte, daß sie von Angstträumen geplagt war, die alle mit unbekannten und mehr oder weniger zwielichtigen Männern zu tun hatten. Die Arme, oder besser gesagt, arme Kunst. Da las sie lieber.

Ihre Nachbarin, eine Frau Szabó, Witwe eines Gänse-Importeurs aus Ungarn, ließ sich seit Jahren...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Geige • Klassiker • Kunst • Künstler • Lebensentwurf • melodramatisch • Orchester • Prosa • Schriftsteller • Virtuose • Wehmut
ISBN-10 3-8437-2794-5 / 3843727945
ISBN-13 978-3-8437-2794-5 / 9783843727945
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