Geisterschrein (eBook)
528 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46236-2 (ISBN)
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger in Berlin. Der Germanist, Politik- und Kommunikationswissenschaftler hat zahlreiche Romane und Sachbücher für erwachsene und junge Leser publiziert. Die True-Crime-Thriller 'Zerschunden', 'Zersetzt' und 'Zerbrochen' zusammen mit Michael Tsokos waren allesamt Top-Ten-Bestseller auf der Spiegel-Liste. 'Rattenflut' ist der dritte und abschließende Teil seiner mit 'Wolfswut' und 'Drosselbrut' gestarteten True-Crime-Reihe.
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger in Berlin. Der promovierte Literatur- und Kommunikationswissenschafter beschäftigt sich seit vielen Jahren mit kultur- und mythengeschichtlichen Themen. Neben Romanen und Thrillern (u.a. die Trilogie "Wolfswut", "Drosselbrut" und "Rattenflut") hat er zahlreiche Sachbücher publiziert und Forschungsreisen unter anderem im karibischen und südostasiatischen Raum unternommen.
Drei
Stimmen in der Nacht, Grete Reiter schreckt hoch. Wo ist sie? Das Zimmer dunkel, im Fenster grell und tosend die Stadt.
Bangkok. Sie ist im Hotel, wird ihr klar, im Dusit Thani am Lumpini-Park.
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt 04:24 Uhr. Durch die offene Balkontür weht heiße Luft herein. Dazu Fetzen eines erregten Wortwechsels.
Aber das hier ist nicht ihr Zimmer. Alles zu weit weg, die Wand, das Fenster, die Stadt. Ihr Zimmer ist viel kleiner. Und viel weiter unten im Hotelturm.
Sie ist bei Miko, eigentlich Manitho Luang, in seiner Suite, zwölfter Stock. Nackt und kompakt steht er auf dem Balkon, ein dunkler Schemen, gerahmt von der offenen Tür.
Gestern Abend noch ein Fremder, geht es Grete durch den Kopf. Und jetzt? Sie hat sich noch nie auf den ersten Blick in jemanden verliebt. Bis sie ihn gesehen hat, vorgestern Mittag in der Lobby.
Sie hatten Mango Daiquiri aus seiner Zimmerbar. Und dann atemberaubenden Sex. Er hat seine Finger in ihren Rücken gekrallt, und seine Lippen, seine Zunge spürt sie noch immer an den unglaublichsten Stellen. Aber es war viel mehr als der Sex. Seine Stimme, sein Lächeln, seine smaragdgrünen Augen.
Von Miko hat sie geträumt, jetzt ist sie hellwach. Mit wem redet er um halb fünf Uhr früh? Am Telefon, dachte sie erst, aber sie hört ja auch die Stimme des anderen. Ein heiseres Flüstern.
Wo kommt der plötzlich her? Von diesem anderen sieht sie nicht mal einen Schatten. Er muss weiter links auf dem Balkon stehen, vor der geschlossenen Jalousie.
Miko klingt erregt. Beschwörend redet er auf den anderen ein. Grete versteht kein Wort, die beiden sprechen Thailändisch. Und dann schlägt der Mann zu. Grete sieht nur seine abnorm große Faust, die von links ins Bild schießt und Miko seitlich am Kopf trifft.
Er sackt zusammen, der andere fängt ihn auf. Und dann, wie im Stroboskoplicht, bei jedem Herzschlag ein anderes überbelichtetes Bild: Miko von zwei kräftigen Armen emporgehievt … Miko über der Brüstung, sein Kopf haltlos baumelnd … Miko kopfüber fliegend … dann nur noch seine Beine von den Knien abwärts … und dann – Grete will die Fäuste auf die Ohren pressen, aber sie kann sich nicht rühren – tief unten der Aufprall. Ein dumpfes Klatschen.
Starr sitzt sie im Bett. Hämmern in der Brust, Gedankenfetzen im Kopf: Kontakt mit Einheimischen strikt untersagt, Order von ganz oben … Aber egal, sie hat gestern sowieso beschlossen zu kündigen. PR-Juniormanagerin bei Superbo, dem »deutschen Zara«, das hat sie sich anders vorgestellt. Trotzdem darf niemand erfahren, wo sie in dieser Nacht war. Wo sie immer noch ist …
Grete gleitet aus dem Bett, auf der dem Balkon abgewandten Seite. Sie zittert, in ihrem Kopf echot der Aufprall von Mikos Körper auf dem Asphalt. Im Halbdunkel, am Boden kauernd, zieht sie ihre Sachen über. Slip, Kleid, die roten Slipper in der Hand, mehr hatte sie nicht dabei.
So einen Sturz kann man nicht überleben … Der Satz löst nichts in ihr aus, außer noch mehr Zittern. Schock, denkt sie.
Sie muss von hier verschwinden, sofort. Sie hat Horrorstorys über Bangkoks Gefängnisse gehört. Seit das Militär die Macht ergriffen hat, landen dort auch Ausländer, aus nichtigem Anlass. Wenn sie hier von der Polizei entdeckt wird, ist ihre nächste Unterkunft eine überfüllte Gemeinschaftszelle, mit einer Fäkalrinne in der Mitte, über der die Gefangenen rittlings kauern.
Grete zwingt sich, gleichmäßig zu atmen. Aus und ein. Wie kommt sie hier unbemerkt raus? Wo ist eigentlich der andere Mann? Noch auf dem Balkon? Der Schattenmann …
Sie weiß es nicht, und sie kann ja nicht eben mal nachsehen. Wenn er noch da ist und sie bemerkt, bringt er auch sie um. Die Augenzeugin. Die dabei war, als der Mann ermordet wurde, der sie tiefer berührt hat als jeder andere zuvor.
Nicht heulen, Grete. Reiß dich zusammen …
Auf nackten Füßen schleicht sie durchs vordere Zimmer zur Tür, zieht sie lautlos auf, huscht hinaus.
Der Hotelflur liegt verlassen im Nachtlicht, ein Tunnel in Gold- und Rottönen. Grete folgt den Schildern zum Notausgang, schwindlig, ihr Herz rast. Unter den bloßen Fußsohlen fühlt sich der Teppichboden flauschig an, mit harten, kratzigen Stellen dazwischen.
Uralter Dreck, denkt sie, vielleicht getrocknetes Blut. In dem schattierenden Hell- und Dunkelrot fällt das nicht auf. Außer, du rennst hier auf nackten Füßen entlang.
Doch erst vor der Tür zum Treppenhaus lässt sie die Slipper zu Boden fallen, schlüpft hastig hinein. Das grüne Etuikleid klebt ihr am Körper, schweißnass. Wie rhythmisches Stampfen dröhnt ihr der Puls in den Ohren, doch da ist niemand. Weder im Flur noch im Treppenhaus, als sie die Tür aufzieht und auf den glitzernden Steinstufen abwärts eilt.
Ihre Absätze klacken auf Granit. Also die Slipper wieder aus und weitergerannt, Treppe um Treppe hinab mit wackligen Knien. Auf jedem Stockwerk eine Plattform, an den Feuertüren rot und riesengroß die Etagennummern: 10 – 9 – 8 … Der Countdown, bis er dich kriegt.
Blödes Zeug, er hat dich nicht bemerkt. Niemand verfolgt dich, Grete, du bist in Sicherheit.
Doch ihr Körper sieht das anders. Ihr Herz hämmert, Schweiß tropft ihr aus den Haaren.
Plötzlich polternde Schritte über ihr, passend zu den Schaufelhänden des Schattenmanns vom Balkon. Ihr bleibt fast das Herz stehen. Sie zwingt sich, weiterzugehen, weiterzuatmen, eins und zwei, aus und ein …
Bei jedem Stockwerk unterdrückt sie den Impuls, durch die Tür in den Hotelflur zu stürmen. Sie muss es in die dritte Etage schaffen, aber vorher muss sie den Schattenmann irgendwie abschütteln. Mikos Mörder … Nicht daran denken, nicht jetzt!
Auf der Plattform zum sechsten Stock hat sie eine Eingebung. Neben jeder Etagentür ist eine schmalere Tür, und die hier steht eine Handbreit offen. Dahinter Regale, voll mit Putzmitteln in Eimern und Kartons. Grete lässt die Eisentür mit der roten Sechs auf- und zuknallen und verdrückt sich in die Kammer daneben.
Stockdunkel ist es hier drin, und es riecht nach Chemie und abgestandener Luft. Aber sie zwingt sich, die Tür zuzuziehen. Ihr ist so schwindlig, dass sie sich hinkauern muss. Sie hält den Atem an und lauscht.
Keine Minute später stürmt ihr Verfolger durch die Etagentür neben ihr in den Hotelflur. Grete zählt lautlos bis zehn, schiebt die Kammertür einen winzigen Spalt weit auf und späht hinaus.
Niemand zu sehen. Sie rappelt sich auf und rennt weiter die Treppe hinab. Im dritten Stock stoppt sie erneut, fährt sich mit der Hand durchs verschwitzte Haar und setzt ein Lächeln auf.
Schließlich ist das hier das Land of Smile. Wahrscheinlich hatte auch der Schattenmann das landesübliche Lächeln im Gesicht, als er Miko vom Balkon warf …
Grete öffnet die schwere Feuertür und tritt in den Flur. Ihr Zimmer ist die 321, ziemlich weit vorne bei den Lifts. Sie eilt den Gang entlang, fischt die Schlüsselkarte aus dem Kleid und hält sie vor den Scanner.
Erst als die Zimmertür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, lässt sie den Schrei heraus. Und presst sich im nächsten Moment die Faust auf den Mund.
Still, Grete, du darfst kein Aufsehen erregen. Du weißt von nichts. Du warst die ganze Nacht in deinem Zimmer. Du kanntest den Toten gar nicht.
Was der Wahrheit sogar ziemlich nahekommt, jedenfalls nach landläufigen Begriffen. Sie haben nicht mal eine ganze Nacht zusammen verbracht. Unglaublich, wie dicht gefüllt diese paar Stunden waren. Mit Liebe, Lachen, Tanz sogar und unfassbar offenen Gesprächen. Alles zwischen Miko und ihr war intensiver, als sie es je zuvor erlebt hat. Wie ein ganzes, pralles Leben, gepresst in einen kurzen Traum.
Und trotzdem … Was weiß sie wirklich von ihm? Vor zwei Tagen, als sie im Hotel ankamen, die komplette PR-Truppe aus dem Superbo-Headquarter in München, stand er in der Lobby neben einer Säule. Selber säulengleich. Der Schnitt seiner Augen mandelförmig, die Farbe ein intensives, fast surreales Grün. Dazu schwarzer Anzug, weißes Hemd, wie mehr oder weniger alle asiatischen Männer in der Lobby. Er gehört zum Hotel, dachte Grete, aber ganz falsch.
Sie hat sein Lächeln kennengelernt, seine ausdrucksvolle Stimme, seinen leidenschaftlichen Körper. Aber sonst? Er besitzt eine »Manufaktur für Geisterschreine«, in denen ein mächtiger Geist verehrt wird, genannt Tai Thong Klom.
Ergibt das irgendeinen Sinn? In Thailand anscheinend schon. Tai Thong Klom ist »der Geist einer schwangeren Frau, die bei Geburtskomplikationen verstorben ist und rachsüchtig umherschweift, wenn sie nicht durch Opfer besänftigt wird«, hat Miko ihr erklärt. Doch jetzt kommt ihr seine Story ziemlich aus der Luft gegriffen vor. Buchstäblich: seine Geistergeschichte.
Im dämmrigen Zimmer tastet sie sich zum Fenster hinüber, öffnet leise die Balkontür. Feuchtheiße Luft klatscht ihr ins Gesicht. Dazu Jaulen von Polizeisirenen, zuckendes Blaulicht unten auf dem Parkplatz. Sie tritt hinaus, späht über die Brüstung. Und prallt zurück.
Der Plastiksarg hat die Farbe nasser Kreide. Eben wird er aufgeklappt, ein kompakter Körper angehoben, in eine weiße Plane gehüllt. Das Tuch verrutscht, als die beiden Uniformierten den Körper in den Sarg legen. Grete stopft sich die Faust zwischen die Zähne. Lässt sich hinter der Brüstung zu Boden fallen und erstickt den Schrei in ihrem Mund.
Mikos linke Gesichtshälfte...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Amour fou • Andreas Gößling • Archaische Kulte • Archäologe • Archäologie • Berlin • Dämonin • Doppelgänger • Gänsehaut • Geheimkult • Geisterhäuschen • Geisterschreine • Grete Reiter • Höhle • Lenny Mong • Liebes-Thriller • Liebe über den Tod hinaus • Mehrfachtod • Miko Luang • Mord • Mörderin • Mordverdacht • Mystery Thriller • mystischer Krimi • Mystischer Thriller • Mythologie • Psychothriller • San Phra Phum • schwangere Göttin • Serienmörderin • Thailand • Thriller Archäologie • Thriller Asien • Thriller deutsche Autoren • Thriller Deutschland • Thriller Frauen • Thriller mit Liebesgeschichte • thriller religion • Thriller Thailand • Thriller Übersinnliches • Uckermark • unerklärliche Todesfälle • unsterbliche Liebe • Wiedergänger • Wissenschaftsthriller |
ISBN-10 | 3-426-46236-2 / 3426462362 |
ISBN-13 | 978-3-426-46236-2 / 9783426462362 |
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