Krieg in Europa (eBook)

Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent
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2022 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01069-7 (ISBN)

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Krieg in Europa -  Norbert Mappes-Niediek
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Die Jugoslawienkriege haben die Weltöffentlichkeit erschüttert. Sie sind verbunden mit den schlimmsten Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg - mit Folgen, die unmittelbar in unsere Gegenwart reichen. Norbert Mappes-Niediek, langjähriger Südosteuropa-Korrespondent, führt in seiner großen erzählerischen Gesamtdarstellung mitten hinein in dieses dunkle Kapitel der jüngsten europäischen Geschichte: angefangen mit den ersten Panzern in Slowenien und dem Schock darüber, dass im vermeintlich friedlichen Europa plötzlich wieder Krieg ausbricht, bis hin zum UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Er zeichnet die Bruchstellen des gescheiterten Vielvölkerstaats nach, nimmt das unfassbare Massaker im bosnischen Srebrenica in den Blick, fragt nach Interessen und Strategien der Kriegsparteien, aber auch nach der Verantwortung der ausländischen Mächte - und macht so die weltpolitische Tragweite des Konflikts deutlich. Scharfsichtig und eindringlich schildert Mappes-Niediek, der die Region kennt wie wenige andere, den blutigen Zerfall Jugoslawiens - der unseren Kontinent beinah zerrissen und bis heute verändert hat.

Norbert Mappes-Niediek geboren 1953, arbeitete ab 1991 als freier Korrespondent für Südosteuropa. Er schrieb vor allem für «Die Zeit», «Frankfurter Rundschau», «Berliner Zeitung», «Der Standard» und arbeitet heute u.a. für den Deutschlandfunk. Norbert Mappes-Niediek lebt mit seiner Familie in Graz.

Norbert Mappes-Niediek geboren 1953, arbeitete ab 1991 als freier Korrespondent für Südosteuropa. Er schrieb vor allem für «Die Zeit», «Frankfurter Rundschau», «Berliner Zeitung», «Der Standard» und arbeitet heute u.a. für den Deutschlandfunk. Norbert Mappes-Niediek lebt mit seiner Familie in Graz.

Einleitung – Klare Verhältnisse


Krieg in Europa: Als der Alarmruf zum ersten Mal nach sechsundvierzig Friedensjahren wieder erklang, traf er auf Entsetzen, mehr aber noch auf ungläubiges Staunen. Krieg, wirklich? Oder doch nur ein Scharmützel, typisch für einen traditionell unruhigen Winkel des Kontinents? Die deutsche «Tagesschau» meldete von «Kämpfen» an jenem Tag Ende Juni 1991 einen toten Soldaten. In Frankreich gehörten die ersten drei Minuten der Acht-Uhr-Nachrichten erst einmal einer Katastrophe im eigenen Land, bei der in einem Thermalbad zwanzig Menschen erstickt waren. Die ersten erschrockenen Solidaritätsadressen erreichten das betroffene Slowenien aus der Nachbarschaft, von einem ungarischen, einem russischen und einem tschechischen Schriftsteller.

Die Nachricht aus Jugoslawien fiel in keine Epoche von Hass und Krieg. Im Gegenteil: So viel Zuversicht und Aufbruch wie in jenen Jahren hatte die Welt lange nicht gekannt. Seit der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, 1986 eine Ära von «Glasnost und Perestroika» eingeläutet hatte, von Offenheit und gesellschaftlicher Umwandlung, fielen die kommunistischen Regime im Osten Europas wie Dominosteine. Im Juni 1989 brachten in Polen erste freie Wahlen die lange verbotene Oppositionsbewegung Solidarność an die Macht. Im November dieses «Annus mirabilis» wurde die Berliner Mauer geöffnet, keine drei Wochen später brachte ein Generalstreik auch das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei zu Fall. Als in Slowenien die Panzer rollten, hatten selbst in Albanien, der härtesten Diktatur Osteuropas, freie Wahlen stattgefunden. Fast überall ging der Übergang unblutig vonstatten. Dass in Rumänien Einheiten der Geheimpolizei mehr als tausend Menschen erschossen, war leicht als Rückzugsgefecht eines untergehenden Regimes zu erkennen. So, als letztes oder vielleicht vorletztes Aufbäumen einer angeschlagenen Diktatur, war auch das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gedeutet worden, bei dem 1989 vermutlich einige Tausend Menschen ums Leben kamen.

Nicht nur im Ostblock purzelten die Diktaturen, auf der ganzen Welt entschieden sich freie Menschen für friedliche und demokratische Formen des Zusammenlebens. Ende 1989 lösten in Chile freie Wahlen den Tyrannen Augusto Pinochet ab. Nur Wochen später wurde in Südafrika nach siebenundzwanzig Jahren Nelson Mandela aus dem Gefängnis entlassen; das rassistische Apartheidregime war am Ende. Diktaturen gehen, die Demokratie kommt: Eine unaufhaltsame Gesetzmäßigkeit schien am Werke. Anfangs war es noch zäh vorangegangen. In den siebziger Jahren hatten die autoritären Regime in Portugal, Griechenland, Spanien weichen müssen. Seit den achtziger Jahren dann wurde die Liste der Diktatoren von Jahr zu Jahr kürzer. Als der Siegeszug der Demokratie unumkehrbar schien, verkündete der Amerikaner Francis Fukuyama sogar das «Ende der Geschichte». In den «liberalen Revolutionen» in Osteuropa erkannte der politische Philosoph ein «menschliches Grundmuster», das sich naturhaft durchsetzen würde. Die Kriege in Jugoslawien, die 1992, als sein Buch erschien, gerade voll entbrannt waren, hielt Fukuyama wie die meisten seiner Zeitgenossen für «Geburtswehen einer neuen und allgemeinen demokratischen Ordnung in der Region».[1]

Freie Wahlen, unabhängige Gerichte, offene Debatten schienen die letzten fehlenden Voraussetzungen dafür zu sein, dass die Menschen überall auf der Welt ihre Interessen friedlich gegeneinander abgleichen würden – sowohl innerhalb der Länder, in denen sie lebten, als auch zwischen ihnen. Dass ausgerechnet in Europa der Triumph der Demokratie einen Krieg mit sich bringen würde, mochte sich auf dem Kontinent der sauber abgegrenzten Nationalstaaten niemand vorstellen. Europa vereinigte sich; 1991, das Jahr, als in Jugoslawien Krieg ausbrach, war auch das Jahr, in dem die Europäische Gemeinschaft ein großes Stück weiter zusammenrückte.

Nur das damals achtgrößte Land in Europa trat eine historische Geisterfahrt an, wie es schien. Während auf dem Kontinent die Zeichen auf Vereinigung standen, löste Jugoslawien sich auf, und so gut wie niemand schien es zusammenhalten zu wollen. Millionen flüchteten oder wurden vertrieben, mehr als hunderttausend Menschen kamen in den Jugoslawienkriegen ums Leben. Appelle an eine höhere Vernunft, ein gemeinsames Lebensinteresse, ein vereintes Europa verklangen im Gefechtslärm.

Was wie ein Widerspruch zum großen Trend aussah, interpretierten jene, die den Zerfall vorantrieben, zu dessen Beginn jedoch ganz anders. Das Zusammenwachsen Europas und das Auseinanderfallen Jugoslawiens seien «Teile desselben Prozesses», meinte der damalige slowenische Außenminister, als noch nicht absehbar war, wie schlimm es werden würde. Man wolle ja gerade teilhaben am Projekt Europa, aber anders als sein eigener Teilstaat seien andere Republiken Jugoslawiens «noch nicht darauf vorbereitet, europäische Standards zu erfüllen», was eine Trennung unvermeidlich mache.[2] Seit die Verfassung die Volksgruppen zu den Trägern der politischen Macht erhoben hatte, stritten sie sich unablässig um Posten, Haushaltsmittel, Entwicklungsprojekte, Investitionen und vor allem um den Rahmen, in dem sie streiten wollten: Sollte das Land zentral oder dezentral regiert werden? Wenn eine Ehe nicht funktioniert, ist Scheidung der Ausweg: Das war die gängige Metapher für die Auflösung des Vielvölkerstaats, geeignet, das Geschehen als zwar bedauernswert, aber doch als normal oder wenigstens als unausweichlich erscheinen zu lassen.

Klare Rechnung, gute Freunde: Die Redensart stand noch im offenen Krieg für die Hoffnung, dass nachher alles besser würde. Einmal unter sich, könnte jede einzelne Nachfolgenation sich von den dauernden ethnischen Konflikten ab- und den eigentlichen Problemen zuwenden – den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, wie sie nach dem Ende des Sozialismus auch alle anderen Übergangsländer zu bewältigen hatten. Nahm man den slowenischen Außenminister beim Wort, schien es ohnehin nur eine Trennung auf Zeit zu sein; irgendwann würden auch die jetzt noch uneinsichtigen Nachzügler im Südosten, in Serbien, den Weg ins vereinte Europa finden, würden aus den hoffnungslos zerstrittenen Volksgruppen Jugoslawiens normale Nachbarn werden.

 

Es war ein Irrtum, und er schleppte sich fort. Zwei Jahrzehnte waren die Jugoslawienkriege schon vorbei, aber noch immer war «der Balkan» in aller Augen das Pulverfass, die Krisenregion, der Unruheherd. Das sollte nicht ewig so bleiben, und so kamen die Potentaten zweier jugoslawischer Nachfolgestaaten, Serbiens und des Kosovo, überein, die verbliebenen Probleme mit einem sauberen Schnitt zu lösen. Wichtige politische Persönlichkeiten vom Rest des Kontinents fanden die Idee gut, trafen sich an einem schönen Sommertag in den Tiroler Bergen und machten die Welt mit dem Einfall bekannt. Man könnte doch ein wenig die Grenzen korrigieren! Noch immer stritten die letzten Kriegsparteien der blutigen neunziger Jahre, Serben und Albaner, um ein paar Dörfer, eine geteilte Stadt, einige Straßen, albern im Grunde, aber nicht wegzuleugnen. Wenn das alles war, was die Streithähne von einem dauerhaften Frieden trennte, warum nicht diesen letzten kleinen Schritt noch gehen?

Ein christdemokratischer EU-Kommissionspräsident aus Luxemburg, eine sozialdemokratische Außenbeauftragte aus Italien und ein grünes Staatsoberhaupt aus Österreich fassten sich ein Herz und warben für den Vorschlag, dass Serbien und Kosovo, zwei unabhängige Staaten aus der Konkursmasse des untergegangenen Jugoslawien, ein paar Gebiete austauschten – nicht viel, aber genug, um einen lästigen Streitpunkt aus dem Weg zu räumen. Aus dem Weißen Haus in Washington kam kräftiger Applaus für die Idee.[3] Wenn sich nach der Aufteilung Jugoslawiens die entspannte Nachbarschaft nicht eingestellt hatte, so war sie wohl nicht gründlich genug vollzogen worden – so die Idee hinter der Initiative. Klare Verhältnisse schaffen: Der Leitgedanke der Kriege zündete noch immer.

Die Idee führte abermals in die Irre. Jahrhundertelang hatten Kroaten, Serben, bosnische Muslime und Albaner unter wechselnden staatlichen Verhältnissen miteinander gelebt – erst in vielen kleinen Fürstentümern, dann in großen Imperien oder im kunstvoll komponierten Jugoslawien der kommunistischen Zeit. Wie ein ewiges Filmdrama, eine Dauerserie zog sich das multiethnische Zusammenleben durch die Zeit. Man war einander nicht fremd, im Gegenteil. Episoden von Streit und Kampf wechselten in der gemeinsamen Geschichte mit Liebesszenen und Folgen ruhigen Nebeneinanderherlebens. Wie ein plötzliches Standbild dann hielt die Aufteilung des Landes die wechselvolle Serie mitten in der schlimmsten Szene an. Wo die Volksgruppen von der staatlichen Aufteilung an nun getrennt voneinander lebten, hatten sie keine Chance mehr, ihre schlechten Erfahrungen mit der je anderen durch neue, gute Erfahrungen in den Hintergrund zu rücken. Eine ganze Generation in Bosnien-Herzegowina kennt ihre Altersgenossen anderer Nationalität nur noch aus dem Fernsehen oder über die schlimmen Erinnerungen der Eltern. Das letzte lebendige Bild von der je anderen Volksgruppe war das vom Feind im Kriege; es erstarrte zum Stereotyp, wurde ideologisch.

Übersichtlichkeit statt «schwieriger Gemengelage», eindeutige Verhältnisse statt «Flickenteppich» erschienen nicht nur den Kriegsherren Jugoslawiens als Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben im künftigen Europa. So war es schon den Deutschen im Zweiten Weltkrieg...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2022
Zusatzinfo mit Abbildungen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 10-Tage-Krieg • Albanien • Aufstand • Balkan • Balkankriege • Belagerung von Sarajevo • Bill Clinton • Boris Jelzin • Bosnienkrieg • Bosnien und Herzegowina • Christen • Christentum • Den Haag • Deutschland • Ethnien • ethnische Säuberungen • Europa • Europäische Union • Flucht • Franjo Tudjman • Geopolitik • George H. W. Bush • Helmut Kohl • Internationaler Strafgerichtshof • Islam • Jugoslawien • Jugoslawienkriege • Kosovo • Krieg • Kroatien • Kroatienkrieg • kroatisch-bosniakischer Krieg • Massaker • Mazedonien • Menschenrechte • Menschenrechtsverletzung • Migration • Montenegro • Muslime • Nationalismus • NATO • Radovan Karadžić • Ratko Mladić • Russland • Sachbuch des Monats • Serbien • Serbisch-Othodoxe Kirche • Slobodan Milošević • Slowenien • Sowjetunion • Srebrenica • Südosteuropa • Tito • UNO • USA • Vojislav Koštunica • Völkermord
ISBN-10 3-644-01069-2 / 3644010692
ISBN-13 978-3-644-01069-7 / 9783644010697
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