Unser kompliziertes Leben (eBook)

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2023 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30363-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unser kompliziertes Leben -  Moritz Rinke
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In scharfsinnigen, anrührenden und umwerfend komischen Texten durchmisst Moritz Rinke unsere Gegenwart. Im Ghostbusters-Anzug an der Seite seines besorgten Sohnes jagt er Corona-Geister, schreibt nach dem Vorbild von Dürrenmatts Die Physiker das neue Virologen-Drama und führt Selbstgespräche nach endlosen Netflix-Abenden, während das Land sich mit Faxmaschinen und Leitzordnern dem Virus entgegenstellt. Begleitet von den Spürhunden des Altkanzlers oder gut versteckt in Olaf Scholz´ Aktentasche reist er durch die deutsche Zeitgeschichte und schreibt Briefe für Angela Merkel. Er versucht, den Brexit mit einer Gabel zu verhindern und läuft mit Trump als Räuber Hotzenplotz zum Kapitol; er lauscht dem Flüstern in den Straßen Antalyas nach dem gescheiterten Putschversuch und sucht verzweifelt Antworten auf unmögliche Fragen, als russische Panzer durch die Ukraine rollen; er schaut auf das Mittelmeer und nach Syrien und denkt über die Idee Europas nach, die in den letzten Jahren immer kleiner und kälter zu werden schien. 

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke, u. a. »Republik Vineta«, »Wir lieben und wissen nichts« oder »Westend«, werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (2010) wurde zum Bestseller. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« (2021). Moritz Rinke lebt in Spanien und in Berlin.

Moritz Rinke, geboren 1967 in Worpswede, ist einer der führenden Dramatiker seiner Generation. Seine Theaterstücke, u. a. »Republik Vineta«, »Wir lieben und wissen nichts« oder »Westend«, werden national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Sein Debütroman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (2010) wurde zum Bestseller. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch der Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« (2021). Moritz Rinke lebt in Spanien und in Berlin.

1. Zeitenwende – und der Versuch, sich neu zu sortieren


Am 24. Februar 2022, am ersten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, war in Deutschland alles noch wie immer: abwarten, keine voreiligen Entscheidungen treffen, der Angela-Merkel-Kurs. Keine achtundvierzig Stunden später dann: Waffenlieferungen an die Ukraine. Und, am vierten Tag des Krieges, die Ausrufung der »Zeitenwende«, die Ankündigung des Bundeskanzlers, dass er ein Sondervermögen von hundert Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr bereitstellen werde. Es dauerte also vier Tage, bis sich die SPD von dreißig Jahren friedensbewegter Außen- und Sicherheitspolitik verabschiedete und die Grünen vom »Frieden ohne Waffen«.

10. März 2022


Jetzt also deutsche Panzerfäuste. Vorher waren die Zauberworte: Nachhaltigkeit, Green Culture und Gender-identity, jetzt heißen sie plötzlich NATO, Wehrpflicht, Panzerabwehrwaffen oder schultergestützte Stinger-Boden-Luft-Raketen.

Zeitenwende.

Und auch ich habe versucht, mich nach diesen ersten Tagen des Krieges neu zu ordnen. Vielleicht, dachte ich mir, geht es ja vielen so, die von sogenannten Pazifisten erzogen worden sind, die länger an ihrer Kriegsdienstverweigerung formuliert haben als am Abituraufsatz, und sich vielleicht für all das jetzt insgeheim sogar schämen? Haben die Franzosen und Amerikaner nicht schon immer über uns gesagt, wir seien »Neopazifisten« und hätten »German Angst«?

In der Süddeutschen Zeitung steht heute der Bericht des Philosophie-Professors Volodymyr Abaschnik von der Karazin-Nationaluniversität im belagerten Charkiw. Statt ein Seminar über »Freiheit und Menschenwürde als Werte« zu halten, meldete er sich nach der Mobilmachung bei den Behörden, um mitzukämpfen. Sergiy Rozhko, ein ukrainischer Autorenkollege, mit dem ich vor Jahren in Kiew Fußball gespielt habe, postete bei Facebook, er würde jetzt in Charkiw kämpfen, territoriale Verteidigung, er trug auf dem Bild Outdoor-Kleidung. Und so entschlossen, wie er in die Kamera blickte, wollte ich glauben, die Ukrainier könnten gegen das russische Militär Wunder bewirken.

Ja, dachte ich, gebt Sergiy und dem Professor Waffen, sie sollen ihre Werte auf der Straße verteidigen können, nicht nur im Seminar oder in Texten. Vielleicht stimmt es, was die Franzosen über uns Deutsche sagen. Also, weg mit dem Pazifismus, weg mit diesem Ghandi-Kram, diesem Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky und dieser Bertha von Suttner und Judith Butler, zurück zur maskulinen Ästhetik: Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, mit Maschinengewehr, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im schlammfarbenen Pullover.

Bedeutet »Zeitenwende« also nun, dass man erkennt oder erkennen muss, dass auf Gewalt nur mit Gewalt geantwortet werden kann? Und bedeutet es, dass nun erst so richtig die große Zeit der Waffenindustrie gekommen ist? Wäre es sogar absurderweise okay, Rheinmetall-Aktien zu kaufen, die ja immer noch so schön weiter steigen? Oder ist es am Ende doch nicht ganz so selbstverständlich, Rheinmetall-Aktien zu kaufen und ukrainische Autoren und Professoren mit Panzerfäusten auszustatten?

Schaue ich die Videobotschaften des ukrainischen Präsidenten, denke ich: Mehr Waffen! Sehe ich das Grauen und die Toten auf Instagram, verzweifele ich – und zweifele wieder. Ich kaufe mir nun extra Zeitungen mit linker Gesinnung, in der Hoffnung, dort meinen eigenen Pazifismus wiederzufinden. In der Anteilnahme und Zuwendung für die Ukraine, lese ich zum Beispiel in der taz, sei auch etwas anderes: »eine neue Art von Pandemie«. Sie sei »geistig-politischer Art, ein mentales Strammstehen, das sich über Nacht unter jenen verbreitet hat, die öffentlich Stimme haben«[1]. Dabei sei es nicht der Angriffskrieg Putins, der diese Zeitenwende einläute, sondern die Reaktionen darauf.

Darf so etwas gerade geschrieben werden?, denke ich. Werde ich nicht wütend, so etwas zu lesen, während ein russischer Präsident in sein Nachbarland einfällt, Bomben auf Wohnhäuser und Kernkraftwerke wirft und Hunderttausende flüchten? Ich lese doch lieber die FAZ, die FAZ forderte immer Waffenlieferungen. »Es sind ja nicht allein westliche Wirtschaftssanktionen, die Putin nach einem Einmarsch in die Ukraine in Bedrängnis bringen könnten«, hieß es dort in einem Kommentar. »Noch gefährlicher für sein Ansehen in der eigenen Bevölkerung dürften lange und schwere Kämpfe werden. Deshalb muss das ukrainische Militär gut ausgerüstet sein.«[2]

Je länger ich darüber nachdenke, umso empörter werde ich. Sergiy und der Professor sollen also möglichst lange durchhalten (oder sogar sterben), damit das Ansehen Putins in der eigenen Bevölkerung schwindet? Das ist strategisch bestimmt gut gedacht und lässt sich auch leicht aus dem Homeoffice schreiben, aber die FAZ und wir sitzen hier alle rum, schauen aus der Ferne zu und hoffen, dass die in der Ukraine möglichst lange durchhalten?

Dann sollten wir vielleicht doch, emotional gesprochen, unseren eigenen Arsch bewegen. Man könnte ja in die Ukraine reisen und mithelfen beim Durchhalten. Oder irrationaler gefragt: Könnte die NATO nicht doch eine Flugverbotszone über der Ukraine einrichten? Wie lange könnten wir dann noch so bequem aus unseren Homeoffices die Weltlage kommentieren, wenn NATO-Kampfflieger russische Bomber abschießen …? Aber die Hähne, aus denen russisches Gas strömt, die sollten wir doch nun wenigstens mal mutig zudrehen? Ist das nicht eigentlich total irre, Ex-DDR-Raketen in die Ukraine zu liefern, aber gleichzeitig mit unserem Geld fürs russische Gas Putins Kriegskasse zu füllen? Und wie ist das überhaupt möglich, dass wir schon am vierten Tag des Krieges bei einer Debatte über unsere eigene Kriegskasse und Grundausstattung der Bundeswehr angekommen sind?

Ich schaue sogar die ZDF-Talkshow Markus Lanz, um auf all das Antworten zu bekommen. Am siebten Tag des Krieges gerät dort der SPD-Politiker Ralf Stegner ins Kreuzfeuer, weil er behauptet, Waffenlieferungen an die Ukraine würden das Leiden der Menschen dort nur verlängern. Ich denke an Sergiy und den Professor und bin geneigt, ihm zuzustimmen. Ich sehe dieses Blitzen in den Augen des Moderators, wenn er kampfeslustig in seinem Fernsehsessel wippt und versucht, Stegner fertigzumachen, weil der eben keine Waffen liefern will. Ich denke: Oh Gott, was ist nur mit unseren öffentlich-rechtlichen Anstalten los? Sieben Tage vor dem Krieg nahm sich der Moderator den ukrainischen Botschafter in Deutschland vor und fragte ihn, sichtlich genervt, welche Waffen er denn bitte schön von uns haben wolle. Ja, es ist schrecklich, wie manche Leute plötzlich immer auf der richtigen Seite stehen.

Aber wo stehe ich denn nun? Vielleicht zeigen solche Talkshows, in welchem unlösbaren moralischen Dilemma wir stecken. Muss ich Waffenlieferungen unmoralisch finden, weil sie Kriege verlängern? Muss ich es unmoralisch finden, Waffen nicht zu liefern, weil dann den Angegriffenen nicht geholfen wird, sich zu verteidigen?

Es sind so unfassbar traurige Fragen. Gestern hat mich mein siebenjähriger Sohn gefragt, was ein Luftschutzbunker sei. Heute hat er in seinem Zimmer Spielzeugkisten umgeworfen und gesagt, er zerstöre die russische Armee. Erst musste ich ihm die Pandemie erklären, jetzt Putin und den Krieg. Und was soll ich ihm nun sagen? Schmeiß die anderen Kisten auch noch um, ich bin zwar der Sohn von Pazifisten, aber mach bitte alles kaputt?

Ich denke darüber nach, auf Anregung meines Nachbarn im Hinterhaus, eines sehr gebildeten Ungarn, ob es vielleicht mindestens drei Putins gibt. Und ob die Entwicklung von Putin I zu Putin III vielleicht auch mit uns selbst zu tun hat: mit unserer eigenen moralischen Schwäche (und der fossilen Abhängigkeit), die wir jetzt umso stärker mit unserer neuen Selbstgewissheit bekämpfen.

Putin I haben wir im Bundestag sprechen lassen und gefeiert (»Heute erlaube ich mir so die Kühnheit, einen großen Teil meiner Ansprache in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant zu halten …«); wir hängten ihm sogar in der Semperoper in Dresden Orden an, Medaillen im griechischen Parlament und das Großkreuz der Ehrenlegion Frankreichs.

Den Putin II haben wir lange gewähren lassen: Georgienkrieg, Annexion der Krim, Invasion im Donbass, Giftgas- und Mordanschläge gegen Kritiker, die blutige Beihilfe für Assad in Syrien. Und es fällt auf, dass sich unsere Anteilnahme an Kriegen besonders eurozentrisch ausnimmt.

Nun haben wir also Putin III. Und wir wissen, dass wir ihn uns irgendwie auch selbst gezüchtet haben.

Ich habe meinem Sohn aber auch von den liebevollen Figuren in den Stücken von Anton Tschechow erzählt. Und jetzt, wo so viele russische Künstler und Künstlerinnen ausgeladen, boykottiert und gleich...

Erscheint lt. Verlag 12.1.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte amüsant • Betrachtungen • Corona • Das große Stolpern • Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández Garcia • Erinnerungen an die Gegenwart • Feuilleton • Gegenwart • Kolumnen • Kurzgeschichten • Kurzgeschichten-Sammlung • Pandemie • scharfsichtig
ISBN-10 3-462-30363-5 / 3462303635
ISBN-13 978-3-462-30363-6 / 9783462303636
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