Filmzeit, Lebenszeit (eBook)

Erinnerungen

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
672 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01417-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Filmzeit, Lebenszeit -  Edgar Reitz
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Edgar Reitz hat den deutschen Autorenfilm mitbegru?ndet, mit seiner « Heimat »-Trilogie Filmgeschichte geschrieben. So wie er dort eindrucksvoll das persönlich Erlebte mit den Zeitläufen verband, tut er es auch hier - in seiner Autobiographie. Reitz erzählt von seiner Kindheit in den dreißiger Jahren, einer Jugend im Krieg, der Nachkriegszeit, dem jungen Mann, den es in die Ferne zieht, seinen Studienjahren in Mu?nchen, wo sich ihm eine neue Welt der Kultur eröffnet, und schließlich von der Filmkunst: Mit den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests verbreitet er den Slogan « Papas Kino ist tot! », die Geburtsstunde des Neuen Deutschen Films; er begegnet Literaten wie Gu?nter Eich, internationalen Filmgrößen wie Romy Schneider, Bernardo Bertolucci oder Luis Buñuel, arbeitet mit Schauspielerinnen und Schauspielern wie Hannelore Elsner und Mario Adorf, Regisseuren wie Alexander Kluge und Werner Herzog. Reitz ist ein großer Chronist deutscher Sehnsucht und Geschichte, zugleich ein feinfu?hliger Erzähler, der uns von der Vorkriegszeit u?ber die Wiedervereinigung bis in die Gegenwart fu?hrt. Immer wieder kreist er um die Frage, was es bedeutet, eine Heimat zu haben und sich von ihr loszumachen, aufzubrechen oder zuru?ckzukehren - und trifft damit ins Herz unserer Zeit. Ein besonderes Dokument des Lebens wie eines ganzen Jahrhunderts, kraftvoll erzählt und beru?hrend, beeindruckend in seiner Farbigkeit.  Ein großes Erinnerungswerk und zugleich hochaktuell.

Edgar Reitz, geboren 1932 in Morbach im Hunsrück, ist einer der bedeutendsten deutschen Regisseure - und ein Gründervater des Autorenfilms. Weltweite Bekanntheit erlangte er mit seiner «Heimat»-Trilogie (1984 bis 2004), die zu den umfangreichsten erzählerischen Werken der Filmgeschichte zählt. Reitz wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit sechs Bundesfilmpreisen und dem Ehrenlöwen der Biennale di Venezia; 2006 erhielt er das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, 2020 den Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises. Edgar Reitz lebt in München.

Edgar Reitz, geboren 1932 in Morbach im Hunsrück, ist einer der bedeutendsten deutschen Regisseure – und ein Gründervater des Autorenfilms. Weltweite Bekanntheit erlangte er mit seiner «Heimat»-Trilogie (1984 bis 2004), die zu den umfangreichsten erzählerischen Werken der Filmgeschichte zählt. Reitz wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit sechs Bundesfilmpreisen und dem Ehrenlöwen der Biennale di Venezia; 2006 erhielt er das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, 2020 den Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises. Edgar Reitz lebt in München.

2 Die Dschungelprinzessin


Nach meiner Berechnung muss es im September 1935 gewesen sein, als meine Eltern in das neu erbaute Haus in der Morbacher Biergasse umzogen. Die adrette Fassade mit den beiden Schaufenstern, die den Ladeneingang einrahmten, und die freundlichen Fensterläden darüber waren vom Marktplatz aus gut zu sehen. Diese Lage im Zentrum des Zweitausendseelendorfes hat das Selbstbewusstsein meiner Eltern gestärkt. Meine Mutter startete ihr neues Leben als Geschäftsfrau mit sichtbarem Elan. Sie schmückte sich mit Goldschmuck und Edelsteinen und trat ihrer Kundschaft mit immer frischer Dauerwellenfrisur und einem verbindlichen Lächeln gegenüber. Ihre Ohrringe glitzerten beim Verkaufsgespräch, und ihre dunkelbraunen Locken umspielten den stolz gereckten Hals. Mit ihrem Mann, meinem Vater, war nicht viel Staat zu machen, er war scheu und krumm gewachsen, ein Motorradunfall in seinen Zwanzigern hatte seine Knochen in Mitleidenschaft gezogen. Aus der Sicht meiner Mutter war er erst in seiner Werkstatt eine wichtige Instanz der Familie, dort, wo er unsichtbar werkelte und dem Hause seine Bedeutung gab als Meister, Inhaber und Namensgeber. Draußen am Hausgiebel war ein schmiedeeisernes Werbeschild angebracht mit einer emaillierten Uhr, auf der stand ROBERT REITZ UHRMACHER. Die Mutter nannte ihren Mann immer nur «der Chef».

Auf den Fotos, die mit Fotoecken in das Album geklebt wurden, sieht man, wie stolz die Mutter auf ihre beiden Kinder war. Immer wieder ließ sie sich mit mir und meiner Schwester ablichten, und es gibt nur wenige Bilder, auf denen auch der Vater zu sehen ist, den sie offenbar nicht fotogen genug fand. So erkläre ich mir, dass es das offizielle, beim Fotografen hergestellte und eingerahmte Familienporträt, das meine Schwester als dreijähriges Mädchen und mich folglich als Fünfjährigen zeigt, in zwei Versionen gibt: einmal mit Vater und einmal ohne ihn. Meine Schwester ist mit weit geöffneten ängstlichen Augen zu sehen und mit einer riesigen Seidenschleife auf dem dürftig behaarten Kopf. Sie trägt ein rosa Kleidchen mit Stickereien, die unsere Mutter selbst angefertigt hat, was bei keiner Betrachtung des Bildes unkommentiert blieb. Unsere Mutter hatte das Handwerk einer Modistin gelernt; sie verstand es, Hüte anzufertigen, was sie ausgiebig praktizierte, denn es war eine ihrer Leidenschaften, Freundinnen, Tanten, Cousinen, natürlich sich selbst und uns Kinder schick einzukleiden und mit ihren Phantasiehüten zu krönen. Mit dieser Leidenschaft für Kleidung und Schmuck gab sie dem Uhrengeschäft den besonderen Akzent. Das Angebot an edlem, aber auch modischem Schmuck wurde liebevoll im Schaufenster ausgestellt, und ich erinnere mich genau daran, wie der Vater aus seiner düsteren Werkstatt gerufen wurde und Mutters Schaufensterdekoration ausgiebig bewundern musste.

Auch ich wurde von ihr eingekleidet. Sie schneiderte sogar meine Hosen und Jäckchen selbst und wollte schon bei ihrem fünfjährigen Sohn, dass er eine Krawatte trägt, «wie ein Herr», so nannte sie das. Auf vielen Fotos sieht man das fesch geknotete Schleifchen unter meinem Kinn, für das ich mich zu Tode schämte, wenn ich damit auf die Straße gehen musste. Als Vorzeigekinder bekamen wir auch früh Fahrräder. Das kleine blaue Rad meiner Schwester habe ich zum Lernen benutzt, weil meines schon ein richtiges Herrenrad mit Stange war und deswegen noch zu hoch für meine kurzen Beine. Bald aber machte ich meine ersten Erkundungsfahrten; mittels einer fast akrobatischen Verrenkung streckte ich mein rechtes Bein unter der zu hohen Stange durch und erreichte mit dem Fuß das Pedal der anderen Seite. Beim Losfahren geriet das Rad in Schräglage, und ich musste das Gewicht verlagern. Ich genoss es, außer Sichtweite des Elternhauses zu gelangen und von der Ferne zu träumen, die hinter dem Hügel lag.

Es gab in dieser Zeit, es muss wohl schon 1937 gewesen sein, eine gewaltige Straßenbaustelle, an der Tausende von Arbeitern mit sensationellen Baumaschinen arbeiteten, die einen ungeheuren Lärm erzeugten. Meine Erinnerungen an den Bau der sogenannten Hunsrückhöhenstraße habe ich später als Regisseur ausgiebig in der Trilogie HEIMAT verarbeitet. Allerdings überschreitet ein Film die Erinnerungen eines Fünfjährigen in zahllosen Einzelheiten und Figuren. Natürlich verstand ich noch nicht, dass dieser Straßenbau Bestandteil von Hitlers Kriegsvorbereitungen war. Ich vermute, dass nicht einmal die Eltern verstanden, welche politische Dynamik sich hinter dem Maschinenlärm jenes Jahres verbarg. Aber das Gehirn eines Fünfjährigen vermag erstaunlich genaue Stimmungsbilder aufzubewahren. Ein Detail ist in meiner Erinnerung ganz deutlich geblieben. Das ist eine Maschine, die wir Kinder «Frosch» nannten, denn der schwere Apparat hüpfte auf Knopfdruck mit einem zischenden Knall wie ein Frosch empor und fiel krachend zurück auf den Boden. Man brauchte diese Geräte, um den Unterboden der neuen Straße zu verdichten. Wir Kinder machten ein «Frosch-Spiel» daraus: Einer ergreift die nach hinten gestreckten Hände des anderen und gibt mit Fingerdruck den Sprungbefehl. Sofort muss der «Frosch» seinen stampfenden Sprung vollführen. Das sieht lustig aus, und jeder will einmal der Froschführer sein.

Die Eltern erlebten diese Zeit als Geldregen. Die vielen uniformierten Straßenarbeiter, die im Dorf und den Nachbarorten untergebracht waren, erschienen scharenweise in Mutters Laden; die machte ihnen schöne Augen und animierte sie zum Kauf von Uhren und Schmuck für ihre fernen Familien. Abends wurden, wie es auch in HEIMAT vorkommt, die Tageseinnahmen auf der Bettdecke gezählt. Was sich in meiner Erinnerung festsetzte, das war die leise Stimme des Vaters, der das Geld in Zehnerschritten zählt.

Es war also klar, dass diese stolzen Geschäftsleute ein Auto kaufen mussten. Ein Auto, das war zu dieser Zeit noch ein seltenes Symbol für Wohlstand und Modernität. Die Wahl fiel auf einen kutschenförmigen Opel mit einem auf den Kotflügel aufgeschraubten Reserverad. Wieder gab es Anlässe, die Kinder zu fotografieren, jetzt rund um den schwarzen Opel P4, auf dessen Trittbrett ich positioniert wurde, mal im Sonntagsanzug, mal mit Papierhut, den die Mutter gefaltet hatte. Ganze Fotoserien zeigen das neue Auto beim Familienpicknick in der Landschaft, an der nahen Burgruine Baldenau oder bei den Großeltern im Nachbardorf Hundheim, aus dem beide Eltern stammten. Da war das Haus der Vater-Familie mit Stall, Scheune und gegenüberliegender Schmiede im Unterdorf, und da war das kleine Haus der Mutter-Familie, an der Straße gelegen, die zum Dorf hinausführte, armselig, aber kuschelig. Mit dem Auto wurden die Besuche bei den Großeltern und anderen Verwandten zur geliebten Gewohnheit am Sonntag. Immer mussten meine Schwester und ich fein eingekleidet werden, damit wir auch zum frisch polierten Auto passten. Immer waren die Begrüßungen laut und bei der Ankunft von einem Hupkonzert begleitet.

Es war wohl eine Folge dieser Besuchsausflüge, dass die Eltern eines Tages mit uns eine Reise über eine Distanz von dreihundert Kilometern planten. Ziel war die Stadt Bochum, wo Verwandte unseres Vaters lebten, mit denen die Familie sich seit Jahren eng verbunden fühlte. Vaters Cousin Hans war in seiner Jugend zu Fuß aus dem armen Hunsrückdorf weggegangen, um sein Geld als Bergmann im Ruhrpott zu verdienen. Hans hatte eine Schwester, die ihm einige Jahre später gefolgt war und den Kumpel von Hans, einen gewissen Nalenz, geheiratet hatte. Sie hatte zwei Töchter, die Lotti und die Ursel, die jedes Jahr ihre Sommerferien bei uns im Hunsrück verbrachten. Diese beiden Bochumer Mädchen waren etwas älter als ich. Als Feriengäste waren sie meinen Eltern sehr willkommen, weil sie auf uns Kleinere aufpassten.

Also: Die Reise ging zu Onkel Hans, seiner Frau Mia und zur Familie der Mädchen. Von Hans und Mia wurde gesagt, dass sie in der Bochumer Kohlenstraße eine «Halle» besäßen, was uns allen großen Respekt einflößte. Während der Autofahrt kreisten die Gespräche immer wieder um dieses besondere Gebäude, das Halle hieß. So höre ich noch heute, nach über achtzig Jahren, das Wort «Halle» aus Tante Mias Mund mit dem lustig sprudelnden Doppel-L in der Mitte. «Um fünf Uhr müssen wir die Halle aufmachen» oder «Lissy ist in der Halle geblieben». Lissy, das war die ältliche, strohblonde Tochter von Hans und Mia.

Ich war noch niemals in meinem kleinen Leben weiter als zu Oma und Opa gekommen. Jetzt sollte ich zum ersten Mal eine große Stadt sehen. Was ist eine Großstadt? Als wir in Bochum ankamen, war ich im Auto eingeschlafen. Deswegen fehlen in meiner Erinnerung die ersten Stadtbilder komplett. Es muss wohl auch schon dunkel gewesen sein, ich habe nur noch ein Gefühl der Fremdheit in Erinnerung und den Geruch von dem fremden, feuchten Bett. Von einer «Halle» war nicht die Rede.

Die nächste Erinnerung, die ich an Bochum habe, ist ein Geräusch. Ich hörte im Schlaf das Getrappel von Hunderten von genagelten Schuhen unter dem Schlafzimmerfenster. Davon wachte ich auf. Das Geräusch füllte den ganzen Raum, und ich hatte das Gefühl, dass alles in Erschütterung geriet. Die Wohnung, in der ich schlief, lag im Erdgeschoss. Ich muss wohl in Panik geraten sein und konnte mich nicht orientieren. Ich fand schließlich die Zimmertür und stieß sie, laut nach Mutti rufend, auf. Da kam mir Lissy entgegen. Sie führte mich ans Fenster und ließ mich den Grund meiner Panik sehen. Eine endlose Kolonne stumm dahineilender Männer zog in der Dunkelheit auf dem Trottoir vorüber. Die vielen genagelten Schuhsohlen erzeugten das Geräusch und die...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2022
Zusatzinfo Zahlr. 4-farb. u. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 1945 • 20. Jahrhundert • Alexander Kluge • Alfred Edel • Angela Winkler • Anna Thalbach • Autobiographie • Autorenfilm • Bernado Bertolucci • Bernd Eichinger • Chronik • Deutsche Geschichte • Deutscher Herbst • Deutsche Seele • Drittes Reich • Elke Sommer • Erinnerungen • Filmemachen • Filmgeschichte • Filmregie • Hannelore Elsner • Hannelore Hoger • Heimat • Heinz Schubert • Herkunft • Kino • Mario Adorf • Mauerfall • Memoiren • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Neuer deutscher Film • RAF • Rainer Werner Fassbinder • Regie • Regie führen • Regisseure • Romy Schneider • Stanley Kubrick • Studentenbewegung • Volker Schlöndorff • Werner Herzog • Wiedervereinigung • Wim Wenders
ISBN-10 3-644-01417-5 / 3644014175
ISBN-13 978-3-644-01417-6 / 9783644014176
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