Chamäleon (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
286 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-2056-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Chamäleon -  Annabel Wahba
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Annabel Wahba sitzt am Bett ihres schwer kranken Bruders André. Von einem Bild schaut der Totengott Anubis auf ihn herab. Sie erinnert sich an die gemeinsame Kindheit in der Kleinstadt, in der ihre deutsch-ägyptische Herkunft etwas Exotisches war. In Andrés letzten Stunden unternimmt die Erzählerin eine Reise in ihre Familiengeschichte.

Zu den Vorfahren im München des Zweiten Weltkriegs. Ins New York der Fünfzigerjahre, wo ihre Mutter einst arbeitete. Ins Nildelta, wo ihr Vater aufwuchs und die Eltern noch die Ehepartner für die Kinder aussuchten.

Sie kann ihren Bruder nicht festhalten, dafür aber, was sie beide und ihre Eltern vor ihnen erlebt haben als ägyptisch-deutsche Chamäleons.

Buchpremiere: Am 1. September 2022 im Pfefferberg-Theater, Berlin



Annabel Wahba, Jahrgang 1972, studierte in München Politikwissenschaften und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Seit 2007 ist sie Redakteurin im ZEITmagazin. 2018 wurde sie mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet, 2019 zur Reporterin des Jahres gewählt. Neben ihrer Arbeit hat Annabel Wahba Drehbücher geschrieben, darunter 2015 die von eigenen Erlebnissen inspirierte ARD-Fernsehkomödie Herbe Mischung über eine Deutsch-Araberin in Israel.

Annabel Wahba, Jahrgang 1972, studierte in München Politikwissenschaften und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Seit 2007 ist sie Redakteurin im ZEITmagazin. 2018 wurde sie mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet, 2019 zur Reporterin des Jahres gewählt. Neben ihrer Arbeit hat Annabel Wahba Drehbücher geschrieben, darunter 2015 die von eigenen Erlebnissen inspirierte ARD-Fernsehkomödie Herbe Mischung über eine Deutsch-Araberin in Israel.

Erding. Februar 2019


Draußen vor deinem Schlafzimmerfenster ist alles weiß. In den letzten Tagen ist so viel Schnee gefallen wie seit Jahren nicht mehr, die Zweige tragen einen dicken Pelz und biegen sich unter der Last. Der Schnee schluckt alle Geräusche. Die Welt steht still.

Drinnen liegst du in deinem Bett, die Augen geschlossen, noch atmest du leise. Wenn ich dich so ansehe, bin ich überrascht, wie schmal du geworden bist, wie spitz deine Nase ist, zumindest verdeckt dein schwarzer Bart die eingefallenen Wangen etwas. Von einem großen Bild an der Wand gegenüber schaut der ägyptische Totengott Anubis auf dich herab. Schon beim Hereinkommen spürte ich den Sog, der von dem Gemälde ausgeht: Der Gott mit dem Schakalkopf geleitet einen verstorbenen Pharao im Sarkophag ins Totenreich, von oben leuchtet der Vollmond auf sie herab. Anubis hat diesen Raum in seinen Bann gezogen.

Ich habe dich nie gefragt, warum du ihn dir ins Schlafzimmer gehängt hast, vielleicht hast du eine Vorahnung gehabt. Ich kann mir im Moment jedenfalls kein besseres Bild vorstellen, keines, unter dem man friedlicher ins Jenseits hinübergleitet. Vielleicht hat dich das Bild aber auch einfach an unsere ägyptische Herkunft erinnert. An das Land unseres Vaters. Du bist der Einzige von uns vier Geschwistern, der dort geboren wurde, und ich habe mich oft gefragt, warum du nie mehr dort gewesen bist, seit unsere Familie das Land wieder verlassen hat, als du noch ein Kind warst. Jetzt schließt sich der Kreis. Während du im Sterben liegst, wacht ein ägyptischer Gott über dich. Anubis beruhigt uns, fast habe ich das Gefühl, wir sind hier nicht allein.

Ich bin zum dritten Mal in diesem Monat hierhergekommen und weiß, es wird das letzte Mal sein, dass ich dich lebend sehe. Du hast nur noch wenige Tage. Vielleicht auch nur Stunden.

Als ich vorhin ins Zimmer kam und du noch einmal die Augen aufgemacht hast, versagte mir fast die Stimme, obwohl ich mir vorgenommen hatte, stark zu sein. Mehr als »Ich bin so froh, dass ich da bin« brachte ich nicht raus. Als du leise sagtest »Ich auch«, klang das in meinen Ohren wie eine Liebeserklärung. Wir hängen jetzt alle an deinen Lippen, jedes Wort, das du sprichst, könnte das letzte sein.

Seit du kurz nach Weihnachten so krank geworden bist, wechseln wir Geschwister uns mit den Besuchen bei dir ab. Kommen aus entfernten Städten und Ländern an unseren Heimatort gereist, wo du noch immer wohnst, nah bei den Eltern. Adam kommt aus Norwegen, Anouk aus der Schweiz, ich aus Berlin. Manchmal denke ich, dass unsere Eltern uns schon mit den Vornamen das Fernweh mit auf den Weg gegeben haben. Sie wählten Namen, die man in möglichst vielen Sprachen leicht aussprechen kann und weder deutsch noch ägyptisch sind: Adam, dann Anouk und André – französische Namen klingen ja überall gut –, schließlich Annabel. Das mit dem A am Anfang war ein Spleen, für den unsere Eltern heute keine vernünftige Erklärung mehr haben.

Aber gerade dich, der so weit entfernt geboren wurde, zog es nie fort. Du hast dich zu Hause immer am wohlsten gefühlt, in diesem Eck von Bayern, aus dem die Vorfahren unserer Mutter stammen.

Ist es nicht kurios, dass es unsere deutsch-ägyptische Familie hierher verschlagen hat? Viele Orte in der Welt wären als Familiensitz infrage gekommen, aber unsere Eltern siedelten sich ausgerechnet in dieser Kleinstadt an, in der man die Alpen am Horizont leuchten sieht. Als befände sich hier ein Kraftfeld, von dem sie angezogen wurden.

Ich weiß nicht, wie viel du noch mitbekommst von uns, von unseren Eltern, die jeden Tag an deinem Bett sitzen, stundenlang. Meist stumm, sie sehen dich einfach an, manchmal halten sie deine Hand. Nachts schläft deine Frau neben dir im Ehebett. Ich bewundere Sarah dafür, wie sie dich pflegt. Sie gibt dir die Medikamente, notiert deine Blutdruckwerte. Manchmal kommt auch dein kleiner Sohn herein, aber man spürt, dass es ihm unheimlich ist, dich so liegen zu sehen. Ich wünschte mir, er müsste nicht schon mit acht Jahren seinen Vater verlieren, ich hatte gehofft, du hieltest zumindest durch, bis er erwachsen ist.

Als du an Weihnachten plötzlich so schwach warst, ahnten wir schon, dass der Krebs zurückgekommen war, aber keiner sprach es aus. Du schliefst stundenlang auf der Couch, unter der Replik von Raffaels Madonna Tempi, während wir anderen um dich herum aßen, mit den Kindern spielten, Geschenke auspackten. Obwohl du mir schon nach der Diagnose vor drei Jahren offenbartest, dass du eine der aggressivsten Krebsarten hast, eine, die nur wenige Menschen überleben, war ich mir doch immer sicher, dass du noch ein oder zwei Jahrzehnte bei uns bleiben würdest. »André hat sich mal wieder etwas ganz Besonderes ausgesucht«, sagte Mama damals zu mir, um ihre Verzweiflung mit etwas Humor zu überspielen. Du hast dir immer die teuersten Kameras, die neuesten Handys, die schnellsten Autos gekauft. Und nun hast du also den schlimmsten Krebs. Zwei Tumore kamen und gingen. Diesen dritten wirst du nicht überleben.

Zu verdrängen, was nicht sein soll, war in den letzten drei Jahren eine gute Taktik für mich. Wir beide waren schon immer die größten Optimisten, wahrscheinlich haben wir das von Papa. »Hoffen wir’s Beste« ist einer seiner Lieblingssätze. Wir finden uns erst dann mit etwas ab, wenn es garantiert keinen Ausweg mehr gibt. Nun ist es so weit. Gestern konntest du noch aus dem Glas trinken, jetzt träufeln wir dir mit einer Pipette Saft in den Mund, wie einem Vögelchen. Als du vor zehn Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause kamst, dachte ich, es gehe vielleicht noch ein paar Wochen oder sogar Monate gut. Jetzt isst du nichts mehr, öffnest kaum noch deine Augen. Nur Papa hofft noch, Gott werde an dir ein Wunder vollbringen.

Wir sind froh, dass deine Sterbebegleiterin jeden Tag kommt. Ruth sagt, dass du gut vorbereitet bist. Vor ein paar Tagen hat sie dich nach deinen Träumen gefragt. »Du willst mich wohl aushorchen«, sagtest du zu ihr. Sentimentalitäten sind dir zuwider. Dann erzähltest du ihr aber doch, dass du von einem hohen, hellen Raum mit großen Rundbogenfenstern geträumt hast. Auf den Tischen lagen medizinische Instrumente, fein säuberlich aufgereiht. Alles in bester Ordnung.

Heute Morgen hat Anouk Mangosaft in einer Eiswürfelbox gefroren und Zahnstocher hineingesteckt. Damit befeuchten wir deine Lippen und hoffen, dir die letzten Stunden etwas erträglicher zu machen. Als du vorhin an einem Mangowürfel ein wenig geleckt hast, hätte ich ihn mir danach am liebsten selbst in den Mund gesteckt und zu Ende gelutscht. Als letzten gemeinsamen Akt.

In Ägypten werden Mangos im Oktober reif, in deinem Geburtsmonat. Weißt du noch, wie wir alle immer darauf aus waren, hier eine Mango zu bekommen, die so gut schmeckt wie in Ägypten? Sie darf nicht hart sein, aber auch nicht zu weich. Innen schön gelb, aber nicht faserig. Das war unser Ding, die Suche nach der perfekten Mango.

Ich lege mich zu dir ins Bett und schiebe meine Hand unter deine. Ich hoffe, das stört dich nicht. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal deine Hand gehalten? Wahrscheinlich, als wir Kinder waren. Wir haben uns auch nie viel umarmt. Trotzdem fühlte ich mich dir immer sehr nah, so unterschiedlich wir auch sind.

Während du gern zu Hause bist, wollte ich hinaus in die Welt. Ich liebe Bücher, du liest vielleicht eins im Jahr. Du bist Mitglied in der CSU, ich habe diese Partei noch nie gewählt. Trotzdem sind wir in vielen Dingen einer Meinung. Wie wenig die politische Einstellung doch zählt, wenn die Grundhaltung zum Leben dieselbe ist.

Jetzt, da du im Sterben liegst, will ich so viel Zeit wie möglich in deiner Nähe verbringen. Am liebsten würde ich dich umarmen und nicht mehr loslassen. Aber wir sollen dich nicht zurückhalten, hat Ruth gesagt. Sterben ist Arbeit, und diese Arbeit müssen wir dich jetzt machen lassen. Sterbende Menschen suchen sich einen unbeobachteten Moment, um zu gehen, einen, in dem sie allein sind. Tiere machen das ähnlich, sie verstecken sich draußen in der Natur, wenn sie merken, dass ihr Ende kommt.

Ich denke in den letzten Tagen auch an verpasste Chancen. Du wolltest noch einmal an deinen Geburtsort zurückkehren. Letztes Jahr schlugst du vor, wir sollten alle zusammen an Ostern nach Kairo fliegen, aber wir anderen sorgten uns mehr um die schwierige politische Situation dort, anstatt darum, dass es für dich bald zu spät sein könnte. Am Ende blieben wir zu Hause. Ich wünschte, wir wären geflogen. Ich hätte dich auf deiner Reise in die Vergangenheit so gern begleitet.

Jetzt können wir nur noch im Geiste gemeinsam reisen, während Anubis über dich wacht.

Seit unsere Eltern 1968 mit euch drei älteren Geschwistern aus Ägypten nach Deutschland zurückgekehrt waren, mit nicht viel mehr als den Kleidern am Leib, ging es immer bergauf für uns. Erst als du vor drei Jahren so schwer an Krebs erkrankt bist, wurde plötzlich alles anders. Für mich war der Zeitpunkt gekommen, zurückzublicken. Hast du dich auch manchmal gefragt, wie es kam, dass unsere deutsche Mutter sich Anfang der 1960er-Jahre ausgerechnet in einen Ägypter verliebte? Das Ende der Nazidiktatur mit ihrem Rassenwahn lag gerade mal fünfzehn Jahre zurück. Und warum akzeptierte ihre tiefgläubige katholische Mutter diesen Studenten aus Nordafrika ohne Vorbehalte als Schwiegersohn?

Aber wahrscheinlich war unser Vater derjenige, der damals den größeren Schritt ins Ungewisse tat. Er wuchs in einer Kleinstadt im Nildelta auf, wo seine Mutter noch selbst das Fladenbrot buk und die Hühner schlachtete, und wo die Eltern die Ehepartner der Kinder aussuchten. Für ihn war eigentlich seine Cousine Yvonne...

Erscheint lt. Verlag 26.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ägypten • Alpen • Bayern • Erding • Familie • Familiengeschichte • Gegenwartsliteratur • Generationen • Heimat • Israel • Kairo • Migration • München • New York • Nil • Trauer • USA
ISBN-10 3-7517-2056-1 / 3751720561
ISBN-13 978-3-7517-2056-4 / 9783751720564
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