Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer? (eBook)
448 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-29856-2 (ISBN)
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.
Vor dem Stierkampf
Das ganze Leben lang, vor der Krankheit und während der Krankheit, erzählte uns meine Mutter wieder und wieder
– Hört mal zu
dass meine Großmutter, als sie klein war, meine Urgroßmutter auf ihren Besuchen bei den Damen begleitete, die in alten Häusern und Wohnungen im alten Teil Lissabons wohnten, Zimmer und Flure in ewigem Halbdunkel, in dem die Silber- und Porzellangegenstände sie verfolgten, und meine zehn Jahre alte Großmutter dachte
– Wie traurig dieses Haus um drei Uhr nachmittags sein muss
denn im Winter regnete es in den Zimmern, in den Fluren und auch in den Abseiten voller Pantoffeln und Besen, nicht draußen, und es war auch kein Regen, sondern ein Überraschtsein in den Dingen, denen wir leidtaten, meine Urgroßmutter und die Damen bewegten wortlos den Mund, und dennoch sprachen sie, denn da war ein Spuckeglitzern, ein Zahn, ein Lächeln vor dem Zahn, wenn ein bislang unsichtbares Foto aus dem Dunkeln hervortrat oder ein von den Geheimnissen der Zeit fleckiger Spiegel die Fotos aus einem anderen Winkel verdoppelte, der verstörte, denn obwohl sie es waren, waren sie es nicht, Geschöpfe, die den Toten in den Träumen glichen und sich von der Höhe der Zelluloidkragen und getupften Plastrons herab an die Lebenden wandten, man verstand
– Ich bin es
aber wem gehört das Ich, das
– Ich bin es
flüsterte, und wer sind wir ohne Mund und Augen, ohne fleischliche Substanz, wie meine Mutter heute, die kein Haus um drei Uhr nachmittags traurig findet und auch die Fotos nicht bemerkt
– Ich bin es
überzeugt davon, dass meine Mutter ihnen half, indem sie an sie glaubte, sie beruhigte
– Ihr seid es
und schalem Parfüm und Spitzenflattern Leben einhauchte, meine Mutter, die nicht einmal mehr einen Satz zustande bringt, Silben, bei denen die Hand über die Brust wandert, bis sie diese ganz bedeckt, sie erinnert sich nicht an die Flure, auf denen es im Winter regnete, oder an das Überraschtsein der Dinge, so wie sie sich auch nicht an die Pferde erinnern wird, an die Stiere und die Ferien auf dem Landgut, an meinen Vater, der auf dem Gatter saß und die Dreijährigen auswählte, wobei ihm der Hut die Stimme verdüsterte, er setzte sich an den Tisch, und die Gabel verschwand unter der Krempe und kam unter ihr hervor, wie viele Jahre sind Sie schon tot, seit wie vielen Jahren fragen Sie
– Wer bin ich?
oder besser gesagt, fragen Sie nichts, Sie haben nie etwas gefragt, haben meiner Mutter nicht geantwortet, waren zu den Feldern dort draußen und zu den Füßen der Tiere gewandt, die, obwohl sie weit weg waren, über den Fußboden trabten, wir sahen ihn auf dem Landgut, denn er kam nicht nach Lissabon, hatte vergessen, dass es Lissabon gab, und daher war er den Toten in den Träumen gegenüber taub, und jetzt, wo er tot war, schwieg er, sein Hut an der Garderobe verdüsterte nichts mehr, und dennoch wurde er immer größer, meine Mutter empfing den Maioral, den Chef der Stierhirten, außerstande, was auch immer hinsichtlich der Weiden und des Viehs zu entscheiden, beschränkte sich auf Silben, die ein Spuckeglitzern oder ein Zahn interpunktierten, wenn ich sie fragte
– Mein Vater?
ein mühsames, von einer Kontraktion der Schulter begleitetes Grummeln, ein Teil von ihr versuchte sich auszudrücken und konnte sich nicht ausdrücken, die winzige Hand auf der Brust, und adieu, die Krankenschwester legte ihr Windeln an, reinigte den im Rachen steckenden Tubus, wechselte ihre Position im Bett, und da richtete sich meine Mutter zum Vorhang auf
– Du
unerwartet zornig, was hat Ihnen der Vorhang getan, Mutter, ich drückte sie hinunter in die Betttücher
– Senhora
während ihre Finger mit einem letzten
– Du
meinen Arm verletzten, das aufhörte
– Du
zu sein, um zum Galopp der Pferde zu werden, die dort hinten aus den Reitställen mit den Angestellten kamen, die Befehle über die Mauer riefen, an der im März die Rosenstöcke blühten, meine krebskranke Schwester Rita
– Was ist mit den Rosen los Schwesterherz?
erbittert, weil die Welt ohne sie weiterbestand, der Eindruck, dass meine Mutter
– Wie traurig dieses Haus um drei Uhr nachmittags sein muss
doch das stimmte nicht, meine Mutter starrte, so mager, nunmehr ganz ohne Zorn den Vorhang an, hörte auf, ihn anzustarren, schaute mich an, ohne mich zu sehen
– Was sahen Sie?
sie sah meinen Vater die Tiere für den Stierkampf auswählen
– Sahen Sie meinen Vater die Tiere für den Stierkampf auswählen Senhora?
und meine Mutter verscheuchte außerhalb des Gatters die Hitze und den Gestank der Tiere mit dem Fächer, den Kamm im Haar
(ich habe ihn vor ein paar Tagen gefunden, zerbrochen, als ich die Perlenketten im Tresor des Schlafzimmers durchstöberte)
prachtvoll mit ihren Mantillen, aber heute keine einzige Mantille, zwei Eheringe, ihren und den meines Vaters, nicht am Ringfinger, sondern am Mittelfinger, damit sie nicht rutschten, was sie dennoch taten, ich fand die Eheringe auf dem Kopfkissenbezug, also verwahrte ich sie am Ende in Begleitung des Kammes, ein an eine Steineiche gelehnter Stier schaute uns wachsam an, Sabber tropfte aus seiner Nase, er setzte sich wieder in Bewegung, und ich hatte Angst, der Schatten des Hutes von meinem Vater sprach mit den Angestellten, und einer trabte hin und vertrieb den Stier, meine Mutter
– Du
ganz leise, verscheuchte das
– Du
mit dem Fächer, und wer garantiert mir, dass der Vorhang nicht der Mann war, was hat Ihnen der Angestellte getan, Mutter, Pferde und noch mehr Pferde zwischen den Rosenstöcken, jedes Haus ist um drei Uhr nachmittags traurig, wegen dieser inneren Nacht, die auf die Tagesmitte folgt und lange nicht vergeht, die Silber- und Porzellangegenstände tief in unserem Inneren und die Erinnerung an ein Paar Handschuhe auf dem Boden, aber wem sie gehörten, wissen wir nicht mehr, wie eigenartig es ist, zu leben, wie macht man das, wo fängt man an, bei welchem Kapitel, ich hatte zwei Ehemänner und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, oder besser gesagt, ich weiß es wohl, werde mich aber nicht mit ihnen beschäftigen, es ist aus, zumindest einen von ihnen gibt es noch irgendwo, und mir fällt nicht einmal sein Name ein, Jaime oder Ricardo, ich glaube, Jaime, nein, Ricardo, ich weiß den Namen meiner Mutter, meiner Geschwister, den meines Vaters, und das reicht, zwingt mich nicht, an etwas festzuhalten, was ich nicht will, ich hatte zwei Ehemänner, und keinen rufe ich
– Du
auch wenn es Augenblicke gibt, ich kenne mich, in denen ich, während ich den Teller in die Maschine stelle, denke, dass ich, denke, dass ich gern Gesellschaft hätte, will heißen, der Teller hätte gern Gesellschaft, was man an seiner Art zu tropfen sieht, ich brauche keine, Pferde und noch mehr Pferde zwischen den Rosenstöcken, wenn ich an den Strand mitgenommen wurde, stellte ich sie mir am Rand der Wellen vor, wie sie ihren Schatten aufs Meer warfen, da war der Schatten, dichter als der Seetang, keine Schiffe, keine Felsen, keine Vögel, Pferde, das Pferd meines von seiner Hutkrempe verborgenen Vaters und dahinter ich auf der Kruppe, wo ich mich an seiner Jacke festhielt, mir nicht sicher war, ob mein Vater Pferd oder Mensch war, mir nicht sicher war, wessen Tochter ich war, die Angestellten
– Ihre Tochter Senhor
und daher gehöre ich zu meinem Vater, denn die Angestellten irrten sich bei den Dreijährigen nicht, sie rezitierten die Familien aus dem Kopf, die Abstammung, die Verbindungen, was wird mit dem Haus in Lissabon und mit dem Haus auf dem Landgut geschehen, wenn meine Mutter stirbt, ihr Haar ist übrigens schon halb verstorben, ich hätte beinahe staubig gesagt, tue es aber nicht, ich hätte fast gesagt, nicht aus dem Inneren der Haut gewachsen, daraufgeklebt, aber ich tue es nicht, ich sage nicht, die Augen fast blind, wozu, ich sage, dass die Rosen von ganz allein blühten, Gegenstände, die zu Dingen werden, sie, die einstweilen noch brodeln, atmen, aber ich vergesse euch nicht, keine Sorge, die Muschel mit den Initialen meiner Mutter im Kreis aus Perlmutt auf dem Deckel des Kästchens, und eine Münze darin rutschte hin und her, wenn mein Vater mit meiner Mutter stritt, nahm er die Muschel von der Kommode, schüttelte sie, und die Münze sang, er stellte die Muschel nie an ihren Platz zurück, und sosehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht, den richtigen Platz genau zu treffen, zu weit nach links, zu weit nach rechts, er drehte sie im Uhrzeigersinn, in die Gegenrichtung, ein oder zwei Grad, aber nie stimmte es, er trat zurück, um das Ergebnis zu überprüfen
(die Zunge des Stiers kam aus der Schnauze und verschwand wieder, was bedeutete die Zunge, was bedeutet ein Steineichenzweig, der ohne Wind erzittert?)
und nicht an der Stelle, nicht so, wegen der Muschel erschien mir alles in Unordnung geraten zu sein und ich ebenfalls in Unordnung, ich hörte die Schritte meines Vaters im Esszimmer und hasste ihn, weil er die Vergangenheit durcheinanderbrachte, auf dem Boden blaue Handschuhe mit einem Knopf, und ich komme nicht darauf, wem sie gehörten, der Wunsch, meinem Vater zu befehlen
– Stellen Sie die Muschel ordentlich auf ihren Platz und zwar schnell
damit die Erde in Ordnung ist, wer ordnet das Universum, wenn es mich nicht gibt, schau, der Stier von der Steineiche ist vom Häkeldeckchen heruntergekommen, verfolgt mich, stünde die Muschel an ihrem Platz, würde der Stier ruhig dastehen, der Schatten der Pferde kann sich gern bewegen, mir ist das gleich, der Stier allerdings, der sollte ruhig auf der Kommode stehen, ich bitte um so wenig,...
Erscheint lt. Verlag | 2.5.2022 |
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Übersetzer | Maralde Meyer-Minnemann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Welche Pferde sind das, die da werden ihren Schatten aufs Meer? |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Alentejo • Algarve • Casino • eBooks • Familiengeschichte • Melancholie • Neuerscheinung • polyphone Stimmenführung • Portugal • Roman • Romane • Ruin • Sehnsucht • Sprachgewalt • Stierkampf • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-641-29856-3 / 3641298563 |
ISBN-13 | 978-3-641-29856-2 / 9783641298562 |
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