Schönheit, Kraft und Jugend (eBook)

Bilder des Männlichen im Kontext der Lebensreformbewegungen (1890-1930)
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2022 | 1. Auflage
286 Seiten
Tectum-Wissenschaftsverlag
978-3-8288-7815-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schönheit, Kraft und Jugend -  Claudia Parhammer
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Die Intention der Lebensreformbewegungen war es, das Bild vom Körper - respektive das Aktbild - von sittlichen und moralischen Fesseln zu befreien. Doch inwiefern wurde dieser Anspruch auch bei männlichen Bildprotagonisten umgesetzt? Tatsächlich erweist sich, dass besonders bei diesen eine facettenreiche und ambivalente Bildsprache entstand. Einerseits wurden neue und avantgardistische Darstellungsmodi eröffnet, andererseits prägen Stereotype und Restriktionen die Bildwelt. Diese Studie analysiert die besondere Entwicklung solcher Ikonografien und untersucht deren Funktion sowie Rezeption. Dabei wirft sie ein neues Licht auf die Wechselbeziehung zwischen der künstlerischen Entwicklung des Männerbildes und der lebensreformerisch geprägten Körperkultur.

2. Vorüberlegungen zum lebensreformerischen Begriff der Natur

Das wichtigste Leitprinzip der Lebensreformen war es, sich wieder in Einklang mit der Natur zu bringen. Die Fragen, was dies bedeutet und wie die Natur auf den Menschen und sein quasi natürlichstes Element, den Körper, bezogen wird, wie der überaus weit interpretierbare Begriff der Natur verstanden und eingegrenzt wurde, ist vorab in Grundzügen zu klären. Ohne allzu viel vorweg zu nehmen, sollen hier nun grundlegende Parameter vorgestellt werden, anhand derer der Naturbegriff der Lebensreformer als strukturelle Konstante sichtbar und damit für die Analyse nutzbar gemacht wird.

2.1 Natur als vitalistischer Topos

Zunächst fand die Auseinandersetzung mit der Natur auf einer somatischen und pragmatischen Ebene statt. Sich in Einklang mit der Natur zu bringen bedeutete, sich körperlich, geistig und seelisch mit den Elementen auseinanderzusetzen und sich deren Wirkungskräfte als heilende Instanzen zunutze zu machen. In diesem Ansatz erkennt man die Vorläufer der Lebensreform, die Naturheilkunde und insbesondere die Hydrotherapie, die Eingang in breitere Gesellschaftsschichten gefunden hatten. Um der weit verbreiteten, sogenannten Neurasthenie zu begegnen, empfahl sich die Badekur, bei der mithilfe körperlicher Stimulation eine allgemeine Stärkung und die Heilung von der physischen, psychischen und geistigen Erschöpfung erwartet wurde.51

Die Natur und ihre Elemente galten den Lebensreformern gleichsam als Sitz des Lebens, das seine vitale Kraft im menschlichen Körper entfalte. Diese Aspekte der Lebensreform beispielsweise über vegetabile Ernährung, Wassertherapie sowie Licht- und Luftbäder anzuwenden, hieß, aus der als Quelle des Lebens verstandenen Natur zu schöpfen.52 Auf ihren heilsamen und stärkenden Aspekt wird insbesondere in Publikationen der Nacktkultur in Form von Texten und Bildern angespielt. Einer der frühesten und populärsten Vertreter der Nacktkultur war der Künstler Fidus53, der mit seinen diversen Ausgestaltungen von Sonnenanbetern eine der zentralen Bildformeln kreierte.54 Hier sei exemplarisch auf eine seiner Grafiken, den Sonnenjüngling von 1905, verwiesen, deren bildliche Aussagekraft mit dem auffordernden Titel Bade in Licht, Luft und Sonne plakativ zugespitzt wurde (Abb. 1). Die für die Nacktkultur werbende Botschaft erfuhr eine künstlerische Transformation in der Figur des Sonnenjünglings, der nicht nur im Œuvre Fidus’ eine zentrale Stellung einnahm, sondern auch als vorbildhaft für die sich im Umfeld der Nacktkultur etablierende Aktfotografie gelten kann. Die aus dem gleichen Entstehungsjahr (1905) stammende Aktfotografie (Abb. 2) bildet in nahezu identischer Pose das Motiv des Menschen ab, der seinen nackten Leib in freier Natur an Licht und Luft stärkt. Die Pose des angewinkelten Armes unterstreicht das Moment des kraftvollen und vitalen Auftritts des Bildprotagonisten. Fotografien wie diese finden sich in stilistischer Varianz in großer Vielzahl in Publikationen der verschiedenen Lebensreformorgane und visualisieren unter ästhetischen Prämissen die zentralen Anliegen der Reformen. Ebenso bereicherte dieses Bildsujet die klassischen Gattungen und Formate der bildenden Künste.

Abb. 1: Fidus: Bade in Licht, Luft und Sonne. Sonnenjüngling auf Titelblatt der Zeitschrift Kraft und Schönheit (1905)

Abb. 2: Aktfotografie in der Stellung des Sonnenjünglings von Fidus, 1905, Fotograf unbekannt

In der Lebensreform wurde also, wie bereits angedeutet, ein Bild vom Menschen entworfen, das diesen als ganzheitliches und in die Natur eingebettetes Wesen betrachtet. Folgerichtig konnte er nur dann in Harmonie mit der Natur als äußerer Instanz, aber auch mit seiner individuellen, innerlichen Natur stehen, wenn Körper, Geist und Seele gleichermaßen berücksichtigt wurden. Der Mensch sollte nicht einem einzelnen Segment, dem Körper, dem Geist oder der Seele Vorrang einräumen, sondern ein harmonisches Gleichgewicht aller Aspekte fördern.

Ein publizistischer Klassiker dieses Ansatzes ist das umfangreiche Handbuch Die Natur als Arzt und Helfer des Mediziners und Lebensreformers Friedrich Wolf.55 In einer für Laien gut verständlichen Sprache legte er damit ein Kompendium an medizinischem Grundlagenwissen und naturheilkundlichen Methoden vor. Neben der „Erziehung zur Gesundheit“, in der alltagspraktische Aspekte wie Wohnen, Kleidung, Familienleben und Arbeitswelt besprochen werden, bietet er eine Fülle an heilenden und kräftigenden Methoden durch die Nutzung von Licht, Luft, Erde und Heilkräutern dar. Mit Fotografien, auf denen er selbst als Künstlermodell56 oder bei diversen körperlichen Ertüchtigungen zu sehen ist, belegt er sowohl die gesundheitliche als auch die ästhetische Wirksamkeit der „naturgemäßen“ Lebensweise. Wolf ließ sich gegen Ende der 1920er-Jahre ein Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung erbauen, das aufgrund der Architektur seine Vorstellungen einer ganzheitlichen Lebensweise ermöglichte. Auf dem eigens dafür geschaffenen Balkon konnte er zu jeder Jahreszeit nacktgymnastische Übungen an frischer Luft ausführen, bei denen er sich ablichten ließ (Abb. 3).57

Abb. 3: Friedrich Wolf bei der Gymnastik, 1930, Fotograf unbekannt

Der Aspekt der Ganzheitlichkeit lässt sich ebenfalls besonders deutlich in der Tanz- und Rhythmikbewegung erkennen, die in der gelungenen Bewegung den Ausdruck einer vollkommenen Harmonie der geistigen, seelischen und körperlichen Ausdruckskräfte sieht.58 Sowohl Leiblichkeit als auch Geist und Psyche wurden dabei als essenziell zur menschlichen Natur zugehörig erachtet und sollten idealerweise in gleichem Maße gepflegt werden. Besonderes Augenmerk richtete man darauf Einseitigkeiten zu vermeiden. So sollte sich der reformierte Mensch weder einer ungezügelter Sinnlichkeit noch einem reinen Intellektualismus hingeben. Diese beiden Extreme, die vermeintlich die bürgerlich-wilhelminische Gesellschaft prägten, stellten die Hauptkritikpunkte der Lebensreformer dar. Die Ausgewogenheit von Körper, Geist und Seele sollte sich beispielsweise in der Aktfotografie oder beim Tanz in Form einer harmonisch geformten, schönen Gestalt und einer entsprechenden Ausdrucksqualität zeigen.

In der sogenannten Zivilisation sah man hingegen eine Gefährdung für das ganzheitliche Wesen des Menschen, da diese entweder einen Intellektualismus ohne Bezug zu Leib und Seele fördere oder aber eine Körperlichkeit begünstigte, die ohne Mäßigung durch Geist und Seele ins Triebhafte entarte. Speziellen Wissensbereichen, wie den Naturwissenschaften oder der Medizin sowie den Institutionen der Bildung, respektive der akademischen Ausbildung der Künstler, sah man besonders skeptisch entgegen. Man warf ihnen eine rein materialistische und seelenlose Haltung vor, die den Menschen moralisch, geistig und körperlich schädige. Als besonderen Beleg der sittlichen Verrohung, die einem fehlgeleiteten oder vielmehr fehlenden Bezug zum Körper als natürlichem Element zugeschrieben wurde, erachtete man insbesondere die gesellschaftlichen Zerstreuungen und Vergnügungen. Genussmittel wie Alkohol und Nikotin, aber auch Pornografie und Erotik wurden als omnipräsente Zeichen einer „degenerierten“ Zivilisation angeprangert. Ferner bildeten die moralisch begründete Verfemung des nackten Leibes, die Zugeknöpftheit der Mode, das Korsett der Frau und die generell körperfeindliche Gesellschaftsmoral wesentliche Kritikpunkte der Lebensreformer. Es sei dies eine Lebensweise, die den natürlichen Menschen deformiere und ihm in seinem ganzen Wesen schade.

Im Verweis auf den Bezugsrahmen Natur legte die lebensreformerische Bildpublikation nach eigenem Verständnis Zeugnis vom ganzheitlichen Menschen ab, der sich in der Interaktion mit der Natur als gleichsam naturhaft erweise. Befreit von Hüllen, jedoch ohne erotisierenden Impetus, sollte sich der Mensch der wesenhaften Natürlichkeit des nackten Leibes wieder bewusst werden. Aus dem ganzheitlichen Ansatz der Lebensreform folgte die Forderung, dass die Pflege und Übung des Körpers gleichrangig neben der Pflege der inneren Kräfte stehen sollte. Mit den Mitteln der Reform sollte jeder Mensch seine innere Natur, sein Wesen vervollkommnen und zum Ausdruck bringen. Diese innere Natur stand demnach nicht nur in Abhängigkeit von individueller Ausprägung, sondern zeigte sich auch in einem biologistischen Sinne als geschlechtsspezifisch geprägt. So ging man davon aus, dass das biologische Geschlecht seine jeweilige innere männliche beziehungsweise weibliche Natur ausforme. Eine naturgemäße Lebensweise konnte demzufolge nur vollumfassend gelingen, wenn die geschlechtsspezifische Natur in ihren Eigenarten berücksichtigt und gepflegt wurde. Insbesondere den vermeintlich offensichtlich wahrnehmbaren Extremen der Effemination beziehungsweise der Verrohung des Mannes sei dabei entschlossen entgegenzuwirken.

Der spezifische Naturbegriff der Lebensreformer entwickelte sich also vor dem Hintergrund einer Zivilisationskritik, die sich dezidiert auf die als krankmachend empfundenen Faktoren und Lebensweisen der zeitgenössischen Gesellschaft richtete. Die daraus resultierenden Reformen sollten den individuellen Menschen als ganzheitliches Wesen und seine gesamte Lebensführung erfassen und darüber hinaus die Gesellschaft neu prägen. Da man die negativ konnotierte Zivilisation als Gegenpol und sogar Widersacher der Natur deklarierte, sich...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2022
Verlagsort Baden-Baden
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte 20. Jahrhundert • Aktkunst • Jugendbewegung • Körperkonzepte • Körperkultur • lebensreformbewegungen • Männlicher Akt • Männlichkeiten • Mythos • Reformpropheten • Schönheitskult • Sittlichkeitsgeschichte
ISBN-10 3-8288-7815-6 / 3828878156
ISBN-13 978-3-8288-7815-0 / 9783828878150
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