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Auf der Zunge (eBook)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
143 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77222-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
16,99 inkl. MwSt
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Eine Frau streift durch Manhattan. Mit jedem Schritt weiter weg von einem Zuhause, in dem die Liebe blass, der Ehemann sprachlos geworden ist, trotz der langen schönen Zeit. Auf ihren Streifzügen entlang der Brownstones und den emporragenden Feuertreppen begegnen ihr Männer, wie aus der Phantasie entstiegen: der Dichter, der Astronaut, der Räuber, der Löwenbändiger ... In diesen Momenten findet sie etwas, das sie für immer verloren glaubte. Lebendigkeit, Sinnlichkeit, Mut, die Spuren unmissverständlicher Gegenwart. Was muss sie tun, damit diese Gefühle nie wieder fliehen? Damit sie nicht verloren geht, wie die Menschen um sie herum, wie der Charakter dieser Stadt, die vom ganzen Geld der Welt für sie so still geworden ist, wie der Ehemann, der jeden Abend fragt: »Wo bist du gewesen?«

Jennifer Clement hat eine Sehnsuchtshymne geschrieben. Mit Auf der Zunge beschwört sie das Aufbäumen einer Frau gegen den Verlust der Träume und der Leidenschaft. In sanft-lyrischen, in brutal-ehrlichen Bildern erschafft sie ein Denkmal für einen geliebten Ort, eine geliebte Zeit im Leben.



Jennifer Clement, in Connecticut geboren, wuchs in Mexiko- Stadt auf, studierte in New York und Paris Literaturwissenschaft und hat Lyrik und vier Romane ver&ouml;ffentlicht. Als Pr&auml;sidentin des P.E.N. International k&auml;mpfte sie im Namen von Autor:innen weltweit f&uuml;r das Recht auf freie Meinungs&auml;u&szlig;erung. <em>Gebete f&uuml;r die Vermissten</em>, ihr Roman &uuml;ber die Schicksale gestohlener M&auml;dchen in Mexiko, war ein internationaler Erfolg, die Verfilmung wurde in Cannes ausgezeichnet. Ihr Roman <em>Gun Love</em> wird unter der Regie von Julie Taymor verfilmt.

Der Rechtsanwalt


Der Anwalt ist ein Mann mit einem Heer von Kleidern. Zwei Schränke und eine große Eichentruhe voller Hosen, Jacketts und Mäntel aus Leinen, Wolle und Baumwolle und blauen und weißen und blauweiß gestreiften Hemden. In einem der Schränke hängen zwei Krawattenhalter mit mehr als fünfzig Krawatten. Ein Smoking steckt in einem langen schwarzen Kleidersack.

Die Frau sieht sich die Sachen von weitem an. Wer in diesem Heer von Kleidungsstücken ist tapfer und ehrenwert? Wer sind die Krieger, die Soldaten und die Ritter? Welche Seiten hassen einander? Hassen die Dinner-Jackets die Sportsakkos? Wer von ihnen trinkt zu viel? Und wer ist der Junge, der zu jung für Whisky ist, aber alt genug zu töten? Wer singt das Kampflied? Und welcher ist der Dichter, der irische Dichter, der die Inschrift für den Grabstein schreibt?

Der Anwalt ist der Mann der Frau.

Wenn sie den Schrank öffnet, weht ihr ein kalter Luftzug entgegen, von Pullovern, die nicht umarmen können, Mänteln, die nicht marschieren und sie vor dem Feind beschützen können, Hemden mit Ärmeln, die niemals die Ärmel ihrer Blusen berühren. Er besitzt alle möglichen Stoffe, die ihrer beider Haut vor Berührung schützen.

Sie sieht die leeren Kleider über den Platz marschieren.

Die Frau ist Bibliothekarin. In einem Buch kann sie durch eine Straße an der Lower East Side in Manhattan laufen und ist in einem Moor, allein in der Abenddämmerung. In einem U-Bahn-Wagen sitzt sie im Salon. Auf dem Bürgersteig ist sie im Schlafzimmer und wird geliebt, und der Teppich ist die Heide, und die Bäume sind Männer, die sie lieben und sagen: »Ich werde dich durch das brennende Haus tragen.«

In Büchern sprechen die Schatten miteinander. In Büchern wächst Gras auf dem Küchenfußboden, eine Kerze ist ein Stück Mond, und in ihrem Apfel ist eine Wolke.

In Büchern wechseln die Jahreszeiten, als würde das Leben im Zeitraffer vorbeiziehen. Die Blätter werden braun und fallen, Blüten öffnen sich und verwelken. Es schneit. Es regnet. Die Sonne strahlt über ihr.

In einem Buch kann sie Feuer löschen und Verlorenes wiederfinden. In einem Buch kann sie noch mal die ersten Seiten lesen, bevor bestimmte Dinge passieren. Sie kann jederzeit zurück zu Seite 25 gehen und Seite 50 vergessen.

Sie denkt: »Ich muss nicht jedes Wort bezeugen.«

Die Frau arbeitet ehrenamtlich in der Ottendorfer Library an der 2nd Avenue.

Ihr Mann ist Anwalt. Sie stammen beide aus jüdischen Familien mit ukrainischen Wurzeln. Sie lernten sich als Studenten in der Bobst Library der NYU kennen. Tagelang sahen sie sich über den dreidimensional gemusterten Marmorboden kommen und gehen. Und sie verliebten sich auf einer Bank im Washington Square Park, während sie von weitem den Schachspielern in einem Krieg zwischen zwei Farben zusahen.

Während die Frau durch die Straßen läuft, weiß sie, dass er durch andere Straßen auf der Insel läuft. Seine Brogues treffen auf den Asphalt, sein Wintermantel flattert und wirbelt die Kälte auf. Er läuft an der Ecke auf und ab und wartet auf ein Taxi. Er holt den Chapstick aus der Tasche und schmiert sich die trockenen Lippen ein. Er presst die Hände zusammen und schaut auf seine Armbanduhr, die Armbanduhr seines Großvaters.

Wie oft hat sie die Reste vom Kerzenwachs aus den Kerzenhaltern geholt und ihm Salzwasser und bittere Kräuter hingestellt?

Wie oft hat sie den Neumond begrüßt und die Scharniere an den Türen geölt?

Sie denkt an ihr Schlafzimmer: ein Zimmer voller Stimmen, die über zwei Jahrzehnte miteinander sprachen. Ein Zimmer voller Herzschläge, Zellen und Atem. In einem Zimmer mit Türmen von Büchern zeugten sie ihre Tochter, wurden älter, waren krank.

Der Anwalt spricht über Rechtsfälle, das geltende Recht und die Geschichte des Rechts. Er interessiert sich für die Mitzwot, die mit dem Prozedere vor Gericht zu tun haben, und liest ihr die einzelnen Gebote vor.

Sie schließt die Augen und hört ihn lesen: »Ihr sollt in der Rechtsprechung kein Unrecht tun. Du sollst weder für einen Geringen noch für einen Großen Partei nehmen und vor niemandes Person dich scheuen. Du sollst das Recht des Fremdlings und des Waisen nicht beugen.«

Sie heirateten im Jahr des Klaus-Barbie-Prozesses in Lyon. Der Anwalt verfolgte die Verhandlung aufmerksam und war voller Bewunderung für Serge und Beate Klarsfeld. Es war außerdem das Jahr, in dem zum ersten Mal ein Täter mit Hilfe von DNA-Spuren verurteilt wurde.

»Beweismittel, die vorher unsichtbar waren, sind jetzt sichtbar: Hautzellen, Haare, Speichel. Es gibt kein Entkommen mehr«, sagte ihr Mann.

Die Frau fragt sich: »Wann genau wurde ich zur Lügnerin? Wann haben die Wörter ihre Herkunft verloren, gleich einem Aderlass, und wurden hohl und ohne Geschichte. Was passiert, wenn man den Wörtern die Bedeutung austreibt und sie nur noch leere Töpfe auf dem Herd sind, die das Haus mit Rauch erfüllen?«

Sie weiß, dass wenn man »Sorry« sagt, dann bedeutet das, ich bin im Schmetterlingskescher, und wenn man sagt, »Vergib mir«, bedeutet es, »Ich werde es wieder tun«.

»Wird er den Lügendetektor einsetzen? Wird er den Fachmann in den Gelben Seiten finden?«, fragt sie sich.

Die Wahrheit zu hören, kostet fünfhundert Dollar. Durch die Fingerspitzen misst der Lügendetektor Blutdruck, Puls und Atmung.

Sie stellt sich das Gerät auf dem Küchentisch vor. Während der Befragung wird sie »Liebe« sagen, aber ihr Körper wird ohne Liebe schreien.

Sie antwortet immer: »Ja, ich liebe dich.« Aber innerlich hört sie das Wort »Alarm«.

Beim Familientag in der Bibliothek las sie den Kindern vor, wie Pinocchios Nase jedes Mal wuchs, wenn er sagte: »Ich bin nicht aus Holz. Ich bin ein echtes Kind.« Der Junge war Ast, Stamm und Zweig, und durch ein Herz aus Bäumen floss kein Blut.

Jeden Freitag geht sie mit ihrem Mann abends essen. Sie sieht zu, wie er den blauen Büroanzug aus Merinowolle auszieht. Er sucht ein sauberes Hemd heraus und zupft dabei an seinen dichten schwarzen Ringellocken. Er zieht die Hose und das Jackett aus und hängt sie sorgfältig auf. Vor dem Hintergrund des Schrankes und den Reihen von Anzügen steht er flankiert von einem Regiment von Kleidern.

Der Anwalt setzt sich auf den Bettrand, schnürt die Schuhe auf, zieht sie aus und schlüpft in ein bequemeres Paar Loafer. Dann geht er in die Küche und gießt sich ein Glas Wasser ein. Er ist fast so groß wie der Türrahmen.

Die Frau sitzt auf der Bettkante und betrachtet die Büroschuhe des Anwalts, die schwarz glänzenden Schnür-Oxfords. Sie beugt sich vor und steckt die Hände in das warme Leder.

»Wo geht er hin?«

Sie tastet mit den Fingern das Innere der Schuhe ab.

»Lass uns los«, ruft der Anwalt aus der Küche.

Die Frau und der Anwalt gehen die Stufen hinunter und durch die Haustür nach draußen. Ihre Füße berühren den Bürgersteig der 7th Street zwischen 1st Avenue und Avenue A. Sie haben eine Wohnung in der Lower East Side gekauft, bevor es so teuer wurde. Es war das Jahr, als die Prozesse gegen die New Yorker Mafiosi Anthony »Fat Tony« Salerno und Carmine Peruccia auf allen Titelblättern waren.

Es ist ein Vorfrühlingsabend, und obwohl die Luft nur leicht kühl ist, steckt in den Häusern um sie herum und im Bürgersteig unter ihren Füßen noch der Frost aus den Wintermonaten.

Sie laufen zusammen Hand in Hand, wie Pferde, die seit vielen Jahren zusammen einen Karren ziehen. Sie marschieren im Gleichschritt, dabei schaukeln ihre Beine rhythmisch aufeinander abgestimmt durch die Luft. Diese Körper sind schon oft zusammen gelaufen, zur Ecke, zum Laden, zur Synagoge, ins Kino, auf den Horizont zu in Richtung Krankheit und Tod.

Ihre Schatten treffen auf den Boden oder auf die Mauern, es sind Schatten, die sich berühren, um an die Haut zu erinnern, die sich berührte.

Die Frau und der Anwalt laufen in Richtung Osten, vorbei an Boutiquen und einem großen Hund, der an einer Parkuhr angebunden ist. Ein Feuerwehrwagen rast vorbei, die Sirene heult und hallt zwischen den Brownstone-Häusern hin und her.

»Er fährt nach...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Übersetzer Nicolai von Schweder-Schreiner
Sprache deutsch
Original-Titel Stormy people
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ehe • für Frauen • Gebete für die Vermissten • Gun Love • neues Buch • New York • Nordamerika (USA und Kanada) • starke weibliche Erzählerin • Stormy people deutsch • Trennung • USA • USA Nordosten • USA Nordosten: Mid-Atlantic States • Vereinigte Staaten von Amerika USA
ISBN-10 3-518-77222-8 / 3518772228
ISBN-13 978-3-518-77222-5 / 9783518772225
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