#IchBinHanna (eBook)

Prekäre Wissenschaft in Deutschland
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
120 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77295-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

#IchBinHanna -  Amrei Bahr,  Kristin Eichhorn,  Sebastian Kubon
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Seit 2007 prekarisiert das Wissenschaftszeitvertragsgesetz Arbeitsbedingungen und Berufsaussichten des akademischen Mittelbaus: Das Gros der Wissenschaftler:innen hangelt sich von einem befristeten Job zum nächsten, und wer nach zwölf Jahren keine feste Stelle hat, fällt endgültig aus dem System heraus.

Als 2021 ein Video des Forschungsministeriums in den Fokus gerät, in dem am Beispiel der fiktiven Biologin »Hanna« die vermeintlichen Vorzüge des Gesetzes gepriesen werden, lancieren Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon den Hashtag #IchBinHanna. Binnen weniger Stunden machen zahllose Wissenschaftler:innen ihrem Ärger Luft. Sie schildern die Auswirkungen der Prekarität auf ihr Leben, berichten von Überlastung und Depressionen. Die Medien greifen das Thema auf, und »Hanna« schafft es wenig später sogar in den Bundestag.

In ihrer Streitschrift legen die Initiator:innen dar, welche Folgen das »WissZeitVG« für Forschende und Studierende, aber auch für den Wissenschaftsstandort Deutschland und unsere Gesellschaft insgesamt hat. Sie resümieren die Erfahrungsberichte unter #IchBinHanna und präsentieren ihre Forderungen für bessere Arbeitsbedingungen in Forschung und Lehre.



Amrei Bahr, geboren 1985, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

311. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und Konkurrenz in der Wissenschaft aus historischer Perspektive – oder: Wie kam es zur gegenwärtigen Situation?


In der aktuellen Debatte entsteht leicht der Eindruck, an der Lage ließe sich leider nichts ändern, weil sie nun einmal durch das Wesen der Wissenschaft bedingt sei. Allerdings war die Lage nicht immer so, wie sie jetzt ist. Sie resultiert vielmehr aus politischen Richtungsentscheidungen der letzten Jahrzehnte, weshalb man sich ihre Historizität (und damit Veränderbarkeit) bewusst machen sollte. Nichts ist so, weil es schon immer so war oder so sein müsste, sondern die gegenwärtige Situation ist das (in Teilen intendierte, in Teilen sicher auch nicht antizipierte) Ergebnis der Lobbyarbeit der großen Wissenschaftsorganisationen und ihrer gesetzgeberischen Umsetzung durch die Politik.

Deshalb gehen wir an dieser Stelle der bundesrepublikanischen Vorgeschichte des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes nach. Dabei steht zunächst die Frage im Raum, welche Akteur*innen bzw. Institutionen die heute dominanten Überzeugungen zuerst formuliert und durchgesetzt haben, bis diese schließlich in Gesetzesform gegossen wurden. Danach arbeiten wir die darunterliegenden ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Aspekte genauer heraus, wie sie nicht zuletzt in den Leitbegriffen »Innovation«, »Exzellenz« und »Wettbewerb« zum 32Ausdruck kommen. Im Folgenden werden daher neben der Entstehung der rechtlichen Lage einige Tendenzen beschrieben und dahingehend analysiert, wie sie mit der aus dem Ruder laufenden Befristungsproblematik zusammenhängen. All diese Entwicklungen greifen auf komplexe, oft kaum zu durchschauende Weise ineinander oder laufen zumindest chronologisch parallel.1

Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Themenkomplexe: erstens die Entwicklung der gesetzlichen Befristungsregelungen und die sie begleitende Diskussion;2 zweitens Konkurrenz als Prinzip, also die kompetitive Vergabe von Mitteln unter den Bedingungen des New Public Management.3 Vorarbeiten zum ersten Aspekt gibt es kaum, vor allem nicht für die universitäre Wissenschaft. Einzig für die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und ihre Befristungspraxis sowie den Wissenschaftsrat als politischen Akteur liegen mittlerweile aufschlussreiche Studien vor, deren Ergebnisse freilich den allgemeinen Trend widerspiegeln dürften.4 Die Rollen der weiteren Akteur*innen im deutschen Hochschulsystem und deren Motivation – hier spielt sich einiges im »Bermuda-Dreieck« von Bund, Ländern und einzelnen Institutionen ab – harren überwiegend noch einer Aufarbeitung. Ein zentrales Problem, das die Rekonstruktion erschwert, ist die Aktensperrfrist. Viele Quellen sind schlicht noch nicht freigegeben. Hochschulen zeigen zudem gegenwärtig wenig Bereitschaft, ihre Archive für die Forschung zu öffnen.5 Nichtsdestotrotz liegen für das Themenfeld der Konkurrenz mittlerweile einige überaus interessante Studien vor, aus denen sich wichtige Einsichten gewinnen lassen.

33Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Die Entwicklung der gesetzlichen Befristungsregelungen und ihre Diskussion


Es war vor allem der 1957 gegründete und verhältnismäßig gut erforschte Wissenschaftsrat, der ab Mitte der siebziger Jahre deutlich Position gegen die Einrichtung von Lebenszeitstellen bezog. Seine diversen Stellungnahmen, die sich in den Folgejahrzehnten kaum verändert haben und insofern als paradigmatisch gelten können, erlauben eine detaillierte Rekonstruktion der frühen Argumentation in Bezug auf Befristungen. Um die Pointe vorwegzunehmen: Tatsächlich geht die derzeitige Gesetzeslage über mehrere Zwischenschritte auf die Lobbyarbeit der großen Wissenschaftsorganisationen zurück, welche die Politik seit den siebziger Jahren verstärkt zu mehr Befristung und Teilzeitarbeit gedrängt haben. Damit vollzogen sie jedoch ihrerseits eine Kehrtwende, wie insbesondere ein Blick in frühere Schriften des Wissenschaftsrats zeigt.

In seinen Empfehlungen zum Aufbau der wissenschaftlichen Einrichtungen, der sogenannten »Blauen Bibel« aus dem Jahr 1960, die seinen Ruf als wissenschaftspolitische Organisation begründete,6 moniert das Gremium bei aller Zentralität des Lehrstuhls als »Basiseinheit der deutschen Hochschule«7 noch die Überlastung des nichtprofessoralen Personals auf sogenannten Diätenstellen. Die entsprechenden Beschäftigten hätten kaum Zeit für die eigene Weiterqualifikation sowie Forschung und müssten die »Aufgaben eines Lehrstuhlinhabers« erfüllen, »ohne jedoch in der akademischen Korporation die 34gleichen Rechte wie die beamteten Professoren zu haben«.8 »[D]ie Aufgaben des Assistenten« würden in Wirklichkeit oft »von einer entsprechend geringer bezahlten Hilfskraft wahrgenommen«: »So ergibt sich eine ungerechtfertigte Verschiebung in der Besetzung der Stellen und ein nicht zu vertretendes Mißverhältnis zwischen Leistung, Besoldung und akademischer Stellung.«9 Auch in weiteren Stellungnahmen aus den sechziger Jahren betont der Rat die Bedeutung einer »günstigen Relation« von »Dauerstellen (Ordinariate, außerordentliche Professuren und Stellen für Akademische Räte) und Durchgangsstellen (z. ‌B. Stellen für Hochschuldozenten, wissenschaftliche Assistenzen und wissenschaftliche Mitarbeiter auf Zeit)« für die Sicherung der Qualität von Forschung und Lehre.10

1960 konstatiert der Wissenschaftsrat dabei nachvollziehbarerweise noch eher einen »Nachwuchs«- denn einen Stellenmangel und ruft zur Schaffung neuer Stellen (statt etwa zur Teilung oder Befristung vorhandener Stellen) auf. Dies ändert sich dann in den Siebzigern infolge der Besetzung zahlreicher Dauerstellen. Damit einher geht aber auch eine neue Rhetorik, die Promovierte zunehmend infantilisierend als primär in der Qualifikation befindliche Personen definiert (und sie so, zugespitzt gesagt, mit ihren Studierenden gleichstellt), nicht als Mitarbeiter*innen mit anspruchsvollen Aufgaben und einem Anspruch auf angemessene Mitspracherechte sowie adäquate Bezahlung.

Es war jedoch nicht allein der Wissenschaftsrat, der in der Ausweitung befristeter Anstellungsverhältnisse ein Allheilmittel sah. Auch die Westdeutsche Rektorenkon35ferenz, die Vorläuferinstitution der heutigen Hochschulrektorenkonferenz, sprach sich seit den Siebzigern für diesen Weg aus.11 In den Verlautbarungen der Max-Planck-Gesellschaft findet sich das Argument, einzig neue Mitarbeiter*innen könnten neue Problemstellungen bearbeiten.12 Nur Fluktuation schaffe Innovation, so die übliche Formel, die bis heute aktuell ist. Nicht zuletzt die personelle Verflechtung auf den Leistungsebenen der wissenschaftlichen Großinstitutionen dürfte für eine rasche Verbreitung dieser Ideen gesorgt haben. So baute zum Beispiel der Astrophysiker Reimar Lüst ab 1963 das MPI für extraterrestrische Physik auf, bevor er von 1969 bis 1972 Vorsitzender des Wissenschaftsrates und dann von 1972 bis 1984 Präsident der MPG war. Anschließend wurde er Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation.

Entsprechende Institutionen vertraten also schon lange vor Einführung des WissZeitVG die Auffassung, gute und innovative Wissenschaft sei ohne kontinuierlichen Personalwechsel unterhalb der Leitungsebenen nicht zu haben. Wohlgemerkt eine Auffassung, für die sich von Anfang an und bis heute keinerlei empirische Belege finden – ihre vermeintliche Überzeugungskraft speiste sich wohl wesentlich daraus, dass etablierte Mitglieder des Systems sie über Jahrzehnte gebetsmühlenartig wiederholten.

Diese Argumentationslinie setzte sich jedenfalls ab den siebziger Jahren durch. Hatte man sich bis dahin dafür ausgesprochen, wissenschaftliche Arbeit angemessen wertzuschätzen und zu bezahlen, weht in den Stellungnahmen des Wissenschaftsrats von 1977 und 1980 36ein anderer Wind. Zum Erhalt der »Qualität der Forschung« sieht er nun die Notwendigkeit, »daß ein angemessener Teil hochqualifizierter Hochschulabsolventen nach Abschluß ihrer Promotion und damit in einer wissenschaftlich besonders fruchtbaren Phase für eine Zeitlang an der Hochschule oder vergleichbaren...

Erscheint lt. Verlag 27.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte #95vsWissZeitVG • 95vsWissZeitVG • #ACertainDegreeofFlexibility • Akademiker • Arbeitskampf • Bildungspolitik • BMBF • Bundesministerium für Bildung und Forschung • Bundestagswahl • Campus • Doktoranden • Forschung • Hanna • Hochschule • Lehre • neues Buch • Promotion • Protest • Streik • Twitter • Uni • Universität • Wissenschaft • Wissenschaftszeitgesetz • Wissenschaftszeitvertragsgesetz • WissZeitVG
ISBN-10 3-518-77295-3 / 3518772953
ISBN-13 978-3-518-77295-9 / 9783518772959
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