Mein Juist (eBook)
192 Seiten
mareverlag
978-3-86648-808-3 (ISBN)
Sandra Lüpkes hat 23 Jahre lang auf der Insel Juist gelebt. Diese mikrokosmische Erfahrung prägt ihr schriftstellerisches Werk bis heute. Seit mehr als 20 Jahren schreibt sie Romane, Ratgeber und Drehbücher, die das Zusammenleben auf engstem Raum thematisieren. Ihr Gesellschaftsroman »Die Schule am Meer« (2020) wurde zum Bestseller. Sandra Lüpkes lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jürgen Kehrer, in Berlin.
Sandra Lüpkes hat 23 Jahre lang auf der Insel Juist gelebt. Diese mikrokosmische Erfahrung prägt ihr schriftstellerisches Werk bis heute. Seit mehr als 20 Jahren schreibt sie Romane, Ratgeber und Drehbücher, die das Zusammenleben auf engstem Raum thematisieren. Ihr Gesellschaftsroman »Die Schule am Meer« (2020) wurde zum Bestseller. Sandra Lüpkes lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jürgen Kehrer, in Berlin.
Zauber & Realität
An den Rand von de Welt vör Ostfreeslands Küst
liggt verdrömt in de Sünn uns Töwerland Juist
Maakt dat Hart uns so riek, voll Freid un vull Lüst
denn uns Lev is so grot to uns Eiland, uns Juist
Juister Dün’n, Juister Strand un de solten See
Plattdütsk Taal, oll Maneern un de Klottjeree
Fast as Isen dit Band an de Insel uns holt
denn uns Lev is so grot to uns Eiland, uns Stolt
Stritt sick Ström ut Nordwest mit de blanke Hans
üm de Strand un de wittgröne Dünenkranz
denn bewohr uns, o Herr, vör Skaad un Verlüst
hol in Gnaden din hillige Hand över Juist
Das Schiff legt an, ich gehe von Bord und finde mich wieder im vertrauten Tumult des kleinen Hafens. Manche warten bereits an der Gangway und rufen »Oh, wie blass!« und »Hut ab! Hut ab!«, denn so werden Ankömmlinge begrüßt von jenen, die bereits länger auf Juist weilen, im Sand geerdet und von der Sonne geküsst worden sind. Das war schon vor hundert Jahren so, als der Juister Werbeprospekt ein »vornehmes Familienbad« und »gesellige Fröhlichkeit« sowie »natürliche Heilkräfte der Natur« anpries. Eine Weile ist dieser Willkommensbrauch zum Erliegen gekommen, doch man wusste stets, dass es ihn gab, und irgendwann hat wieder jemand damit angefangen. Vermutlich um zu verdeutlichen: Seht her, wir sind vertraut, die Insel und ich! Wir haben viele gemeinsame Jahre auf dem Buckel, wie ein altes Ehepaar, und lieb gewonnene Gewohnheiten pflegen wir, auch wenn sie manchem, der keine Ahnung hat von den Juister Eigenarten, seltsam vorkommen mögen. Aber uns ist nichts mehr peinlich voreinander, am Hafen rufen wir ungeniert Wildfremden etwas zu und schwenken unsere Kopfbedeckung: »Oh, wie blass! Hut ab!«
Im Hafengebäude entwerte ich mein Fährticket, trete nach draußen und laufe durch das Spalier der Kofferfahrer, die mir zunicken wie einer alten Bekannten, doch sicher bin ich nicht, ob sie sich meiner wirklich erinnern. Zu lange schon lebe ich nicht mehr hier. Und die Zeiten ändern sich, selbst auf Juist. Das weiße Seezeichen am Ende der Seebrücke, filigran und doch massiv, in der Vertikalen schräg, in den Horizontalen gerade, gab es zu meiner Zeit noch nicht. Heute ist es eine etablierte Sehenswürdigkeit mit gut besuchter Aussichtsplattform, lohnendes Ziel für einen kleinen Spaziergang und das Logo der Kurverwaltung. Es gleicht einer Boje, die im strömungsreichen Meer treibt. Welch passendes Bild. Ich mag es sehr.
Mein Ankommen fühlt sich an wie ein Wiedersehen mit einem Verflossenen, an dessen Seite ich viele Jahre glücklich gewesen bin, mit dem ich mich dann aber auseinandergelebt habe. Einerseits grundvertraut, andererseits verändert, fast fremd, dass ich nicht glauben mag, jemals dort zu Hause gewesen zu sein. Früher schwer verliebt, dann verflog der erste Zauber und heute … Ja, was ist es heute für mich? Mein Juist?
»Achtung! Vorsicht! Platz da!«, brüllt es von allen Seiten und ich muss auf dem Weg zu den Gepäckcontainern gleich mehrfach ausweichen, den radelnden Inselmenschen, den Hafenbetriebsfahrzeugen oder Planwagenkutschen. Oje, wieder einmal habe ich die Nummer des Anhängers vergessen, in dem ich meinen Koffer verstaut habe. War es die Nummer 36? Oder 71? War es die Seite A oder B? Habe ich ihn ganz unten, in der Mitte oder oben platziert? Früher war das einfacher, da hatten die Gepäckcontainer bunte Farben, das konnte ich mir besser merken. Ich muss lange suchen, doch ich bin nicht die Einzige, ein Gewimmel an Menschen wie am Gepäckband im Flughafen auf Mallorca. Alle haben es furchtbar eilig mit dem Beginn der Erholung. Dies sind die letzten Minuten hektischer Betriebsamkeit zum Abgewöhnen und Runterfahren. Spätestens wenn ich durch die Deichscharte getreten bin, herrscht Ruhe.
Dann liegt das Festland hinter und die Insel in ihrer ganzen Breite vor mir. Rechts das Ostdorf, links die Billstraße, geradeaus das Dorf, der Kurplatz, die Inselkirche, der Wasserturm. Die Nordsee dahinter, das weiß ich, ohne sie zu sehen. Die kleine Welt erklärt sich immer wieder neu und immer wieder gleich.
Wer die Insel das erste Mal betritt, entscheidet sich wahrscheinlich genau jetzt und an dieser Stelle, ob mehr daraus werden wird. Innerhalb einer unbewussten Zehntelsekunde, denn so lange dauert nach wissenschaftlichen Kenntnissen die sagenhafte »Liebe auf den ersten Blick«. Die blitzartige Erkenntnis, dass mir gefällt, was ich sehe, rieche, höre, schmecke und fühle. Dass ich mehr davon möchte, und zwar sofort und vielleicht sogar für den Rest meines Lebens.
Ist die Suche nach der großen Liebe nicht der beste Grund, das vertraute Nest zu verlassen und eine beschwerliche Reise mit ungewissem Ausgang zu unternehmen? Denn irgendwo – und vielleicht eben konkret an der Juister Deichscharte, zwischen der roten und der grünen Leuchttonne, die den Ortseingang markieren – wartet das Glück. Endlich dort angekommen, lassen wir die zehrende Sehnsucht hinter uns und werden eins mit dem Moment.
»Verliebt in Juist«, so lautete der Werbeslogan, der als Aufkleber in den 1980er-Jahren manchen Koffer und Kofferraumdeckel zierte. Das dazugehörige Logo zeigte zwei sich küssende Fische, zwischen deren Mündern herzförmige Blasen emporstiegen. Verliebt in Juist – wen es erwischt hat, dem flattern Möwen statt Schmetterlinge im Bauch.
Juist hat schon unzähligen Menschen das Herz gebrochen, die nach der ersten Begegnung fiebrig auf die nächste warten, die das Internet durchforsten nach jedem Schnipsel über die Geliebte und alles, einfach alles wunderbar finden, selbst wenn die Angebetete sich von ihrer anspruchsvollen und komplizierten Seite zeigt. Da duften die Pferdeäpfel wunderbar würzig und obwohl der Sand zwischen den Zehen reibt, ist kein Weg zu weit. Die von Amors Pfeil Getroffenen liefern sich Nordseewind und Frieslandregen schutzlos aus, wenn sie nur bei ihr, auf ihr, mit ihr sein dürfen.
Doch vielleicht ist es auch bloß eine Liebelei, ein klassischer Urlaubsflirt, befeuert durch die sorglose Ferienzeit, gefärbt durch den rosaroten Schimmer einer über dem Meer untergehenden Sonne? Wird dieser Zauber auch dann noch wirken, wenn man das zweite, dritte oder x-te Mal nach Juist fährt?
Irgendetwas muss sie an sich haben, diese Insel, dass die sie Verehrenden ihr treu bleiben, und zwar über viele Jahre hinweg. Jeder zehnte Gast ist schon mehr als dreißig Mal da gewesen und führt so etwas wie eine Fernbeziehung. Eine Liebe also, die mehr von Vorfreude und Erinnerungen gespeist wird als vom eigentlichen, dann aber umso intensiveren Beisammensein. Die Stammgäste buchen bereits am Tag der Abreise den Urlaub für das nächste Jahr, damit sich die Sehnsucht dazwischen aushalten lässt.
Wie sieht er aus, der typische Gast, dem die Insel den Kopf verdreht hat? Erst einmal: Er ist eine Sie. Genauer: eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, Mitte fünfzig, Akademikerin, gut situiert, belesen, eine pflicht- und umweltbewusste Genießerin, die auch offen ist für neue Impulse. Nein, dieser Text wurde keiner Kontaktanzeige eines Datingportals mit Niveau entnommen, sondern ist die Zusammenfassung einer statistischen Erhebung, die im Auftrag der Kurverwaltung durchgeführt wurde. Ihre Hobbys sind Spazierengehen und Radfahren und sie ist auf der Suche nach Ruhe, Natur und dem nötigen Abstand zum Alltag. Ich habe sie direkt vor Augen, diese statistische Dame aus Westfalen, nur erweckt sie nicht den Eindruck, sich allzu leicht verzaubern zu lassen.
Vom »Töwerland« schon. Warum genau Juist seit dem 19. Jahrhundert diesen besonderen Spitznamen (Töwer = Zauber) trägt, dafür gibt es verschiedene Erklärungen, magische (das Zusammenspiel von Wind, Wasser, Sand und Sonne fabriziert mitunter optische Erscheinungen der dritten Art) wie tragische (1590 wurden drei Juister Frauen der Hexerei angeklagt und auf dem Scheiterhaufen in Norden verbrannt). Heute interpretieren wir den Begriff freilich moderner, bringen ihn mit neudeutschen Werbevokabeln wie Entschleunigung in Verbindung, kreieren Wortschöpfungen wie »TöwerCard« und »TöwerVital«, fahren mit dem »Töwerland-Express«.
Siebzig Prozent der Juist-Gäste nennen die Insel ihr »zweites Zuhause«. Aber nehmen wir mal an, die verzauberte Mittfünfzigerin aus Nordrhein-Westfalen beschließt nun eines schönen Tages, dass es ihr nicht mehr reicht mit den kurzen Episoden zwischen Vorfreude und Erinnerung, sie will mit ihrer großen Liebe zusammenziehen, um aus dem zweiten ein erstes Zuhause werden zu lassen, und packt nicht nur die Koffer, sondern gleich den Möbelwagen. Das passiert nicht selten. Bei der Inselschule bewerben sich beispielsweise regelmäßig Lehrerinnen – es sind wirklich bislang immer Frauen gewesen –, die davon träumen, ihre letzten Berufsjahre vor der Pension an einem Ort zu verbringen, wo andere...
Erscheint lt. Verlag | 15.3.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Die Schule am Meer • Ferienpension • Lieblingsinsel • mare Insel • Meine Insel • Niedersachsen • Ostfriesland • Reisebericht • Reiseerzählung • Reiseliteratur • Watt • Wattenmeer |
ISBN-10 | 3-86648-808-4 / 3866488084 |
ISBN-13 | 978-3-86648-808-3 / 9783866488083 |
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