Kapitel 1
Die Stadt der Sieben Flüsse«, seufzte Jasper und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ein ungewöhnlich warmer Frühlingstag, und es bot sich ihnen kaum Schatten. Dunkle Schweißflecken waren auf seinem blau-silbernen Wappenrock zu sehen. »Was für ein poetischer Name.«
»Wohl eher die Stadt der Sieben Kloaken«, meinte Brea. »Wenn der Dichter, der sich das ausgedacht hat, einmal die Nase über den Großen Kanal hält, wird er sich auch einen passenderen Namen einfallen lassen.«
Aber das war nicht, was Brea wirklich dachte. Sie mochte den Dienst als Gardistin auf dem Marktplatz. Am Markttag reihte sich hier Stand an Stand, Bude an Bude, und die Erzeugnisse der Bauern und Viehhirten vor der Stadt und aus den Küstendörfern trafen auf exotische Gewürze, Tee und noch ungewöhnlichere Dinge. Ein Stand bot sogar gepökeltes Fleisch von Meerdrachen an, dazu Drachenöl, das heller und viel länger brannte als gewöhnliches Lampenöl, sowie andere Erzeugnisse, die bei der Jagd auf die Riesen der Meere gewonnen wurden. Zwischen den Ständen drängten sich die Menschen und auch einige Feen. Brea sah zwei große, blauäugige Waldfrauen mit hüftlangem blondem Haar, die sich neugierig zwischen den Ständen bewegten und nebenbei mit einer Handspindel Flachs spannen. Blumen sprossen zwischen den Pflastersteinen, wo immer sie einen Fuß hinsetzten. Winzige, kaum kniehohe Wegkundige huschten umher, zeigten Ortsfremden den kürzesten Weg hierhin und dorthin. Sogar eine ziegenfüßige, gehörnte Diale aus dem fernen Gebirge sah sich auf dem Markt um. Brea fragte sich, warum sie die weite Reise wohl auf sich genommen hatte.
Als Brea und Jasper an einem Stand mit Honig und Bienenwachskerzen vorbeikamen, merkte Brea, dass etwas nicht stimmte. Irgendwo am Rand, in einem normalerweise ruhigeren Eckchen des großen Marktplatzes, hatte sich eine Menschentraube gebildet. Sie blieb stehen.
»Muss das sein? Unsere Schicht ist fast zu Ende«, sagte Jasper und gähnte. Er war kaum größer als sie, aber doppelt so breit in den Schultern. Sein schulterlanges, blondes Haar erinnerte Brea stets an eine Löwenmähne. »Ich bin müde und will gleich noch was essen.«
»Du kannst schon vorgehen«, antwortete Brea. »Ich schaffe das.«
»Wenn ich dich allein auf die Bevölkerung loslasse, zieht mir der Hauptmann das Fell über die Ohren«, gab Jasper zurück und seufzte. »Na, von mir aus. Schauen wir uns an, was da los ist.«
Zwei Männer in blitzender Rüstung und mit unter den Arm geklemmten Helmen hatten sich schützend vor eine junge Frau in bäuerlicher Kleidung gestellt, die vom Weinen ganz rote Augen hatte. Einer der Männer trug das Wappen des Sonnenordens auf dem teuren, burgunderroten Wappenrock, der andere wirkte jünger, ein Knappe vielleicht. Ihnen gegenüber standen drei Moosweiblein in der Gestalt unbeschreiblich hässlicher alter Frauen. Es fiel schwer, angesichts ihrer blutunterlaufenen Augen, der braunen, abgebrochenen Zähne und der fleckigen, von Warzen gezeichneten Gesichter nicht den Blick abzuwenden. Obwohl die Feen Brea nur bis zum Ellbogen reichten, hielten die Umstehenden respektvollen Abstand.
»Platz für die Stadtgarde«, sagte Jasper laut. »Was geht hier vor?«
»Ritter Allister vom Orden der Sonne.« Der Mann war sehr groß, sehr dürr und hatte ein langes, knochiges Gesicht. Sein dünnes Haar war schlohweiß, obwohl er keine vierzig Sommer alt sein konnte. Seine heruntergezogenen Mundwinkel drückten Geringschätzung aus. »Was für eine Erleichterung, die Stadtgarde ist da. Nun, wir haben hier alles im Griff. Ihr könnt wieder gehen.«
»Das entscheiden wir«, eröffnete Jasper ihm, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Erzählt mir, was hier passiert ist.«
»Diese Feen haben der jungen Frau gedroht und ihr Angst eingejagt«, warf der Knappe des Ritters ein und wies auf die drei Moosweiblein. »Also sind wir eingeschritten. Der Orden duldet es nicht, wenn Feen ihr Unwesen treiben und unschuldige Menschen belästigen.«
Brea musterte die beiden Männer mit leichter Abneigung. Der Orden war gut zwei Jahre zuvor zum ersten Mal in Garnisath in Erscheinung getreten, aber das Haupthaus stand in Raveno, der einzigen Stadt, in der es kaum Feen gab.
Sie trat einen Schritt vor. »Ich möchte Euch daran erinnern, Ritter Allister, dass es in Garnisath Gesetze gibt, die das Zusammenleben zwischen Feen und Menschen regeln. Mischt Euch also nicht in Angelegenheiten ein, die Euch nichts angehen.«
Ritter Allister beachtete Brea nicht, so als wäre sie Luft. Er wandte sich an Jasper. »Ihr seht es selbst. Das Mädchen hat Angst. Sie würde es nicht wagen, diesen Vorfall bei der Stadtgarde zu melden. Ich habe einen Eid abgelegt, die Schwachen und Hilfsbedürftigen zu beschützen, ganz besonders vor den Umtrieben von Feen. Leider scheinen mir die Gesetze in dieser Stadt eher gemacht, um die Taten der Feen zu rechtfertigen – nicht, um den Menschen zu helfen, die ihrer Magie ausgeliefert sind.«
Brea spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, vor allem, weil Allisters Worte bei den Zuschauern zustimmendes Gemurmel hervorriefen. Aber ehe sie etwas sagen konnte, fasste Jasper sie sanft am Arm. »Ich kläre das mit dem Ritter«, sagte er leise. »Rede du mit den Feen und dem Mädchen und finde eine Lösung, bevor es noch schlimmer wird.«
Sie schluckte ihren Zorn hinunter und ging zu den drei Moosweiblein. »Ich bin Brea von der Stadtgarde. Ich bitte euch, sagt mir, was geschehen ist. Weshalb gibt es Streit?«
»Alaria war immer freundlich zu uns«, sagte die älteste und hässlichste der Feen und wies mit einer knorrigen Hand auf das Mädchen. »Wir haben ihr ab und zu bei der Arbeit geholfen, bei der Wäsche vor allem. Und sie hat sich immer bei uns bedankt, hat uns Weißbrot und Milch gebracht. Als wir erfahren haben, dass sie heiraten wird, haben wir ihr ein Brautgewand genäht. Aber nun will sie unser Geschenk nicht annehmen.«
»Ich glaube, ich verstehe.« Brea nickte höflich und wandte sich an Alaria. »Möchtest du mir erzählen, wie sich alles zugetragen hat?«
Das Mädchen öffnete den Mund, aber der Ritter war schneller. »Was tut das zur Sache? Das Mädchen hat das Kleidungsstück abgelehnt, das ist ihr gutes Recht. Und wir werden verhindern, dass diese Feen sie dafür bestrafen. Ich habe erlebt, was mit Menschen geschieht, die sich dem Willen einer Fee widersetzen, sei es bewusst oder aus Versehen. Das ist unerträglich!« Allister hatte so laut gesprochen, dass ihn die Umstehenden gut hören konnten.
»Lasst Alaria antworten«, sagte Jasper und verschränkte die Arme.
»Ist es wahr, was die Fee gesagt hat?«, wandte sich Brea an Alaria.
»Ja«, sagte die junge Frau und wischte sich die Tränen ab.
»Aber warum? Du scheinst die Feen früher aufrichtig gemocht zu haben, und sie haben dir geholfen. Und nun haben sie sich die Mühe gemacht, ein Hochzeitskleid für dich zu nähen. Ich kenne die Arbeit von Feen und bin sicher, es ist wunderschön geworden.«
Alaria sah kurz zu den Feen, dann flüsterte sie. »Es ist wegen meiner Mutter. Sie hat mir verboten, es anzunehmen. Sie sagt, ein Feenkleid würde mir meine ganze Ehe lang Unglück bringen, und ich würde keine Kinder haben. Ich will unbedingt welche.«
»Deine Mutter hat Unrecht«, sagte Brea, nahm Alarias Hand und drückte sie sanft. »Ganz sicher würden diese Feen dir kein Kleid nähen, dass dir Unglück bringt. Du kennst sie doch gut! Glaubst du wirklich, sie würden dir so etwas antun?«
»Natürlich nicht«, schluchzte Alaria. »Aber was soll ich nur tun? Meine Mutter hat mir bereits ein Kleid genäht. Wochenlang hat sie daran gearbeitet. Ich kann doch nicht zwei Kleider gleichzeitig tragen! Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Ich werde mir etwas einfallen lassen«, sagte Brea leise und sah Alaria in die Augen. »Versprochen.«
»Was gibt es da noch zu reden?«, fragte Allister. Brea konnte den Ordensritter immer weniger leiden. »Die Feen sollen dahin verschwinden, wo sie hergekommen sind. Am besten zurück in die Feenwälder.«
»Die Feen leben hier schon viel länger als wir«, warnte Jasper.
»Die Zeiten werden sich ändern.« Allister betrachtete die Menge. »Es wird Veränderungen geben in Garnisath. Der Stadtrat wird Gesetze beschließen, die die Menschen vor den Feen schützen. Dies ist unsere Stadt.«
»Diese Stadt gehört den Feen und den Menschen zusammen«, mischte sich Brea ein. »Zieht Euch zurück, Ritter Allister, ich bitte Euch. Der Orden der Sonne hat hier keine Befugnisse.«
»Noch nicht«, sagte der Ritter mit einem falschen Lächeln und musterte sie hochmütig. »Was habt ihr nun vor?«
Brea ging zu den Moosweiblein und ließ sich auf ein Knie sinken, um leise und auf Augenhöhe mit ihnen sprechen zu können. »Euer Zorn ist verständlich. Aber es ist nicht Alarias Entscheidung, sie folgt nur den Wünschen ihrer Mutter. Ist es da wirklich gerecht, sie zu bestrafen, obwohl sie euch doch über Jahre hinweg eine so gute Freundin war?«
»Deine Worte sind höflich gewählt«, sagte die jüngste der alten Weiber. »Trotzdem sind wir es nicht gewohnt, dass Menschen unsere Geschenke ablehnen.«
»So etwas hat es noch niemals gegeben«, stimmte die Älteste zu. »Wir mögen Alaria, aber sie hat uns sehr verärgert.«
Brea holte tief Luft, um sich Mut zu machen. Feen waren sehr leicht beleidigt, und es war am einfachsten, sie wie rohe Eier zu behandeln. »Alarias Mutter hat ein zweites Brautkleid genäht, und ihr...