Lionel (eBook)
240 Seiten
Elysion Books (Verlag)
978-3-96000-160-7 (ISBN)
Barbara Büchner wurde 1950 in Wien geboren und wollte nie etwas Anderes werden als Schriftstellerin, und zwar Schriftstellerin für Kriminal- und Gruselromane. Ihre erste literarische Inspiration war dabei die Heftchen-Serie 'Allan Wiltons Kriminalberichte', die auch ihr Interesse für die Rechtsmedizin weckte. Nach einer guten Ausbildung und einigen missglückten Versuchen, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen, war sie siebzehn Jahre lang Journalistin. Daher sind ihre Romane immer minutiös recherchiert und beziehen sich meist auf authentische Fälle, sei es Spuk oder Verbrechen. 1985 erschien, unbeachtet von der Öffentlichkeit, ihr erstes Buch, ein Schauerroman. Dann schlitterte sie durch die Ironie des Schicksals in die Laufbahn einer erfolgreichen Kinder- und Jugendschriftstellerin, bis sie 2000 die literarische Pädagogik endgültig satt hatte und das Risiko einging, vom Horror zu leben. Literarisch beeinflusst wurde sie von E.A.Poe, H.P.Lovecraft, Conan Doyle und vor allem Dino Buzzatti. Inzwischen hat sie sich auf diesem, ihrem eigentlichen Gebiet im ganzen deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht.
Barbara Büchner wurde 1950 in Wien geboren und wollte nie etwas Anderes werden als Schriftstellerin, und zwar Schriftstellerin für Kriminal- und Gruselromane. Ihre erste literarische Inspiration war dabei die Heftchen-Serie "Allan Wiltons Kriminalberichte", die auch ihr Interesse für die Rechtsmedizin weckte. Nach einer guten Ausbildung und einigen missglückten Versuchen, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen, war sie siebzehn Jahre lang Journalistin. Daher sind ihre Romane immer minutiös recherchiert und beziehen sich meist auf authentische Fälle, sei es Spuk oder Verbrechen. 1985 erschien, unbeachtet von der Öffentlichkeit, ihr erstes Buch, ein Schauerroman. Dann schlitterte sie durch die Ironie des Schicksals in die Laufbahn einer erfolgreichen Kinder- und Jugendschriftstellerin, bis sie 2000 die literarische Pädagogik endgültig satt hatte und das Risiko einging, vom Horror zu leben. Literarisch beeinflusst wurde sie von E.A.Poe, H.P.Lovecraft, Conan Doyle und vor allem Dino Buzzatti. Inzwischen hat sie sich auf diesem, ihrem eigentlichen Gebiet im ganzen deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht.
1902, auf dem Gelände des Zirkus Barnum & Bailey
»Lass mich deine Muschi gucken, Gracie. Nur einmal gucken.«
Die beiden jungen Leute, halbe Kinder noch, hatten sich in eine der dumpfen Baracken hinter dem Zirkusgelände zurückgezogen, wo das Heu für den berühmten Elefanten Jumbo und die Pferde aufbewahrt wurde. Draußen brannte die kalifornische Sonne vom Himmel. Der Zirkus Barnum & Bailey gab seit einer Woche Vorstellungen in Los Angeles, und man musste lange suchen, um einen einigermaßen kühlen und dunklen Winkel zu finden. Wer nicht unbedingt arbeiten musste, verschlief die glühenden Mittagsstunden. Das galt vor allem für die Darsteller der Sideshow, die erst am späten Nachmittag ihren ersten Auftritt hatten: Dicke Damen, »lebende Skelette«, Albinos, Siamesische Zwillinge, Zwerge, Riesen, Männer und Frauen ohne Arme, Beine oder Unterleib, der Froschknabe, der Krokodilmann und andere Seltsamkeiten.
»Gracie, sei lieb …«, schmeichelte er.
Das Leopardenmädchen mit dem halb schwarzen, halb weißen Wollhaar und der schwarz-weiß gefleckten Haut lachte. Auf ihren dünnen nackten Beinen tanzte sie vor ihm hin und her und wedelte herausfordernd mit dem Saum ihres weißen Sommerkleidchens. »Mach ich nicht, mach ich nicht!«, sang sie, hob aber gleichzeitig den Rocksaum mit einer blitzschnellen Bewegung so weit hoch, dass ihre rüschenbesetzte Unterwäsche hervorblitzte.
Der Junge stöhnte. »Du darfst bei mir auch gucken«, lockte er.
Sie lachte ihn aus. »Päh, da sehe ich doch nichts als Haare! Aber komm, ich will dich kraulen.« Sie ließ sich auf einen der gepressten Strohballen sinken, spreizte weit die Beine und bedeutete ihm, sich mit dem Rücken zu ihr auf den Boden zu setzen. Er war enttäuscht, aber gekrault zu werden war immer noch besser als gar nichts. Vielleicht würde sie später noch mit sich reden lassen. Sie mochte ihn gerne, das wusste er. Alle Frauen im Zirkus mochten ihn, ausgenommen das merkwürdige Ding, das sich Josephine-Joseph nannte und auf der rechten Hälfte eine Frau war, auf der linken Hälfte ein Mann.
Es war so heiß, dass er es in überhaupt keinem Kleidungsstück aushielt und nur ein Seidentuch um die Hüften geknotet hatte, um der Sittsamkeit Genüge zu tun. Mit einem Gefühl wohliger Benommenheit ließ er den Kopf zurücksinken, direkt in Gracies Schoß. Was gäbe ich dafür, wenn ich jetzt hinten Mund und Augen hätte!, dachte er. Aber da krabbelten ihre schmalen, knochigen Hände schon an seinen Ohren herum, rieben die Ohrmuscheln und wühlten sich durch das üppige, weizenblonde Haar. Sie spreizte die Finger und ließ sie langsam, vorsichtig, um ihn nicht zu ziepen, falls irgendwo ein Elfenknoten steckte, wie eine Flachshechel durch die volle Länge der dicken Flechten gleiten. Dabei musste sie ihre dünnen schwarzen Arme beinahe in voller Länge ausstrecken, denn wenn er aufrecht stand, fielen ihm die langen Locken bis über die Ellbogen. Dann krabbelte sie mit den Fingern seinen Hals hinauf, seine bärtigen Wangen entlang bis zu der Nase, über deren Rücken sich das Haar in feinen Strähnen teilte, hinauf über die Stirn, an der die zoll-langen Augenbrauen bis über die Schläfen zurückgebürstet waren. Haare wuchsen ihm auf den Ohren und auf der Nase, auf den Wangen, der Stirn und dem Kinn, lang und üppig und so seidig weich, dass jedermann diese Löwenmähne berühren und streicheln wollte.
»Du riechst gut«, flüsterte sie und drückte einen verlockenden Kuss auf seinen Nacken, nachdem sie die Haarmähne ein Stück weit beiseite geschoben hatte.
Biest, dachte er. Gemeines kleines Biest. Willst du mich so lang necken, bis ich vor Aufregung platze?
»Lass mich gucken«, bettelte er, jetzt schon ein wenig gereizt, »oder ich geh zu … zu irgendjemand anderem.«
»Zu Josephine-Joseph?«, höhnte das Mädchen. »SIE mag dich ja, aber ER kann dich nicht leiden!« Sie sprang so abrupt auf, dass er beinahe auf den Rücken landete. Während er sich aufrappelte, trat sie vor ihn hin, zog ihr dünnes Sommerkleid hoch und streifte das Höschen bis zu den Knien hinunter. Der Junge japste bei dem Anblick. Auf Knie und Hände gestützt, beugte er sich so weit vor, dass seine Haarmähne den Schoß des Mädchens umhüllte. In die stickige Luft der Baracke mischte sich der säuerliche Duft ihrer entblößten Scham. Seine Zunge schob sich gierig leckend vor, verirrte sich aber in einem konfusen Gewirr aus üppigem schwarzem Schamhaar und seinem eigenen, weich-lockigen Haar, das in dichten Flechten sein gesamtes Gesicht bedeckte. Gracie schüttelte sich vor Lachen, als ihm die Haare in den Mund gerieten, als er spuckte und hustete.
»Du solltest dich mal rasieren, dann ginge es leichter!«, neckte sie ihn. Aber als sie dann sah, wie traurig und frustriert seine goldbraunen Augen aus der Haarmaske blickten, hatte sie Mitleid mit ihm. »Komm«, flüsterte sie, nahm seine Hand und führte sie zwischen ihre langen, wohlgeformten und so seltsam gescheckten Beine. »Greifs einfach an.«
Weich. Feucht. Zart. »Oh!«
»Weil du es bist, darfst du die Finger reinstecken, aber vorsichtig. Leck sie nachher ab, das schmeckt gut.«
Er gehorchte.
Sie hatte recht.
An diesem heißen Nachmittag machte der zwölfjährige Stephan Bibrowsky, genannt Lionel der Löwenjunge, zum ersten Mal die Erfahrung, dass Frauen etwas Köstliches waren. Und dass er in ihren Augen ein begehrenswerter junger Mann war, auch wenn andere Leute ihn einen Freak und ein Monster nannten.
Aufgebläht von Stolz, dass Gracie ihn erhört hatte, schlenderte er kurz vor Beginn der Nachmittagsvorstellung durch die schattigen Gassen zwischen den Zirkuszelten. Barnum & Baileys Zirkus, das war kein schmutziges Zelt mit ein paar schäbigen Wohnwagen rundherum. Das war eine Kleinstadt, mit zwölf großen, wetterfesten Pavillons, von denen einer für die Sideshow reserviert war, und einer Unzahl von Nebengebäuden, von Büros bis zu Requisitenkammern und Heuschuppen. Hier schlug das Herz der Zirkuswelt. Nachdem sein erstes Projekt, das American Museum in New York, zwei Mal abgebrannt war, hatte der Gründer Phineas T. Barnum sich auf reisende Shows verlegt. Und so viel von seinen bombastischen Behauptungen auch nur Schaumschlägerei gewesen war, das Eine musste man ihm lassen: Es gab tatsächlich auf der ganzen Welt nichts Vergleichbares. Der große Showman war vor zehn Jahren gestorben, aber sein Geist lebte in seinen Nachfolgern und deren Team weiter.
»Die größten, schönsten Leinwandzelte auf der ganzen Welt!«, trompetete die Reklame. »Zwei Großvorstellungen täglich an jedem Wochentag!« Ein Ring von Eisenbahngleisen umgab das Zirkusgelände, mit zwei mächtigen Lokomotiven und einem schier endlosen Zug von bunten Wohnwagen, die auf flachen Güterwagons aufgereiht standen. Jeder davon trug in scharlachrot und sonnengelb die Aufschrift: »The greatest Show on Earth!« Das war schon ein anderes Reisen als in einem schäbigen Wanderzirkus, dessen Wagen bei jedem Regen im Schlamm steckenblieben!
Stephan war stolz darauf, dass sein Impresario ihn in diesem Riesenunternehmen untergebracht hatte, das nur die besten, die skurrilsten, die extravagantesten Shows akzeptierte. Er fühlte sich als einer der ganz großen Stars in der Zirkuswelt. Wen gab es denn noch außer ihm? Den »Pudelmenschen« Jojo vielleicht, aber der war bei schlechter Gesundheit und schaffte nur noch wenige Auftritte.
Die mannshohen bunten Reklametafeln über dem Zelt der Sideshow trompeteten die unglaublichsten Sensationen in die Welt hinaus: Die größten Riesen, die dicksten Damen, die dünnsten Männer, die winzigsten Liliputaner, die man je gesehen hatte! Fräulein Beate, »das unstreitig dickste Mädchen, das je gelebt hatte!« Prinzessin Anastasia, die »lebende Teepuppe«, nur 48 Zentimeter groß! Der Koloss Heinrich, 324 Kilo schwer, mit dem unglaublichen Hüftumfang von 254 Zentimetern – der 25-jährige war aufgrund seines enormen Gewichts fast bewegungsunfähig und musste auf eine Ladebühne ins Zelt geschafft werden. Die Frau mit dem Maultiergesicht! Das Mädchen mit der Elefantenhaut! Die kleinste Familie der Welt! Die »Weißen Mohren« vom Nordpol! Nicht alle waren so groß, so dick, so klein, so abenteuerlich missgestaltet, wie die schrille Werbung behauptete. Bibrowsky zeigten die Reklametafeln als eine Art männlicher Sphinx mit einem Menschenhaupt und einem Löwenleib, umringt von einem Rudel weiblicher Löwen vor dem Hintergrund einer Wüstenlandschaft.
Für gewöhnlich herrschte jedenfalls beim intelligenten Publikum ein gewisses Misstrauen gegenüber der Echtheit der so lebhaft angepriesenen »Wunder der Natur«, denn Zirkusgründer Phineas T. Barnum hatte es mit der Wahrheit nie sehr genau genommen. Bluffs, inszenierte Konkurrenzen, sogar Betrügereien – der »König aller Showmen« hatte vor nichts zurückgeschreckt. Bei einem besonders unverschämten Coup hatte sich einer seiner Mitarbeiter als medizinischer Fachmann aus London ausgegeben, um die Echtheit einer »Fidschi-Meerjungfrau« zu bekräftigen. Was eine glatte Lüge war, denn das geheimnisvolle Meeresgeschöpf bestand aus dem gedörrten Oberkörper eines Affen, der geschickt auf einem großen, präparierten Fischleib angenäht war. Durch Barnums List jedoch war es 1842 zur meistbesuchten Sensation in New York geworden.
Seine Nachfolger hatten keine Skrupel, es dem Unternehmensgründer gleichzutun, sie arbeiteten ebenso mit Schwindeleien, ja ausgemachtem Betrug. Bei einigen Freaks hatten sie mit kleinen Tricks nachgeholfen: So schien die »Dame ohne Unterleib«, wenn sie auf dem Arm ihres Agenten hereingetragen wurde, unterhalb des letzten...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2022 |
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Verlagsort | Leipzig |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ausstellung • Freak • Freakshow • Jahrmarkt • Kuriosität • Lionel • Löwenmensch • Rummel • Wien • Zirkus |
ISBN-10 | 3-96000-160-6 / 3960001606 |
ISBN-13 | 978-3-96000-160-7 / 9783960001607 |
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