Das Verkehrte und das Richtige (eBook)
367 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7325-7188-8 (ISBN)
Die 80er-Jahre in der zutiefst katholischen deutschen Provinz: Die junge Anna, Streifenpolizistin in Darmstadt, wird für das großartige Feuerwehrjubiläum in ihrem geliebten Dorf als Festdame auserkoren. Dort fällt ihr der fesche evangelische Pfarrer des Nachbarorts ins Auge ('eine Mischung aus Neuem Testament und Testosteron'), und Anna ist sofort hin und weg. So nimmt das Grundverkehrte seinen Lauf ...
Annegret Held, 1962 im Westerwald geboren, arbeitete u.a. als Polizistin, Sekretärin, Altenpflegerin und Luftsicherheitsassistentin - und ist erfolgreiche Autorin. Sie bekam den Berliner Kunstpreis der Akademie und den Glaser-Förderpreis, ist PEN-Mitglied und lebt im Westerwald und in Frankfurt. Zuletzt erschien im Eichborn Verlag ihre Westerwald-Trilogie APOLLONIA, ARMUT IST EIN BRENNEND HEMD und EINE RÄUBERBALLADE.
Annegret Held, 1962 im Westerwald geboren, arbeitete u.a. als Polizistin, Sekretärin, Altenpflegerin und Luftsicherheitsassistentin - und ist erfolgreiche Autorin. Sie bekam den Berliner Kunstpreis der Akademie und den Glaser-Förderpreis, ist PEN-Mitglied und lebt im Westerwald und in Frankfurt. Zuletzt erschien im Eichborn Verlag ihre Westerwald-Trilogie APOLLONIA, ARMUT IST EIN BRENNEND HEMD und EINE RÄUBERBALLADE.
Ich war geschlagen.
Moralisch. Gesellschaftlich. Finanziell.
Der Blick der Mutter. Der Händedruck vor der Kirche. Der Raubbau an meinem Körper, in dem ein unschuldiges Etwas vor sich hin schimmerte. Meine unwissenden Eltern, mit denen ich am Nachmittag frisch geduscht auf dem Sofa »Traumschiff« sah.
Wenn nun bald alle alles wussten. Wenn mein Bauch unübersehbar wurde?
»Willst du noch einen Erdbeerschilee mitnehmen?«
Wir sagten nicht Marmelade. Es war Schilee.
Gegen Abend stand meine Mutter mit meinem Vater in der Haustür, und sie drückten mir das Glas mit der selbergemachten Marmelade in die Hand, und ich verstaute es in meiner Reisetasche. Der Erdbeerschilee brach mir das Herz. Wie immer blieben sie ewig Seite an Seite in der Tür stehen und winkten mir nach in ihrer Ahnungslosigkeit. Ich hatte sie beschissen. Noch eine Schippe drauf auf meinen Schuldbuckel. Wofür also all die Jahre Elternabend und die Kutschfahrt zu später Stunde in die Tanzstunde Schöffel, wofür all das Kirmesgeld und die Sonderschichten Mathepauken beim Abitur? Damit ich eines Tages mit einem Kind und ohne Mann dastand. Erdbeerschilee.
Kaum war ich den Hügel hinunter und wieder hinauf nach Hellersberg gefahren, kaum fuhr ich von Linnen nach Langdehrenbach durch das schönste Kirschblütental der Welt, brach es aus mir heraus. Die Tränen liefen mir wie Schlossbäche die Wangen herunter, und bis Lemberg war mein inneres Wasserbassin so übergelaufen, dass mein Lenkrad glitschig wurde von Rotz und verheultem Geschmiere. Die Auffahrt auf die Autobahn schaffte ich noch, aber von da an brach die Dunkelheit herein und Regen setzte ein und die Lichter der gegenüberliegenden Fahrbahn schimmerten in Prismen durch meine Windschutzscheibe. Ich fuhr durch die Welt wie durch eine schwarze Waschmaschine; ich sah schon seit längerer Zeit nichts mehr, ich fuhr einfach weiter, nun aber war ich ein schlingerndes Schiff auf hoher See, ich hörte es hupen von überall und wusste nicht mehr, wie alles funktioniert, die Kupplung, die Pedale, ich heulte mich in eine dunkle Hölle hinein. Und da rief ich haltlos und unverdient die Engel, das Licht, das in der Wand erschienen war, ich rief Gott und Jesus und Mutter Maria und alle Heiligen.
Die Reaktion war blitzartig. Sofort. Ich schwöre. Ob du es glaubst oder nicht.
Die Heiligen oder der Himmel oder die Engel griffen augenblicklich ins Lenkrad. Über mich senkte sich ein Schleier unendlichen Trostes, und jemand fuhr für mich in einer seltsam verlangsamten Zeit. Ich war sicher, sah und hörte noch immer nichts, hatte nur dieses Gefühl von Schutz und gewaltiger Liebe, die mich samt Auto in einen Kokon hüllte. Als sei die Luft doppelt so dick, durchsichtig, aber von einer fühlbaren Konsistenz, stark genug, um physisch zu werden und ein Lenkrad zu packen. Ich beruhigte mich. Ich ließ mich einfach fahren. Wir machten keine Pause. Es war alles gut.
Alles gut. Es waren Engel. Es war Mutter Maria. Es war irgendjemand. Das muss mir keiner glauben, mir liegt nichts daran, ob mir jemand das glaubt. Ich fordere auf, es nicht zu glauben. Aber das Etwas konnte Auto fahren. Besser als damals der Omnibusfahrer vom Beul zur Schule. Besser als mein Fahrlehrer, der Herr Willkomm. Ich schwebte sanft wie auf einem Teppich aus Tausendundeiner Nacht. So wie mich als Kind die Möbelmänner getragen hatten, als ich auf dem Sofa eingeschlafen war. Ich ruhte wie in einer selbstgezimmerten Wiege von Scholmerbach. Ich war selber die Wiege, und ich glaubte meinen Bauch zu spüren, aus dem das Lichtpünktchen so sanft und fein herausschimmerte, dass ich ein Laternchen im Bauch zu tragen meinte. Meine Tränen trockneten klebrig, meine Nase war verschwollen, meine Augen verquollen. Ich war so unendlich getröstet von dieser wunderbaren Himmelsfahrt.
Mir konnte nichts Böses geschehen. Das wusste ich nun. Zum Dank wollte ich alles besser machen. Ich wollte mich erkenntlich zeigen. Fleißig lernen. Mein Gesicht waschen und die Haare schön kämmen. Früh zu Bett gehen. Früh aufstehen. Tagebuch schreiben. Rotkäppchen trinken. Malzbier. Ja, Malzbier sollte auch helfen. Ich wollte mich anstrengen im Namen des Herrn.
Ich war so froh, als ich in der WG ankam und Ria in der Küche fand.
»Na, und … wie?«
Sie schien ein wenig mürrisch, weil sie sich den ganzen Sonntag für die Prüfung über das Mysterium Tremendum vorbereitet hatte und ich nicht.
»Ja, bin froh, wieder hier zu sein.«
»Hast du dich vorbereitet, um den Seminarschein zu kriegen?«
»Äh, Mysterium Tremendum. Wollte ich noch machen. Was heißt das noch mal?«
»Das ist, wenn ein Eingeborener seine Gottheit erblickt.«
»Oh ja, ich weiß, es fällt mir wieder ein.«
Mir fiel gar nichts ein, und ich wusste überhaupt nichts. Ich musste das aufholen. Ich wollte eine gute Studentin werden.
»Hier ist Erdbeermarmelade für die WG.«
»Ah, toll! Hast du Schnupfen? Du siehst derart verquollen aus!«
Ich war so froh, Ria zu sehen, ich war in Sicherheit, Licht brannte, die Yucca-Palme im Flur stand so schräg und ein wenig angegilbt, wie immer. Die Märchen der Völker, die Bände aus Litauen und der Mongolei, lagen auf dem Gelsenkirchener Telefontisch, den Onkel Hinz uns aufgebrummt hatte, am Haken hingen jede Menge Wollsachen. Ich war in Heidelberg noch nicht daheim, aber mit Ria hatte ich einen Gutteil von Scholmerbach herübergerettet. Albert kam zu Besuch, der vor seiner verrückten Frau davongelaufen war und nun mit seinem Sohn gegenüber wohnte. Heidi übte mit ihren Medizinfreunden nebenan Blutabnehmen. Wir hatten es geschafft, uns im Provisorium mit Apfelsinenkistenregalen, Oma-Sesseln und ausrangierten Tischen gemütlich einzurichten. Meine Furnierschränke und das Klappbett vom Möbel Franz waren etwas zu schön dafür, aber wenn man es mit ethnologischen Decken behängte, dann ging es. Ich musste damit leben, dass ich mich vielleicht eine Weile nicht nach Scholmerbach trauen konnte. Vielleicht würde das Provisorium für lange Zeit meine Heimat sein und die meines Kindes.
Ich überlegte, in welche Apfelsinenkiste man so ein Kind denn legen könnte. Aber bis dahin war noch so lang, so, so lang. Es würde ein anderes Jahr sein und eine gänzlich andere Jahreszeit, das Kind würde im Sommer geboren werden. Mir genügte es, dass es nun schlummerte in meinem Bauch und nichts Weiteres zu tun hatte, als ein wenig herumzuschwimmen. Etwas in mir kriegte Beinchen und Ärmchen, etwas in mir pulste mit meinem Herzen. Etwas in mir bildete spektakulär ein Nervensystem aus und ein Wirbelsäulchen und ein Köpfchen. Ich würde niemals wieder für mich alleine atmen. Ich hatte etwas zu beschützen. Meine Wunderkugel im Leib. Von nun an passte ich besser auf im Straßenverkehr. Von nun an machte ich täglich Leibesübungen! Von nun an achtete ich auf Obst und frische Luft! Ich würde vorsichtiger die Treppen heruntersteigen und nicht mehr so schwer tragen. Ich würde mich in rauchfreie Zonen setzen. Ich würde nie mehr an Zigaretten ziehen.
Ich gelobte Besserung. Oben und unten und hinten und vorn. Egal was geschah. Wenn ich schon gerettet wurde aus einer rutschigen Hölle vor Tod und Verderben, dann musste ich mich erkenntlich zeigen und verdammt noch mal zusammenreißen.
Albert schlurfte aus der Küche, die am Arm blutenden Mediziner verabschiedeten sich von Heidrun, und Ria suchte nach Wein.
»Wir wollten zusammen Tatort gucken, was meinst du?«
Tatort war großartig. Tatort mit Schimanski, und wenn er fluchen und sich schlagen sollte, dann wollte ich mir die Augen und die Ohren zuhalten, denn Gewalt war nichts für mein Kind! Unsinn, es war überhaupt noch kein Kind. Aber ich wollte nichts anderes, als mit Albert, Ria und Heidi zusammen in den leuchtend roten Kissen sitzen, in denen man immer verrutschte.
Schimanski schrie »Scheiße«, Albert nannte ihn einen Vollproleten, lehnte sich zurück und drückte seinen blonden Zopf in die Kissen. Und schon gab es in Duisburg auf die Fresse, und dann wurden die Weingläser gehoben … in meinem Fall ein Pfefferminztee. Ich fühlte mich wunderbar, heimelig und eigenartig getröstet für alle Zeit.
»Also, es gibt Bundeserziehungsgeld«, sagte Barbara mit der ausgeleierten Dauerwelle am Naturholztisch bei Pro Familia. Ihre Handgelenke steckten in selbstgestrickten Pulswärmern mit Ringelmuster, und sie bot mir ein Nimm-Zwei an.
»Und dann gibt es noch 600 Mark monatlich aus der Heiner-Geißler-Stiftung, die heißt ›Mutter-und-Kind‹.«
Ich war baff. Noch niemals hatte ich Heiner Geißler derart toll gefunden. Ich hatte mir bisher überhaupt keine Gedanken über Heiner Geißler gemacht, der mich nun so überaus großzügig unterstützte. Ich kam also mit dem Bafög auf über tausend Mark, o mein Gott, das war so viel und es war ganz einfach, so einfach. Wenn ich einfach in meinem Zimmer blieb mit dem Kindchen, wenn ich es in eine Apfelsinenkiste steckte … vorerst … Vielleicht heiratete Heidrun irgendwann einen Urologen oder einen Vertreter medizinisch-technischer Geräte oder einen vom Blutspendedienst. Dann könnte ich das Zimmerchen vielleicht dazunehmen … oder vielleicht könnte ja auch ich selbst noch mal … Blödsinn. Mit mir und den Männern war Hopfen und Malz verloren. Das gab nie mehr was.
Unmöglich. Ich war bedient.
»Und dann müssen wir uns ja mal um die Vaterschaftsanerkennung kümmern. Das wird notariell durchgeführt. Das Jugendamt besteht dadrauf. Der muss ja auch was zahlen; da kommt der nicht drumherum.«
»Ach du Scheiße«, sagte ich wie Schimanski. »Das ist … das möchte ich nicht. Ich...
Erscheint lt. Verlag | 25.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Das Verkehrte und das Richtige |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 80er-Jahre • Affäre • Apollonia • Armut ist ein brennend Hemd • Auf dem Land • Dorffest • Ehebruch • Eine Räuberballade • Evangelisch • Feiern • Festzelt • Feuerwehrfest • Gegenwartsliteratur • Katholisch • Klatsch • Liebe • Liebesbeziehung • Liebesgeschichte • Nostalgie • Pfarrer • Priester • Provinz • Scholmerbach • Skandal • Tratsch • Trinken • unehelich • Uneheliches Kind • Westerwald • Westerwald-Trilogie |
ISBN-10 | 3-7325-7188-2 / 3732571882 |
ISBN-13 | 978-3-7325-7188-8 / 9783732571888 |
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