Eine Reise in das Innere von Wien (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490348-4 (ISBN)
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
Gerhard Roth, geboren 1942 in Graz und gestorben im Februar 2022, war einer der wichtigsten österreichischen Autoren. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens« und den nachfolgenden Zyklus »Orkus«. Zuletzt erschienen die drei Venedig-Romane »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«, »Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier« und »Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe«. Sein nun letzter Roman »Die Imker« ist im Mai 2022 erschienen. Literaturpreise (Auswahl): Preis der »SWF-Bestenliste« Alfred-Döblin-Preis Marie-Luise-Kaschnitz-Preis Preis des Österreichischen Buchhandels Bruno-Kreisky-Preis 2003 Großes Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2003 Jakob-Wassermann-Preis 2012 Jeanette-Schocken-Preis 2015 Jean-Paul-Preis 2015 Großer Österreichischer Staatspreis 2016 Hoffmann-von-Fallersleben-Preis 2016
Das k.k. privilegierte Hetztheater
Das runde Gebäude war aus Holz, drei Stockwerke hoch und hatte einen gemauerten Haupteingang. Es bot dreitausend Zuschauern Platz. Im Inneren befanden sich eine kreisförmige Arena und ein Wasserbassin mit einem Durchmesser von 42, beziehungsweise 4,5 Metern. In der Mitte der Arena war ein 13 Meter hoher »Steigbaum« aufgestellt, den die sogenannten »Hetzknechte«, die das Spektakel in Gang hielten, bei Gefahr erkletterten. Auf einem Stich aus dem Jahr 1790 ähnelt das Gebäude einem abgeschnittenen Turm oder einem breiten, niederen Schornstein. Der Zeichner hat die Perspektive aufgeklappt, um Einsicht in die Arena zu geben. Bei aller Genauigkeit hat er dadurch eine kindliche Note in das Bild gebracht, so als habe man nicht ein Hetztheater, sondern ein inzwischen in Vergessenheit geratenes Kinderspielzeug vor sich. Die Zuschauergalerien sind in Logen unterteilt und das Publikum ist nur als gesichtslose Masse erkennbar.
Auf der Spitze des Steigbaumes weht eine Fahne. Natürlich ist die Vorstellung von einer Stierkampfarena naheliegend. Die Tiere, die die Arena »bevölkern«, sind unverhältnismäßig groß gezeichnet. Es ist vom ersten Blick an klar, daß der Künstler die Aufmerksamkeit auf sie lenken will. Die Aufsichtsperspektive ist über das Theater geschoben, wie ein geschliffener Briefbeschwerer, der zugleich eine Lupe ist. Insgesamt sind vier Hetzknechte und mehr als zwanzig Tiere zu sehen: Hunde, Bären, ein Löwe, ein Tiger oder Panther, Wildschweine, Auerochsen. An einem Flaschenzug hängt ein Bär. Ein anderer wird im Bassin von Hunden angefallen.
Der Ausschnitt der Umgebung um das Hetztheater ist im Vergleich zu anderen Einzelheiten im Bild mit größerer Genauigkeit festgehalten. Vor dem Gebäude befindet sich ein Holzzaun. Menschen spazieren auf den Eingang zu, zwei Pferdekutschen traben heran. Links vom Gebäude, auf einem kleineren, freien Platz Hundehütten, Hunde und zwei Hetzknechte mit Peitschen, die die Tiere aus dem Zwinger treiben.
Drei Knechte reiten auf großen Hunden durch eines der Tore in die Arena.
Der Eingang, von zwei Soldaten bewacht, hat ein Satteldach, darunter, auf einem Balkon tummelt sich Publikum. Im Theater spielt eine Musikkapelle, »sehr laut, vornehmlich türkische Musik«, wie es heißt. Rechts vom Eingang das Haus des Verwalters, der für die Haltung der Tiere sorgt. Dahinter Bäume. Wie die meisten Fußballstadien heutzutage liegt das Hetztheater auch eher an der (damaligen) Peripherie der Stadt. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gab es in Graz, Preßburg und Regensburg ähnliche Unternehmen. Das Hetzamphitheater auf der Landstraße war das dritte und größte seiner Art in Wien. Das erste befand sich in der Leopoldstadt ab dem Jahr 1708. Es wurde später in den Gasthof »Zum schwarzen Adler« verlegt. 1736 entstand ein größeres am Heumarkt, das aber 1743 wieder aufgelassen wurde. Das letzte und größte, von dem hier die Rede ist, wurde 1755 von einem Franzosen, dem »kays. königl. Theatral Dantzer« Carl Defraine zwischen den heutigen Gebäuden Hintere Zollamtsstraße 13 und Hetzgasse 2 im dritten Wiener Gemeindebezirk errichtet.
Der Name der Gasse erinnert an das Unternehmen, das hier bis 1796 stand. Auch eine Redewendung, die sich in Österreich längst verselbständigt hat und von Alten wie Jungen gebraucht wird, um auszudrücken, daß etwas besonders heiter und anregend gewesen ist, ist darauf zurückzuführen: »Das war eine Hetz«. Das Hetztheater erfreute sich großen Zulaufes, obwohl die Eintrittspreise hoch waren.
Die Vorstellungen fanden vom März bis November statt, begannen am frühen Nachmittag und dauerten zumeist bis zum Einbruch der Dunkelheit. Zwanzig Tierfallen waren im Amphitheater untergebracht, zu denen sechs Aus- und Eingänge in die Arena führten. Auf die Veranstaltung wurde jeweils am Vortag durch einen Umzug aufmerksam gemacht. An der Spitze marschierten zwei Trommler, dahinter folgten auf einem geschmückten Schimmel der »Hetzmeister« und sechs in gelbes Leder gekleidete Männer, die Ankündigungszettel verteilten.
»Gewöhnlich fing man die Vorführung mit Stieren an;«, schreibt Helmut Kretschmer in seinem Buch über den Wiener Bezirk »Landstraße«, »zwei in rote Gewänder gehüllte Strohpuppen waren dazu da, die Aufmerksamkeit des freigelassenen Stieres zu erregen. Daraufhin wurden wilde Hunde in die Arena gelassen, die den wütenden Stier attackieren sollten. Diese Tiere, die Hauptrolle spielten oft auch Bären – wurden nicht nur von Hetzhunden, sondern auch von Menschen gejagt. Sehr häufig gab dies unter dem Publikum Anlaß zu Wettabschlüssen auf den mutmaßlichen Sieger«.
In einem Bericht eines Wienbesuchers aus dieser Zeit wird die Armseligkeit der Veranstaltungen deutlich: »Ich war ganz Aug, das erste streitbegierige Tier zu sehen und was war es? – Ein dürrer, ausgemergelter ungarischer Ochs. Diesem hatte man auf den Rücken einen Strohmann gebunden, und in der Mitte des Hetzplatzes einen ähnlichen entgegengestellt. Es wurden einige Granaten auf ihn geworfen, ihn zu erbittern; man ließ die Hunde los, die ihm aber nichts abgewinnen konnten, bis er endlich auf das kleine Strohmännchen zulief und dem armen Dinge seine Hörner durch den Bauch stieß, sich aber so verwickelte, daß er das Männchen nicht in die Höhe, noch sich losreißen konnte, weil es mit Blei von unten gefüllt war. Die Hunde zerrissen dem Ochsen ganz jämmerlich die Ohren; das arme Tier brüllte vor Schmerzen gegen eine Viertelstunde, bis endlich die Hetzknechte ihm ein Seil um die Hörner warfen, ihn losmachten und zurückführten.
Hierauf kam ein Tanzbär, der sogleich zwei Hunde zusammendrückte und wieder in seinen Kotter schloff. Nach diesem ward ein Wolf ausgelassen, der sich mit drei Hunden herumbiß und nichts weiter tat.
Aber jetzt sollte ein grimmiger Kampf beginnen. Drei Wölfe, drei Waldbären (von denen zwei mit Zangen aus der Falle gezogen wurden), ein Wildschwein, ein Auerochs und ein Esel kamen zum Vorschein – und was geschah? Memorabile dictu! Sie standen da, sahen sich an und wunderten sich über das seltsame Glück, einander in Gesellschaft zu sehen. Der Esel lief umher und schrie I-a I-a I-a I-a. Die Wölfe hüpften in die Höhe, zwei Bären verscharrten sich und ein dritter stieg auf den Fallbaum oder die Steigleiter, und darüber entstand ein so allgemeines Gelächter, daß ich mich über das allgemeine Lachen ärgerte.«
Aus dem Bericht geht hervor, daß man die Tiere zuerst reizen, ihnen einen Schmerz zufügen oder sie hungrig machen mußte, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Übrigens gab es neben den Tierhetzen auch Darbietungen von Zirkusartisten. 1776 trat der englische Reitkünstler Simson auf, der auf einem galoppierenden Pferd einen Kopfstand vorführte, auf dem Pferde stehend drei Fuß hoch in die Höhe sprang und vom Sattel aus einen hundert Pfund schweren Gegenstand aufhob.
1768 starb der Besitzer des Hetztheaters und das Etablissement wurde als drittes neben dem Hofburgtheater und dem Theater nächst dem Kärtnertore unter die Verwaltung der »k.k. Obersten Theatral-Direktion« gestellt, und von diesen verpachtet. Die beträchtlichen Einnahmen kamen angeblich der Armenkasse zugute. Am 1. September 1796 brannte das Hetztheater über Nacht ab.
Die Wiener Zeitung vom 3. September 1796 berichtete ausführlich: »Des Abends, nach 8 Uhr, brach in dem Hetz-Amphitheater, unter den Weißgärbern, im Heustadl, ein heftiges Feuer aus, das in diesem ganz von Holz erbauten Gebäude schnell um sich griff und es in Zeit von wenigen Stunden bis auf den Grund abbrannte. Bei der gänzlichen Windstille und den eilig herbygekommenen sehr zweckmäßigen und wirksamen Anstalten war man so glücklich, alle nebenstehenden Häuser, Gärten, Magazine und Holzvorräte vollkommen zu retten, und ist dabey kein Mensch zu Schaden gekommen. Aber in dem Hetzgebäude ist alles von der heftigen Flamme verzehrt worden; bloß einige Hunde und der Auerstier wurden gerettet und in Sicherheit gebracht. Alle übrigen zahlreichen und kostbaren Thiere, zwei Löwen, ein Panther, mehrere Bären, Wildschweine, Ochsen, etc. kamen, unter entsetzlichem Gebrülle, in den Flammen um. Nach 12 Uhr waren diese gelöscht und nach und nach ward auch das Kohlfeuer gedämpft.« Ein anderer Bericht ergänzt: »Der Fuchs rettete sich selbst, indem er unwissend wie, aus seinem Behältnisse entkam, sich mitten auf dem Hetzplatze in die Erde vergrub, und auf solche Art sich den Flammen entzog … Am folgenden Tage sah der Fuchs ganz possierlich aus seiner Höhle heraus und rekognoszierte die Gegend, ob noch Gefahr vorhanden sey, worauf er dann gefangen wurde.«
Der Wert der umgekommenen Tiere wurde auf 24000 Gulden geschätzt.
Ein kolorierter Stich von H. Löschenkohl aus dem Jahr 1796 hält den Brand fest. Es ist ein schwarzes Bild, ein Nachtbild. Die Menschenmenge wird vom brennenden Hetztheater durch zum Teil berittenes Militär mit gezücktem Säbel, zum Teil durch Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett ferngehalten. Das Theater selbst stürzt gerade inmitten hoher, orangeroter Flammen ein, nur ein Teil ragt noch als Ruine hervor. Der Steigbaum mit dem Flaschenzug steht wie ein Galgen im Feuer. Rechts vorne das Schattenbild eines Hundes und des geretteten Auerochsen.
Gibt es ein theatralischeres Ende als ein Feuer?
Kaiser Franz II. erteilte keine Bewilligung mehr zur Abhaltung von Tierhetzen. Das »Theater«...
Erscheint lt. Verlag | 6.8.2016 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Bericht • Die Archive des Schweigens • Gugging • Hetztheater • Katakomben • Meldemannstraße • Reise • Roman • Streifzug • Wien |
ISBN-10 | 3-10-490348-4 / 3104903484 |
ISBN-13 | 978-3-10-490348-4 / 9783104903484 |
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