Um unsere Webseiten für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend zu verbessern, verwenden wir Cookies. Durch Bestätigen des Buttons »Akzeptieren« stimmen Sie der Verwendung zu. Über den Button »Einstellungen« können Sie auswählen, welche Cookies Sie zulassen wollen.

AkzeptierenEinstellungen

Drecksarbeit (eBook)

Geschichten aus dem Maschinenraum unseres bequemen Lebens

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Knesebeck Verlag
978-3-95728-572-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die Folgen unseres Konsums, greifbar gemacht anhand eindrücklicher Reportagen aus aller Welt Im kenianischen Hinterland machen Arbeiterinnen auf einer Rosenfarm Überstunden, weil in Deutschland bald Valentinstag ist. Am Stadtrand von Kalkutta färben Bengalen ohne jede Schutzkleidung Unterhosen für europäische Discounter. Es sind diese Zusammenhänge zwischen unserem Leben im bequemen Europa und der harten Realität in Entwicklungsländern, die Jan Stremmel in zehn dringlichen wie mitreißenden Reportagen schildert. Er zeigt, dass unser Alltag nur möglich ist, weil wir unbequeme Arbeit dorthin ausgelagert haben, dass unser Konsum Teil des Problems ist - und damit auch Teil der Lösung. Grillkohle aus Tropenholz, Sandraub für Feriensiedlungen, Fischer in der Wüste Innerhalb von fünf Jahren war Jan Stremmel in mehr als vierzig Ländern unterwegs. Fernab touristischer Hotspots oder traumhafter Strände besuchte er Orte, an denen die Auswirkungen unserer globalisierten Welt besonders deutlich sind -Textilfabriken in Asien, ausgetrocknete Seen in Kasachstan oder südamerikanische Kaffeeplantagen. Von seinen Eindrücken berichtet Stremmel in packenden, dicht erzählten Reportagen und deckt die Zusammenhänge zwischen unserem bequemen Europa und der harten Realität in den Entwicklungsländern auf. Seine Erzählungen bieten einen ehrlichen Einblick in das Leben als Reporter und lassen uns auch unseren täglichen Konsum überdenken. 

Jan Stremmel, geboren 1985, arbeitet als Reporter für die Süddeutsche Zeitung am Wochenende. Seine Texte erhielten diverse Auszeichnungen und wurden mehrfach für den Axel-Springer-Preis nominiert. Er studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik in München und Santiago de Compostela und absolvierte die Deutsche Journalistenschule. Wenn er keine Reportagen schreibt, dreht er welche fürs Fernsehen, unter anderem für Galileo. Er lebt in Berlin.

Jan Stremmel, geboren 1985, arbeitet als Reporter für die Süddeutsche Zeitung am Wochenende. Seine Texte erhielten diverse Auszeichnungen und wurden mehrfach für den Axel-Springer-Preis nominiert. Er studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik in München und Santiago de Compostela und absolvierte die Deutsche Journalistenschule. Wenn er keine Reportagen schreibt, dreht er welche fürs Fernsehen, unter anderem für Galileo. Er lebt in Berlin.

UNTER SANDRÄUBERN


Irgendwas stimmte nicht; das hatte ich von Anfang an gespürt. Die Boeing 737 der Royal Air Maroc war zehn Minuten vorher vom Münchner Flughafen gestartet. Jetzt erlosch, irgendwo über Rosenheim, mit einem Bing das Anschnallzeichen. Die Frau neben mir stand auf und zog eine dicke rote Fleecedecke aus dem Gepäckfach über uns. Überall in den Reihen vor und hinter mir ging das Sitzverstellen und Gemütlichmachen vor einem Nachtflug los. Nur die seltsame Gruppe Männer hinten in der Kabine rührte sich nicht.

Flug AT823 von München nach Casablanca war halb leer. Vor dem Einsteigen hatten wir eine halbe Stunde im Bus auf dem Rollfeld gewartet, während zwei Autos der Bundespolizei mit laufenden Motoren vor dem Flugzeug standen. Schließlich waren zwei Uniformierte aus der Maschine gestiegen und weggefahren. Als sich endlich die Bustüren öffneten, stieg ich die Treppe rauf und in den Flieger; als einer der Ersten. Dachte ich jedenfalls. Aber im Heck, bei den Toiletten, saß bereits regungslos diese Gruppe. Fünf schwarzhaarige Männer, hintereinander auf den Fensterplätzen, in sich versunken, als wären sie im Moment des Hinsetzens eingeschlafen. Und neben ihnen, auf den Plätzen am Gang, fünf kräftige Männer in Kurzarmhemden, die hellwach und etwas grimmig nach vorne guckten. Was war das für eine seltsame Truppe, in der niemand sprach, niemand lachte? Und warum verteilten sie sich nicht auf die vielen freien Reihen?

Ich löste den Gurt, stand auf und schwankte nach hinten. Das vorderste Kurzarmhemd blickte sofort misstrauisch auf. Ich lächelte, guckte suchend in Richtung Toilettentür und schob mich vorbei, während ich irgendwas brummte, das klingen sollte wie »Na, zum Glück ist gerade nicht besetzt, haha«. Aber der kurze Blick in die Sitzreihe hatte gereicht: Mir zog sich der Magen zusammen. Der Mann im Hemd trug Quarzhandschuhe; schwarz, mit Verstärkungen an den Knöcheln. Mit solchen Dingern kann man Unterkiefer brechen, ohne sich weh zu tun. Noch mehr erschreckt hatte mich aber der Blick auf den Platz daneben. Der schwarzhaarige Mann, der dort saß, weinte, während er stumm aus dem Fenster sah. Seine Arme waren mit Handschellen an die Lehnen gefesselt.

Ich saß in einem Abschiebeflug. Von diesen Flügen hört man sehr wenig, oft gibt es Protest. Aber die Flüge finden trotzdem statt. Auf wenig gebuchten, oft nächtlichen Verbindungen nach Lagos oder Tirana werden täglich Migranten »rückgeführt«, wie es offiziell so zivilisiert heißt, wenn Bundespolizisten mit Kampfhandschuhen Leute gegen deren Willen in ein Land bringen, mit dem Deutschland ein Abkommen hat.

2020 waren es insgesamt zehntausendachthundert Menschen; Albaner, Georgier, Serben, aber auch Afghanen, Syrer und Nigerianer. Hundertneununddreißig Menschen schob man nach Marokko ab. Was noch nicht heißen musste, dass die fünf gefesselten Männer in meinem Flieger auch von dort kamen. Marokko gilt als Transitland, das sich für viel Geld dazu verpflichtet hat, Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten von Deutschland zurückzunehmen. Was genau mit den Menschen geschieht, nachdem deutsche Polizisten sie dort ausgesetzt haben, weiß niemand genau. Und es interessiert auch niemanden so richtig.

»Wirtschaftsflüchtlinge«, wie man oft die Menschen nennt, die nicht vor Krieg, sondern vor Armut geflohen sind, haben keinen Anspruch auf Asyl. Damit gelten sie als Flüchtlinge mit Luxusproblem. Die Migrationspolitik blendet gerne aus, dass Millionen Menschen in weiten Teilen Afrikas auch ohne akuten Bürgerkrieg oder politische Verfolgung kaum in der Lage sind, die eigene Familie zu ernähren; dass längst auch Klima- und Umweltprobleme Menschen aus ihrer Heimat vertreiben; dass diese Probleme mitunter durch die globale, von Europa entscheidend mitbestimmte Wirtschaft verursacht und verstärkt werden. Es wird so getan, als hätten wir im Norden nichts damit zu tun.

TRADITIONELLE FISCHERBOOTE AUS BUNT BEMALTEM HOLZ LAGEN SCHIEF AUF HANDBALLGROSSEN VULKANSTEINEN, SCHWARZ UND HEISS WIE HERDPLATTEN. DIESE STRÄNDE WAREN TOT, ABGENAGT BIS AUF IHR SCHWARZES GERIPPE.

Auf dem Klo spritzte ich mir lauwarmes, nach Eisen riechendes Flugzeugwasser ins Gesicht. Was für ein zynischer Zufall: Fünf Menschen wurden ausgerechnet in dem Flugzeug gefesselt nach Afrika deportiert, in dem ich unterwegs war, um über eines der vielen Probleme zu berichten, wegen der Menschen Afrika verlassen. Ich schlief während des Fluges keine Sekunde. Ich war aufgewühlt.

Aber auch mein eigenes Thema beschäftigte mich. Das Ganze klang für mich immer noch unglaublich. Auf den Kapverden, einem der beliebtesten Strandparadiese der Welt, verschwanden die Strände. Weil sogenannte ladrões de areia, Sandräuber, sie illegal wegschaufelten. Warum um Himmels willen taten sie das? Und was passierte mit dem Sand?

Mit diesen Fragen im Kopf landete ich weit nach Mitternacht auf dem Aeroporto Internacional Nelson Mandela. Meine Kollegen Vanessa und Andi, mit denen ich eine Reportage über den Sandraub drehen würde, waren schon früher geflogen, mit der TAP-Verbindung über Lissabon, die bei Touristen beliebt ist und den Fluggästen den Anblick von Afrikanern in Handschellen erspart.

Als ich in den heißen Ostwind hinaustrat, der auch nachts noch von Afrika her in die Palmen blies wie ein Föhn, war mein Mund trocken und die Beine juckten vom langen Sitzen. Die Außenwände des Flughafens waren bemalt mit Fischern, die ihre Netze vom Land aus in tiefblaues Wasser warfen. Es war eine Vorschau auf das, was die meisten Gäste erwarteten, wenn sie hier ankamen: Berge, frischen Fisch, herrliche Strände.

Neben einem schwarzen Kleinwagen wartete Celestino, unser Mann vor Ort. Trotz der immer noch sechsundzwanzig Grad steckte sein frisch gebügeltes Hemd perfekt in der frisch gebügelten Hose. In der Hand hielt er eine Flasche Wasser für mich. Ich mochte ihn sofort. Celestino hatte sein ganzes Leben hier auf Santiago verbracht, der größten Insel der Kapverden. Er arbeitete als Englischlehrer in Praia, der Hauptstadt, und wenn er Urlaub hatte, half er ausländischen Reportern bei der Arbeit. Solche einheimischen Helfer nennt man Fixer, und oft liegt es an ihnen, ob eine Recherche ein Erfolg wird oder eine Katastrophe. Celestino hatte den Kontakt zu Sandräubern hergestellt und sie überredet, sich bei ihrer illegalen Tätigkeit begleiten zu lassen.

Hinter mir ratterten die Plastikkoffer der erschöpften Urlauber in Richtung der Hotelbusse, die schon mit laufendem Motor auf sie warteten. Die meisten würden morgen oder übermorgen, nach einem kurzen Rundgang durch die Hauptstadt, weiterfahren, per Fähre auf die nördlich gelegenen Inseln Boa Vista oder Sal, mit ihren All-inclusive-Resorts und paradiesisch weißen Surf-Stränden. Celestino und ich schlugen die Gegenrichtung ein: westwärts; in die Gegend, die die meisten Gäste auch bei Tag nie sehen würden – vermutlich auch nicht sehen wollten, wenn sie wüssten, wie es dort aussieht. Celestino schaltete das Radio an und kurbelte das Fenster hoch. Das Zischen der Klimaanlage vermischte sich mit Afropop. Bald ließen wir die beleuchteten Straßen hinter uns.

Die neun kapverdischen Inseln trotzen sechshundert Kilometer westlich des Senegal dem Atlantik. Ursprünglich waren sie unbewohnt; bis Portugal sie besetzte und jahrhundertelang als Verladehafen nutzte, für das seinerzeit wertvollste Exportgut, das der europäische Kolonialismus aus Afrika zog: Sklaven. Heute sind die Kapverden eines der beliebtesten Urlaubsziele des Kontinents. Das Klima ist angenehm, das Essen nicht zu ungewohnt, das Land sicher. Cabo Verde ist eine der wenigen Demokratien Afrikas; die Menschen sind für afrikanische Verhältnisse wohlhabend. Sein Markenzeichen trägt das Land schon im Namen der Hauptstadt: Praia bedeutet nichts anderes als Strand. Bald, dachte ich, könnte der Name ein leeres Versprechen sein; genau wie die »gute Luft« von Buenos Aires. Eine Erinnerung an bessere, lang vergangene Zeiten.

Für eine Diebin fing Dita ziemlich spät mit der Arbeit an. Sie stahl ihre Beute nicht im Schutz der Dunkelheit, wie ich erwartet hatte. Sondern tagsüber, von acht bis vier. Es war schon hell und backofenheiß, als sie hinter der verabredeten Linkskurve irgendwo in den ausgedörrten Hügeln über Porto Gouveia unter einem Ölbaum hervortrat. Sie blickte sich um; dann hob sie zögernd die Hand. Eine Frau mit den kräftigen Schultern einer Arbeiterin und dem sanften Gesichtsausdruck einer vierfachen Mutter. »Bom dia«, murmelte sie, während sie die Gruppe musterte, die ihr da aus dem Auto entgegenstieg: Zwei blonde Männer, einer davon mit Kamera, das war Andi; eine Frau mit Klemmbrett, Vanessa, die Redakteurin; und schließlich Celestino, unser Fahrer und Übersetzer.

Dita trug Flip-Flops und die übliche Kleidung ihres Berufsstands: Ein sonnengebleichtes Top und zwei luftige Baumwolltücher. Das eine um die Hüfte...

Erscheint lt. Verlag 1.12.2021
Reihe/Serie Knesebeck Stories
Knesebeck Stories
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arbeitssklaven • Ausbeutung • Billiglohnarbeiter • Billiglohnländer • Billigproduktion • Entwicklungsländer • Fair-Trade • Fast Fashion • Gesellschaft • Globalisierung • Green New Deal • Kapitalismus • Konsumkritik • Kritischer Konsum • Nachhaltigkeit • Niedriglohnländer • ökologisch handeln • Reisebericht • Sandmafia • Südostasien • Textilfabrik • Textilindustrie • Umweltverschmutzung • Wanderarbeiter • Weltwirtschaft • Wirtschaftsordnung
ISBN-10 3-95728-572-0 / 3957285720
ISBN-13 978-3-95728-572-0 / 9783957285720
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 7,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Mit Beiträgen von Christian Baron, Dietmar Dath, Aladin El-Mafaalani, …

von Wolfgang M. Schmitt; Ann-Kristin Tlusty

eBook Download (2024)
Carl Hanser (Verlag)
16,99
Warum der Osten anders bleibt

von Steffen Mau

eBook Download (2024)
Suhrkamp (Verlag)
17,99
Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit

von Frauke Rostalski

eBook Download (2024)
C.H.Beck (Verlag)
11,99