Der Feuerturm (eBook)
358 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-78149-0 (ISBN)
Als er 1892 errichtet wird, ist der Feuerturm von Bukarest das höchste Gebäude der Stadt. 1989, beim Aufstand gegen die kommunistische Diktatur, ist er es längst nicht mehr, aber er war Zeuge eines ereignisreichen Jahrhunderts. Victor Stoica, der Ich-Erzähler dieses Romans, dessen Familie seit Generationen Feuerwehrmänner stellt und beim Turm lebt, ist der erste, der mit dieser Tradition bricht. Aber sein Leben, das von einem tückischen Verrat gebrandmarkt ist, steht doch ganz im Zeichen des Turms... Victor, Opfer der Repression, der durch die Hölle gehen musste, erlebt 1989 wider Erwarten, dass es doch möglich ist, auf Freiheit und Glück zu hoffen.
In seinem fesselnden, ein Jahrhundert umfassenden Roman erzählt Catalin Dorian Florescu von den Wechselfällen der Geschichte, von Familie und Freundschaft, Verrat und Liebe, von der Kraft der Resilienz und vom sich wandelnden, bunten und dann wieder traurigen Leben in dieser stetig wachsenden, bedeutenden europäischen Metropole. Die erschütternden Tage vom Dezember 1989 erleben wir noch einmal in ihren Anfängen mit... Mit fünf Generationen der Stoicas und einer Fülle unvergesslicher Figuren, mit leisem Humor, unbestechlich und doch immer von Hoffnung getragen, ist 'Der Feuerturm' ein großes, aufwühlendes Leseerlebnis.
- Die Geschichte einer Familie über fünf Generationen
- Ein Roman über Freundschaft, Liebe und einen tückischen Verrat
- Ein großer Gesellschafts- und Stadtroman aus Bukarest
Catalin Dorian Florescu ist 1967 in Rumänien geboren und hat seine Kindheit in der kommunistischen Diktatur verbracht. 1982 schaffte es die Familie, sich in den Westen abzusetzen. Seitdem wohnt der Autor in Zürich, wo er Psychologie studierte. Für mehrere Jahre arbeitete er im Bereich der Drogenabhängigkeit und ließ sich in Gestalttherapie ausbilden. Seit Dezember 2001 lebt er als freier Schriftsteller. Im Jahr 2019 war er als 'literarischer Matrose' auf der Donau unterwegs. Seit einem Jahr arbeitet er wieder therapeutisch. Er hat u.a. sieben Romane geschrieben - eine Auswahl: "Wunderzeit", "Zaira", "Jacob beschließt zu lieben", "Der Mann, der das Glück bringt", bis auf das Erste alle im Verlag C.H.Beck. Sein aktuellstes Werk heißt "Der Feuerturm", 2022, im gleichen Verlag. Wichtigste Literaturpreise: Schweizer Buchpreis 2011, Anna Seghers-, Josef von Eichendorff- und Andreas Gryphius-Literaturpreis. In Rumänien wurde ihm die Kavaliersmedaille für kulturelle Verdienste verliehen.
Kapitel 1
Die Legende vom Mann, der warnen wollte
Der Wald umschloss die kleine Stadt wie eine Faust. Ob es die Hand Gottes war oder die des Teufels, wusste niemand so genau. Wenn die Bewohner wieder einmal unsicher waren, bauten sie eine weitere Kirche aus dem Holz des Waldes, der großzügig ihren Glauben stützte. Sie schmückten sie mit Ikonen, weihten sie und fühlten sich beschützt, für eine Weile.
Es war Eichenholz, hart und belastbar, aus dem hier fast alles bestand: die Palisaden der Festung, die auf einem Plateau über dem Fluss Dâmboviţa thronte, der Belag der Uliţa Mare, der einzigen Gasse, die diesen Namen überhaupt verdiente; die Dachschindeln der schäbigen Häuser, wenn man sich so etwas leisten konnte – ansonsten reichte auch Schilf –, die Wiegen der Neugeborenen und die Särge der Toten.
Stein war rar, nur eine Handvoll Kirchen und Klöster, das Gefängnis und der Voievoden-Palast bestanden daraus. Der Schlamm auf Straßen und Wegen war zäh und tief, man erzählte sich, ganze Kutschen könnten darin versinken, und hoffte, dass mit diesen auch ihre Besitzer, die Bojaren, verschlungen würden, die vom Volk lebten. Oder die Armee der Osmanen, wenn sie wieder wie vor wenigen Jahrzehnten hier auftauchen sollte. Damals hatte sie die Stadt, die diese Bezeichnung noch kaum verdiente, belagert und in Brand gesetzt. Es war die erste in einer langen Reihe von Katastrophen gewesen, die jahrhundertelang wiederkehren sollten und bei denen der Teufel stets die Oberhand behielt.
Man konnte nie sicher sein, was aus dem Wald kam. Deshalb schielten die Händler und Handwerker im Basar, die Bauern und Priester, die Wachen auf den Festungsmauern, die Bojaren, die Kinder, die lärmend im Fluss badeten, und die Frauen, die dort ihre Wäsche wuschen, immer ein wenig besorgt zu ihm hinüber. Er ernährte sie, wärmte sie und lieferte Material für Wiege, Bett und Bahre; für Werkzeug, Fuhrwerke und Kreuze, mit denen man die Grenzen des Lebens markierte. An den Stadtgrenzen hingegen standen Kreuze aus Stein.
Mal schmiegte sich der Wald an die Gemüsegärten und Weinreben der Außenbezirke an, spendete Schatten und Kühle; dann wieder wich er zurück und ließ Platz für Kornfelder und Weideplätze. So dicht beieinander wuchsen die Eichen, so unvorstellbar weit erstreckte sich der Wald – bis fast nach Moldawien, bis an den Karpatenrand und zum Ufer der Donau –, so wenige Wege führten in ihn hinein und wieder aus ihm heraus, dass man sich in ihm gut verstecken und beinahe sicher fühlen konnte.
Gewiss verengte er den Horizont auf einige Hundert Fuß. Wer aber wollte schon wissen, was hinter dem Horizont war? Hin und wieder erfuhr man es aus den Mitteilungen des Fürstenhofes oder schnappte in der Kneipe ein paar Sätze eines Händlers auf, der sich noch schnell betrinken wollte, bevor er zu bedeutenderen Orten weiterzog, nach Konstantinopel oder, jenseits der Karpaten, nach Transsilvanien.
Das genügte aber auch. Die Welt war eine Lichtung in einem unermesslich großen Wald, das Leben ein Grashalm auf dieser Lichtung, der jederzeit niedergetrampelt werden konnte. Mehr brauchte man nicht zu wissen. Die Osmanen waren schon einmal gekommen, auch die Tataren und immer wieder plündernde Söldnertrupps, bestimmt hatten sie den Weg hierher nicht vergessen.
Nicht die Bäume konnten sie davon abhalten zurückzukehren und auch nicht der Fluss, der im Frühjahr das tiefer liegende Land überflutete. Neben schwarzer, fruchtbarer Erde hinterließ er auch viele Sümpfe und Teiche. Auch sie waren kein Bollwerk gegen die Janitscharen, die Kapikulu und die Spahi des Sultans.
Der Teufel wusste immer einen Weg. So viele Kirchen man auch baute, so viele Ikonen man auch küsste, er war sehr schlau. Er stand daneben und wartete.
1592 dauerten die guten Zeiten schon zu lange, als dass man nicht misstrauisch geworden wäre. Nur die wirklich Alten, die vom Tod Vergessenen, konnten sich an den letzten, großen Hunger erinnern; die anderen höchstens noch an die Pest, die vor fast zwanzig Jahren in dieser Gegend gewütet hatte. Und zwanzig Jahre waren schon ein halbes Leben.
Der Marktflecken war gewachsen, um die Festung herum und entlang der Großen Gasse, die sich vom Osttor bis zur nordöstlichen Grenze der Siedlung erstreckte, wo eine kleine Holzkirche stand. Um sie herum lebten Töpfer, Kalklöscher, Schmiede, und etwas südlicher lagen die Gassen der Sattelmacher, der Kürschner, der Kessel- und Lampenmacher und der Barbiere.
Diese aber waren, in einer Stadt ohne Ärzte, für viel mehr zuständig als nur für die Bärte der Bewohner. Sie zogen eiternde Zähne, amputierten durch Wundbrand infizierte Glieder oder ließen zur Ader. Brauchte der Vel Vornic, der Richter, einen Gâde, dann wurde der Barbier auch zum Henker. Er schnitt Nasen, Köpfe, Hände ab, schließlich wusste er, wie man ein scharfes Instrument durch den Körper führt.
Es war keine schöne Stadt: zwei Klöster in den Hügeln am anderen Flussufer, die etwas fürs Auge boten, und im Westen des Fürstenhofes einige Häuser der Bojaren. Ansonsten ordentliche, aber ärmliche Behausungen der Händler und Handwerker und, je weiter man sich vom Fürstenhof und von der Festung entfernte, krumme, geduckte Bordeie aus Lehm und Stroh, die manchmal tief in die Erde eingegraben waren, wie wenn sie sich vor Scham verstecken wollten. Keine schöne, aber eine rege Stadt. Viel Volk trieb sich zwischen den Verkaufsbuden des Bazars herum, wo Russen Felle und Pelze verkauften, Serben Flechtwaren, Äxte und Messer, Griechen Heilkräuter und Oliven, Armenier Stoffe und Teppiche und rumänische Bauern Wein, Honig und Schafe.
Das Jahr hatte gut angefangen, der Winter war nicht allzu hart gewesen, die Tiere hatten, stark abgemagert, überlebt, und bisher war auch der Fluss nicht allzu sehr über die Ufer getreten. Man musste nur noch einige Male beten, dass im Sommer keine lange Dürre käme, im Herbst kein sintflutartiger Regen und im Winter kein monatelanger Frost. Dass die Geschäfte gut liefen, vielleicht sogar besser als letztes Jahr und besser als die des Nachbarn.
Man würde womöglich noch einen Sohn taufen und eine Tochter verheiraten und hoffen, dass die Mitgift reichte; man würde noch am Haus herumwerkeln, wieder in die Kirche eilen für einen Heiligen, wegen einer Krankheit, eines Todes. Wenn die Stürme doch kamen und die Gassen sich zu schlammigen Rutschbahnen verwandelten, wenn die eisigen Ostwinde durch die Gärten pfiffen, würde man in der Stube oder der Kneipe sitzen und warten. Ende des Jahres würde man wieder in die Kirche müssen, diesmal für eine heilige Geburt. Dann war das Jahr überstanden, man hatte wieder überlebt und alles begann von vorn.
Es war um die Zeit des Frühlingsmarkts, des Târgul Cucului, als man der Toten gedachte. Auf dem Markt kaufte man Kerzen und Schalen aus Lehm oder Holz, füllte sie mit Wein und Milch, mit gekochtem Essen und ging damit auf den Friedhof. Es gab Tote, die reich an Verwandten und Freunden waren; vor ihren Kreuzen türmten sich Geschirr und Kerzen, vor anderen Gräbern hingegen, jenen der armen Toten, brannte kein einziges Licht. Aber es war zu hoffen, dass die Toten mehr als die Lebenden miteinander teilten.
Für die Töpfer, die in ihren Öfen Tag und Nacht Krüge, Teller und Schalen brannten, war es die beste Zeit. Einige von ihnen waren so in ihre Arbeit vertieft, in einem Hof hinter der Holzkirche, dass sie die Schreie, die aus dem Wald kamen, zunächst nicht hörten. Als sie dann doch hinüberschauten, erblickten sie einen Mann, dessen Alter sie nicht einschätzen konnten.
Er war am Waldsaum aufgetaucht und schien sich vor etwas zu fürchten, was sich hinter ihm im Dickicht befand, denn er zeigte immer wieder in jene Richtung. Er lief auf sie zu, durch Gestrüpp, Bohnen- und Kartoffelfelder, fuchtelte mit den Händen und rief immer wieder etwas, das sie nicht verstanden.
«Kennt ihr ihn?», fragte einer.
«Na», antwortete ein anderer, der sich nicht festlegen wollte.
«Ne», war sich ein Dritter sicher.
«Und was ruft er da?»
Diesmal erntete seine Frage nur Schulterzucken.
Aber als der Mann fast auf ihrer Höhe war, kurz stehen blieb, hinter sich blickte und «Vin!» rief, glaubten sie zu begreifen. Eine Gefahr war im Anzug, galoppierte auf sie zu, vielleicht sogar Türken, Tataren oder der Teufel persönlich. Sie wollten ihn ausfragen, wer oder was da käme, aber der Rufer war schon weitergelaufen; also folgten sie ihm aufgeregt und schrien ihrerseits: «Vin!»
Alle vier tauchten sie bald in der Großen Gasse auf. Der Mann war zerlumpt, barfuß, seine Haut...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1989 • 20. Jahrhundert • Belletristik • Bukarest • Dezember 1989 • Diktatur • Familie • Familiensaga • Feuerturm • Florescu • Freundschaft • Generationenroman • Geschichte • Kommunismus • Liebe • Literatur • Repression • Roman • Rumänien • Stoica • Verrat |
ISBN-10 | 3-406-78149-7 / 3406781497 |
ISBN-13 | 978-3-406-78149-0 / 9783406781490 |
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