Der Mann am See (eBook)
288 Seiten
Atlantis Literatur (Verlag)
978-3-7152-7502-4 (ISBN)
Werner SchmidIi, 1939 in Basel in eine Arbeiterfamilie hineingeboren und in einem Industriequartier aufgewachsen, absolvierte eine Lehre als Chemielaborant, trat mit 21 eine zweijährige Weltreise mit einem Frachtschiff an. Mit 24 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Werner Schmidli ist Mitbegru?nder der Literaturzeitschrift drehpunkt und schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte, Hörspiele, Einakter und Fernsehspiele. In den sechziger und siebziger Jahren galt er als erster »Arbeiterschriftsteller« der Schweiz. Erst gegen Ende seiner Karriere begann er, Krimis zu schreiben. 1985 wurde Werner Schmidli mit dem Basler Literaturpreis ausgezeichnet. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen u?bersetzt. Werner Schmidli starb 2005. Seinen Nachlass verwaltet der Zoo Basel.
Werner SchmidIi, 1939 in Basel in eine Arbeiterfamilie hineingeboren und in einem Industriequartier aufgewachsen, absolvierte eine Lehre als Chemielaborant, trat mit 21 eine zweijährige Weltreise mit einem Frachtschiff an. Mit 24 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Werner Schmidli ist Mitbegründer der Literaturzeitschrift drehpunkt und schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte, Hörspiele, Einakter und Fernsehspiele. In den sechziger und siebziger Jahren galt er als erster »Arbeiterschriftsteller« der Schweiz. Erst gegen Ende seiner Karriere begann er, Krimis zu schreiben. 1985 wurde Werner Schmidli mit dem Basler Literaturpreis ausgezeichnet. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Werner Schmidli starb 2005. Seinen Nachlass verwaltet der Zoo Basel.
2
Nun, geht’s wieder besser?, fragte Jean.
Gunten beugte sich mit aufgestützten Armen über den Tisch zum Fenster hin, aber von diesem Winkel aus konnte er den jungen Benz nicht sehen. Es geht schon wieder.
Du bist ziemlich lange weggewesen, sagte Jean vorwurfsvoll und besorgt, dann sah er entschuldigend auf die Weinkaraffe.
Gunten lachte begütigend, hob sein Glas. Der Wein ist zum Überleben, Gesundheit!
Jetzt gefällst du mir wieder, sagte Jean. Also dann: Gesundheit!
Sie leerten beide das Glas in einem Zug.
Du hast dich verletzt, sagte Jean, am Handgelenk.
Ich habe mich am Waschbecken angeschlagen, oder am Sims, als ich das Fenster öffnete. Das ist nicht weiter schlimm. Meine Haut ist dünn geworden, empfindlich wie meine Seele.
Jean schwieg, weil ihm nichts dazu einfiel.
Die jungen Leute riefen nach dem Wirt, er sollte bei einer Runde Vully mithalten; aber der Wirt war in Murten, beim Einkaufen.
Ein Paar hielt sich so umschlungen, dass es Gunten an einen der Seilknoten hinter ihm an der Wand erinnerte; er lächelte. Dann dachte er an den jungen Benz, der an einem Blechtisch saß, geschützt nur durch seine wattierte Jacke, und seiner Geliebten von seinen Empfindungen erzählte; das stimmte ihn melancholisch.
Sitzt er immer noch draußen?, fragte er.
Wer? Jean stellte die leere Karaffe zurück, mit der er Anne gewinkt hatte.
Der junge Mann, draußen am Tisch, unterm Spalier. Du müsstest ihn eigentlich sehen!
Nun blickte Anne endlich zu ihrem Tisch. Jean hob die leere Karaffe.
Siehst du ihn?, fragte Gunten ungeduldig.
Wen denn?
Den jungen Mann draußen am Tisch!
Jean ließ die Karaffe nicht los, als tröste ihn das über den Ärger hinweg, dass Anne sitzen blieb; aber er beugte sich zurück und sah in den Garten.
Ach, der junge Benz, sagte er gleichgültig. Der muss schon dort gesessen haben, als wir gekommen sind.
Anne hatte sich endlich erhoben; sie zog ihren Jupe lang und machte, drei Schritte vor den beiden alten Männern, ein beleidigtes Gesicht.
Der redet mit sich!, sagte Gunten.
Dann lass ihn mit sich reden. Auch junge Leute fühlen sich heute oft einsam.
Was ist jetzt?, fragte Anne.
Noch einen Halben Vully, sagte Jean, aber dalli!
Anne warf schnippisch die Haare ins Genick, bevor sie sich abwandte und zum Buffet ging, mit einem Umweg um zwei Tische.
Ich würde frieren, da draußen am Tisch, sagte Gunten.
Ja, du! Du bist ein alter Mann und krank. Er ist jung und verliebt, Verliebte frieren nicht.
Sie schwiegen und sahen auf den See. Die Wolken hingen im Waldkranz des Mont Vully, breiig und grau, der Wind zerrte am Birnenspalier, und jetzt schaukelte auch das Ruderboot, das halb an Land lag. Sonst hatte sich nichts verändert.
Aus dem Laubhaufen beim Mäuerchen am See, wo der geteerte Uferweg um eine Hecke zur Seepromenade führte, stieg Rauch auf, dann zuckten Flammen darüber hinweg.
Gunten empfand es als Frevel: Er ließ seinen Bäumen die Blätter, bunte Kränze um die Stämme. Wer hat denn den Laubhaufen angezündet?, fragte er verdutzt und verärgert.
Was weiß ich! Ist das so wichtig?
Anne brachte den Halben Vully; sie schenkte aber nicht ein. Im Abdrehen stellte sie die Karaffe hin, als könnte sie sich an den beiden Alten mit einer Krankheit anstecken.
Merci!, sagte Jean laut; seine Empörung ging unter im Dröhnen einer Zweierstaffel Hunter, die dicht über den See flog, Richtung Le Chablais und dem Großen Moos.
Lass mich austrinken, sagte Gunten, als Jean einschenken wollte, alter und neuer Wein vertragen sich nicht. Und dann habe ich keine Eile. Er nahm einen Kipfel aus dem Kunststoffkörbchen, teilte ihn in zwei gleich große Hälften, aber Jean lehnte gegen seine Gewohnheit und mürrisch ab.
Gunten hob das Kinn, schnupperte. Riechst du den Rauch?
Jean hob das Kinn. Nein.
Das ist merkwürdig, sagte Gunten. Ich liebe den Geruch der Herbstfeuer, und zugleich erinnert er mich an die Vergänglichkeit.
Noch lebst du! Trink, und lass uns zufrieden sein.
Neue Gäste, die Jean grüßten und Gunten zunickten, um nicht ganz unhöflich zu sein, kamen herein. Der Wirt war inzwischen zurückgekehrt und machte bei einer Runde Vully mit.
Du hättest sehen müssen, wer den Laubhaufen angezündet hat!, sagte Gunten.
Was interessiert mich das Feuer! Jean hatte die Hände wieder über dem Bauch gefaltet, und für einen Augenblick sah er doch in den Garten. Ich will in Ruhe hier sitzen und meinen Wein trinken. Ich habe meinen dienstfreien Nachmittag.
Darum bist du kein richtiger Kriminalbeamter geworden.
Hast du gesehen, wer das Feuer angezündet hat?
Nein. Es muss angezündet worden sein, als ich auf der Toilette war.
Dann ist es der Wirt gewesen.
Der Wirt war in der Stadt. Und er ist durch die Vordertür, von der Straße, hereingekommen.
Jean hob mit einem Seufzer die Arme, ließ sie auf die Oberschenkel fallen. Irgendjemand hat den Haufen angezündet, das ist doch egal! Die verbrennen ihre Abfälle immer am Ufer, auch Laub. Jean hustete ins Taschentuch, als befreie ihn das von seinem Ärger, dann schüttelte er sich. Du bist neugierig wie ein altes Weib.
Das Einzige, was unsereinem noch bleibt: die Neugier! Wir schauen zu, sind neugierig, ob es andere wohl besser machen, als wir es gemacht haben. Und wir sind hämisch zufrieden, wenn sie es nicht besser machen.
Gunten verzog missmutig das Gesicht. Er hatte siebzehn Jahre in Elsternwick, einem Vorort von Melbourne, als Verwalter eines Boardinghouse gearbeitet, seine Frau an einen anderen verloren und seine Töchter, Zwillinge, an einer Hirnhautentzündung. Nach der Rückkehr in seine Heimat hatte er als Handlanger bei Jeans Schwiegersohn gearbeitet und eigentlich nicht viel erreicht aus eigener Kraft.
Das Haus in Muntelier, eher ein Schuppen, einstöckig und schlecht isoliert, hatte er von seiner Schwester geerbt. Sie hatte sich, betrunken auf dem nächtlichen Heimweg, dem Seeufer entlang, nicht mehr ausgekannt, und sie war bei einer Baustelle ins Wasser gestürzt und ertrunken.
So war Gunten in seine Heimat zurückgekehrt; das war vor vierzehn Jahren gewesen, in einem heißen Sommer, und in Melbourne hatte es bei vier Grad Kälte geregnet.
Bei der Ausbesserung des Uferweges vor dem geerbten Haus hatte er dann das linke Auge verloren; aber das andere genügte ihm, seine enger gewordene Umwelt zu sehen und die Käufer einzuschätzen, die ihm sein Grundstück abschwatzen wollten.
Mag sein, dass du alles falsch gemacht hast, Gunten, sagte Jean. Aber verdirb mir nicht meinen freien Nachmittag. Trink deinen Wein und lass mich zufrieden. Du hast mich genug geärgert, als wir noch zusammengearbeitet haben.
Darauf schwieg Gunten mit rotem Kopf, nahm einen Schluck Wein und schenkte nach. Im ersten halben Jahr habe ich mit meiner Frau in Elsternwick bei einer ungarischen Jüdin gewohnt, erzählte er. Die saß den ganzen Tag am Fenster, und sie sah bloß einen Zwetschgen- und einen Zitronenbaum, einen Lattenzaun, mannshoch, zwei Nachbarfenster, ein Gartentor, das Stück Rasen, das ich für sie mähte, und die Hecke. Wäre sie nicht neugierig gewesen, wie ich es noch immer bin, säße ich nicht hier: Sie hat die Schlange gesehen, eine giftige, meterlang. In Australien ist fast alles giftig, was fliegt und kriecht, und es kriecht auch in den Vorstädten.
Lass doch deine alten Geschichten!, sagte Jean. Es hört dir keiner mehr zu, auch ich nicht! Darum will ja keiner mit dir am Tisch sitzen.
Die Hunterstaffel donnerte vom Chablais her über den See, und Jean schwieg; er sah hilflos und irgendwie erbarmungswürdig aus, fand Gunten.
In die Rechnung teilten sie sich dann.
Lassen Sie das, sagte Jean, als Anne die Karaffe mitnehmen wollte, es ist noch ein Schluck drin.
Kleinkrämer, sagte sie leise, aber nicht leise genug, und setzte sich wieder zu ihresgleichen.
Jean hielt sich verkrampft aufrecht, mit gerötetem Gesicht, so beherrschte er sich.
Das musst du nicht tragisch nehmen, sagte Gunten, sie weiß es nicht besser in diesem Land.
Jean lächelte ein wenig verzerrt; den Schluck Wein schenkte er dann Gunten ein. Sie sahen sich in der Gaststube um. Alle Gäste waren versorgt, die Segler still geworden, und der Rauch der Marlboro-Zigaretten, der wie schlaffe Segel im Raum hing, roch nicht anders als der Rauch der Zigarette, die Jean sich angesteckt hatte.
Seit wann rauchst du wieder?, fragte Gunten. Bei deinem Husten!
Jean lehnte sich zurück und schwieg. Er erinnerte Gunten an Claire, wenn sie in erwartungsvoller Aufmerksamkeit neben dem Buffet saß und die Gäste, nach beendeter Mahlzeit, die Teller zurückschoben, die sie gespült und aufgestellt hatte und die sie wieder abräumen und spülen würde, wenn die Gäste Kaffee tranken. Gunten fühlte sich plötzlich überflüssig. Sie würden sich wie gewöhnlich gegen vier Uhr erheben, die Stühle an den Tisch schieben, mit einem Räuspern auf sich aufmerksam machen und zwei Schritte vor der Tür auf einen Gruß warten oder auch nicht; Anne würde den Tisch abräumen, die Astern in die Tischmitte zurückstellen und die Krumen des Kipfels auf den Boden wischen. Es würde so sein, als wären sie nicht hier gewesen.
Es war dumm von mir, den Kipfel zu essen, sagte Gunten. Ich mache immer wieder die gleichen Fehler. Jean lächelte nachsichtig, seine Augen waren ein wenig glasig geworden und hatten die Farbe des Sees.
Es ist die Butter in den Kipfeln, die ich nicht vertrage. Wieder die Galle?, fragte Jean und sah Gunten nicht an, so wie er meistens durch alles hindurch oder daran vorbei oder...
Erscheint lt. Verlag | 22.2.2022 |
---|---|
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Detektiv • Hunkeler • Krimi • Murten • Schweiz • Spannung |
ISBN-10 | 3-7152-7502-2 / 3715275022 |
ISBN-13 | 978-3-7152-7502-4 / 9783715275024 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 616 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich