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Das Mandelbaumtor (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61117-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
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Muriel Spark erzählt das Abenteuer der englischen Lehrerin Barbara Vaughan. Sie ist eine zum Katholizismus konvertierte Halbjüdin und liebt einen verheirateten Mann, der nach katholischem Recht nicht geschieden werden kann. Sie ist in die zweigeteilte Stadt Jerusalem gekommen, um sich selbst zu finden. Als sie die Grenze nach Jordanien überquert, löst sie damit eine abenteuerliche Ereigniskette aus.

Muriel Spark, geboren 1918 in Edinburgh, Autorin von Romanen, Theaterstücken, Kinderbüchern und Gedichten. Zahlreiche ihrer Bücher wurden verfilmt. 1986 wurde sie zum Commandeur des Arts et des Lettres ernannt, 1993 zur Dame Commander of the British Empire; 1999 erhielt sie den Ehrendoktortitel für Literatur der Oxford University. ?Die Blütezeit der Miss Jean Brodie? wurde mit Maggie Smith in der Titelrolle verfilmt. Muriel Spark, die 2006 in Florenz verstarb, wird gerade international wiederentdeckt und gefeiert.

Manchmal brachte Freddy Hamilton statt eines Briefes an seine Gastgeberin eine Handvoll Verse von traditionellem Bau zu Papier – Rondeaux redoublés, Villanellen, Rondels oder sizilianische Oktaven –, um seinem Dank einen artigen Ausdruck zu geben. Es war ein angeborenes Taktgefühl, das ihn dazu veranlaßte. Immer plagte ihn der Gedanke, ein langweiliger Gast gewesen zu sein, denn schließlich war man im Leben verpflichtet, sich von seiner angenehmsten Seite zu zeigen. Nicht so sehr beim Besuch selbst, danach vielmehr schlug ihm heftig das Gewissen, weil er auch, als die Unterhaltung zwischen Suppe und Fisch lebhafter geworden war, kein einziges Wort von sich gegeben hatte; sein Gewissen regte sich, dachte er an die Cocktail-Stunden zurück, zu denen er nichts beigesteuert hatte als das Lächeln, für das er schon im Kinderwagen – und seither allerorten, fünfzig Jahre lang – berühmt gewesen war. «Oh, natürlich, Freddy Hamilton. Den guten Freddy mögen alle gern; ein reizender Mensch!»

So hieß es in den vielen britischen Konsulaten, durch die ihn seine bescheidene, subalterne Laufbahn geführt hatte, und er wäre wohl gerührt gewesen, wäre es ihm zu Ohren gekommen; er hätte gelächelt. Eigentlich lag ihm gar nichts daran, bei seinen Freunden irgendwelche Leidenschaften zu wecken oder in ihren Gedanken als besonders aufregender Gegenstand zu figurieren. Ein außergewöhnlich langweiliger oder auch ein außergewöhnlich unterhaltsamer Gast konnte bei den Leuten alle möglichen, nicht eben wünschenswerten Reaktionen hervorrufen – Gefühlsergüsse, Maßlosigkeiten, unerträgliche Anhänglichkeiten, kurz jene Art von Emotionen, die schon auf der Schule und der Universität immer zu Ärger geführt hatten; und zu internationalen Zwischenfällen führten sie auch.

Er liebte es, seine Verse schnell herunterzusagen; man sollte ihnen keinerlei Mühe anmerken. Während er durch die erstaunlichen Gassen des Orthodoxen-Viertels im israelischen Jerusalem wanderte, die sich so gefährlich nah am Mandelbaumtor drängten, begann er an ein Triolett der langerprobten Art zu denken, das am nächsten Tag mit dem Postsack des Außenministeriums nach Jordanien gehen sollte. Eben erst war er durch das Tor zurückgekommen. Er besaß Diplomaten-Immunität und somit die Erlaubnis, an jedem Wochenende das Tor zu passieren, von Israel nach Jordanien und wieder zurück; von Jerusalem nach Jerusalem. Nur wenige Leute gingen von Israel nach Jordanien hinüber; es machte Schwierigkeiten, und bei Europäern war ein Taufschein erforderlich. Ausländische Diplomaten durften den Kontrollpunkt nicht mit dem Wagen passieren; das war verständlich, denn in einem Wagen konnten Dokumente und Bomben versteckt sein.

Freddy trug sein Wochenendgepäck – eine Tasche mit Reißverschluß – und schlug seinen üblichen Weg in die Neustadt ein. Es war der bisher heißeste Tag des Jahres 1961. Das Taxi, das am Tor wartete, hatte er zurückgewiesen; hier wie überall auf der Welt war ihm Taxifahren ein Greuel; sein moralisches Empfinden sträubte sich gegen die Trinkgelder. So war es auch all seinen Onkeln ergangen. Ausgenommen natürlich einen Onkel, den, der in den dreißiger Jahren sein Vermögen durchgebracht und die Familie restlos ruiniert hatte: dessen Inneres hatte sich nicht dagegen gesträubt, Trinkgelder an Taxifahrer und so weiter zu verschleudern. Als Freddy um eine Ecke bog, stieß er mit einem winzigen dunkeläugigen Jungen zusammen, dem flaumiges Schläfenhaar über die Wangen fiel, zu fein noch, um sich zu glänzenden Löckchen ringeln zu lassen, wie sie die älteren Männer der Orthodoxen-Sekte trugen. Die Nase des Jungen stieß an Freddys Knie, und Freddy nahm ihn bei der Hand, um ihn über seine Verwirrung hinwegzubringen. Ein bärtiger, alter Mann im Kaftan mit einem massigen Gesicht murmelte dem Kleinen, der sich schon wieder gefaßt hatte und Freddy nun angelegentlich von Kopf bis Fuß musterte, etwas auf hebräisch zu. Eine Frau von unbestimmbarem Alter, die eine Unmenge schwarzer Gewänder trug, riß das Kind los, und es trottete davon. Die Beinchen in den langen Wollstrümpfen bewegten sich hurtig wie Weberschiffchen, um mit der Mutter Schritt zu halten, aber immer noch drehte sich der Kleine verwundert nach Freddy um. Währenddessen zankte die Frau ihn aus; offenbar versuchte sie ihm einzuprägen, daß Freddy eine unerwünschte Person sei. Freddy ging weiter, hinter dem schwergekleideten Paar her, und hatte das sichere Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben, als er die Hand des Kindes berührte; vermutlich hatten sie ihn für einen modernen Juden gehalten, einen der gewöhnlichen Israelis, die bei dieser Sekte noch stärkere Mißbilligung fanden als der ehrliche, unreine Fremde. Nun ja, dachte Freddy, wo war ich stehengeblieben …

… zög es vor,

mich für die schöne Zeit in franken

und freien Worten zu bedanken,

doch bring ich wieder nichts hervor

als Reimesranken …

Es war übrigens kein Triolett. Joanna, seine Gastgeberin auf der anderen Seite, hatte sich überaus liebenswürdig gegen ihn gezeigt, seit er seinen Posten in Israel angetreten hatte. Drei Wochenenden hatte er in ihrer kühlen Villa verbracht, und sie freute sich über diese Dankeschön-Verse. Eine Strophe würde noch hinzukommen müssen, vielleicht auch zwei. Joanna sollte ihn hier drüben in Israel besuchen; bis jetzt war sie noch nicht in Israel gewesen. Er würde sie an ihr Visum erinnern und ihr sagen müssen, wie sie am besten herüberkam. Es war übrigens kein Triolett, eher eine Art Rondeau. Also das Visum für Joanna mußte beschafft werden, und er würde sie diesseits des Mandelbaumtors erwarten. Einfach absurd, die ewige Spannung am Tor. Man konnte die Grenzzwischenfälle verstehen, solange sie unter den Soldaten immer wieder jäh und unberechenbar aufflackerten. Aber dort am Tor waren das Mißtrauen und die Vorsichtsmaßnahmen der Posten einfach absurd. Kein israelisches Geld nach Jordanien, keine israelischen Postkarten, die jordanischen Polizisten fast physisch unfähig, das Wort ‹Israel› über die Lippen zu bringen. Die israelische Polizei gebärdete sich unmäßig dramatisch: «Kommen Sie heil an», hieß es gewöhnlich, wenn man die Kontroll-Baracke verließ. Der Träger auf der israelischen Seite rannte los, warf das Gepäck auf halbem Wege hin und rannte wieder zu seinem Platz zurück, als gälte es sein Leben. Der jordanische Träger wartete, bis die ganze Wegstrecke leer war; dann rannte er die paar Schritte zu den Taschen hin, ergriff sie und rannte damit zu seinem Platz zurück, als gälte es sein Leben. Alles wurde dramatisiert. Warum mußten die Menschen alles auf die Spitze treiben, warum konnten sie nicht maßhalten? Freddy stieß mit einem Mann in europäischer Kleidung zusammen, der aus einem Laden stürzte, wie sie’s alle taten. Der Mann sagte irgend etwas auf arabisch. Freddy hatte ihn für einen Juden gehalten. Manchmal konnte man sie nicht unterscheiden. Einige hatten ganz dunkle Haut, pechschwarz fast. Warum konnten die Menschen nicht maßhalten?

Es war übrigens kein Triolett, sondern eine Art Rondeau. Freddy bog in eine Gasse ein. Wieder prallte ein Kind, diesmal ein Mädchen, mit ihm in der engen, von Menschen wimmelnden Straße zusammen. Diesmal streckte er keine helfende Hand aus, und die Kleine schlüpfte mit dem scheuen Ausdruck davon, der den Kindern dieses Viertels eigen war, im Unterschied zu der lebhaften Jugend bei den gewöhnlichen Israelis. Sie taten Freddy leid, die Jungen mit ihren würstchenartigen Schläfenlocken und dem schwarzen Knickerbocker-Aufzug, besonders die Halbwüchsigen, die zu zweit oder dritt so tugendsam dahergingen. Es muß die Hölle für sie sein, dachte er, sich so von allen anderen im Lande zu unterscheiden, besonders wenn sie sich eines Tages von all dem losmachen wollen. Auch die arabischen Jungen auf der anderen Seite hatten ihm leid getan, wie sie unterernährt, dürr und in Lumpen ihre räudigen Esel trieben. Seine eigene Jugend fiel ihm ein, seine Schulzeit, und Mitleid mit allen Jungen ergriff ihn. Er war überzeugt, daß die mit den Löckchen durch die gleiche Hölle gingen – die einzige, die ihm bekannt war. Die Löckchen waren einfach absurd, wie das Tor.

«Einfach absurd!» Kraft dieser Worte hatte er überall in der Stadt Freundschaften geschlossen. An exotische Anblicke war er gewöhnt, an widerwärtige Gerüche, an enge orientalische Straßen und an Menschen, die eine Neigung zum Extremen hatten – das alles gehörte zum Auslandsdienst. Doch weder außerhalb noch selbst in der Botschaft wurde er mit den Leuten richtig warm, bevor sie nicht früher oder später die Bemerkung machten, daß alles hier einfach absurd sei.

… in franken

und freien Worten zu bedanken,

doch bring ich wieder nichts hervor

als Reimesranken …

Doch nun, Joanna, laß dein Schwanken.

Nimm meine Verse mit Humor

und neig zugleich ein freundlich Ohr

der Bitte: Komm! Raff dich empor!

Passier die ganz absurden Schranken

am Mandelbaumtor!

Er näherte sich dem Ende des Orthodoxen-Viertels und war in eine Straße eingebogen, an deren Ende der moderne Staat lärmte. Dort barsten kleine Läden vor Geschäftigkeit, schwere Wagen rasten über die Schnellstraße, und überall verkündeten Radioapparate in Sprachen, die von der hebräischen bis zu der der BBC reichten, die neuesten...

Erscheint lt. Verlag 8.12.2021
Übersetzer Hans Wollschläger
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel The Mandelbaum Gate
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Christentum • Glaube • Halbjüdin • Heiliges Land • Identitätssuche • Islam • Jerusalem • Katholizismus • Lehrerin • Religion • Roman • Selbstfindung
ISBN-10 3-257-61117-X / 325761117X
ISBN-13 978-3-257-61117-5 / 9783257611175
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