Der Tod des Vergil (eBook)

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2022 | 1. Auflage
608 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-29230-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tod des Vergil -  Hermann Broch
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Der antike römische Dichter Vergil, Schöpfer der »Äneis«, durchlebt seine letzten Stunden auf Erden und darin noch einmal in höchster Intensität sein geistiges Ringen mit den Sinnfragen künstlerischer Existenz, das ihn zu letztgültigen Gedanken zu Literatur und Leben führt. Dieser im US-amerikanischen Exil geschriebene und 1945 erschienene Roman ist ein filigran gearbeitetes Epos über die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst. Mit ihm hat der Österreicher Hermann Broch ein Monument der literarischen Moderne geschaffen, das in seinem gestalterischen Erfindungsreichtum seinesgleichen sucht.

Hermann Broch wurde am 1. November 1886 in Wien als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten geboren. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Textilingenieur und leitete von 1907 bis 1927 die Fabrik seines Vaters. 1909 heiratete er, nach seinem Übertritt zum Katholizismus, Franziska von Rothermann, mit der er einen Sohn hatte. Die Ehe wurde 1923 wieder geschieden. Ab 1913 begann er erste schriftstellerische Texte zu veröffentlichen. Von 1925 bis 1930 studierte er Mathematik, Philosophie und Psychologie. 1938 wurde er am Tag des Anschlusses Österreichs an Deutschland von den Nationalsozialisten verhaftet. Durch die Hilfe James Joyce' gelang ihm die Emigration über England in die USA, er lebte zeitweise in Princeton und New York. 1942 erhielt er den Preis der American Academy of Arts and Letters in New York für seinen Entwurf des Romans Der Tod des Vergil. 1944 wurde ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen. 1949 heiratete Broch zum zweiten mal und zog nach New Haven, wo er zum Lektor für deutsche Literatur an der Yale University ernannt wurde. Er starb am 30. Mai 1951.

Feuer – Der Abstieg


Er lag und lauschte. Von Zeit zu Zeit, wenn auch in immer größeren Abständen und ohne neuerlichen Blutauswurf, packte es ihn aufs Neue, und anfangs hatte er sogar geglaubt, nun doch den Sklaven aus dem Nebenraum herrufen zu müssen, damit der Arzt geholt werde; aber das Rufen hätte zu viel Mühe gekostet, und die Störung durch den Arzt wäre unerträglich gewesen: er wollte allein bleiben –, nichts war dringlicher als allein zu bleiben, um nochmals und nochmals alles Sein in sich zu versammeln, um lauschen zu können; dies war das Dringlichste. Die Beine ein wenig hochgezogen, hatte er sich zur Seite gerollt, sein Kopf ruhte auf den Kissen, die Hüfte drückte sich in die Matratze ein, die Knie waren aufeinander geschichtet wie zwei fremde Wesen, und in einer sehr großen Entfernung wohnten die Fußknöchel, desgleichen die Fersen. Wie oft, oh, wie oft schon hatte er so auf die Erscheinungen des Liegens achtgehabt! Ja, es war geradezu beschämend, dass er sich von dieser kindischen Gewohnheit nicht losreißen konnte! Er erinnerte sich genau jener für ihn höchst merkwürdigen Nacht, in welcher er – als Achtjähriger – erstmalig dessen inne geworden war, dass es am bloßen Liegen etwas zu beobachten gab: es war in Cremona zur Winterszeit; er lag in seiner Kammer, die Tür, welche zu dem stillen Peristylhof hinausführte, war rissig, schloss schlecht, bewegte sich ein wenig, und das war unheimlich; draußen strich der Wind raschelnd über die winterlich mit Stroh zugedeckten Beete, und von irgendwoher, wahrscheinlich von der baumelnden Laterne unter dem Torweg, kam taktmäßig pendelnd der schwache Widerschein eines Lichtes in die Kammer geglitten, kam immer wieder, kam wie ein letztes Echo unendlichen Flutens, wie ein letztes Echo unendlicher Zeitabläufe, wie ein letztes Echo eines unendlich fernen Auges, so verloren, so gebrochen, so drohend vor Ferne, so ferneträchtig, dass es gleichsam eine Aufforderung war, nach dem Bestand und Nichtbestand des eigenen Selbst zu fragen –, und genau so wie damals, freilich durch die seitdem allnächtlich angestellte Wiederholung auch bewusster gemacht und verdeutlicht, genau so wie damals nach Bestand und Nichtbestand seiner Körperlichkeit fragend, genau so spürte er auch heute jede einzelne der Stellen, an denen sein Körper am Lager aufruhte, und genau so wie damals waren sie Wogenkämme, über die sein Schiff mit leichtem Eintauchen hinwegschwamm, während sich dazwischen unermesslich tiefe Wogentäler auftaten. Gewiss, es ging nicht darum, und wenn er jetzt hatte allein bleiben wollen, so war es wahrlich nicht geschehen um kindische Beobachtungen fortzusetzen, zu denen er den kleinen Nachtgefährten ohne Weiteres hätte hierbehalten können, nein, es ging um Wesentlicheres und Endgültigeres, um Etwas, dessen Wirklichkeit sehr groß sein musste, so groß, dass sie sogar die der Dichtung und ihres Zwischenreiches zu übertreffen hatte, es ging um etwas, das wirklicher sein musste als Nacht und Dämmerung, und nicht nur wirklicher sondern damit auch irdischer sogar, es ging um etwas, für das es sich verlohnte alles Sein in sich zu versammeln, und verwunderlich war nur, dass sich das Kindische und Nebensächliche nicht gründlicher zurückdrängen ließ, dass es mit seinen Bildern und Aberbildern wie eh und je vorhanden war, dass in der Kette der Erinnerung, in die wir geschmiedet sind, die ersten Glieder die gewichtigsten sein sollten, als wären sie, gerade sie, die wirklichste Wirklichkeit. Fast schien es unmöglich, mehr noch, fast schien es unstatthaft, dass unsere letzterreichbare, wirklichste Wirklichkeit sich darauf beschränkte bloßes Erinnerungsbild zu sein! Nichtsdestoweniger, bildgesegnet und bildverflucht ist das menschliche Leben; nur in Bildern vermag es sich selbst zu erfassen, unbannbar sind die Bilder, sie sind in uns seit Herdenbeginn, sie sind früher und mächtiger als unser Denken, sie sind im Zeitlosen, schließen Vergangenheit und Zukunft in sich ein, doppelte Traumerinnerung sind sie, und sie sind mächtiger als wir: Bild sich selber war er, der hier lag, und hinsteuernd zu wirklichster Wirklichkeit, getragen von unsichtbaren Wogen, eintauchend in sie, war das Bild des Schiffes sein eigenes Bild, aus der Dunkelheit kommend, in die Dunkelheit ziehend, in die Dunkelheit sinkend, er war selber das unermessliche Schiff, das zugleich selber die Unermesslichkeit ist, und er war selber die Flucht, die in diese Unermesslichkeit zielt, er selber das fliehende Schiff, er selber das Ziel, unermesslich er selber, unermesslich, unübersehbar, unausdenkbar, eine unendliche Körperlandschaft die Landschaft seines Körpers, ein gewaltig hingebreitetes Unterweltsbild der Nacht, sodass er, verlustig der Einheit menschlichen Lebens, verlustig der Einheit menschlicher Sehnsucht, schon längst nicht mehr sich für fähig hielt die Herrschaft über sein Selbst auszuüben, wissend um all die getrennten Regionen und Provinzen, in welche sich das eineinzig über das Unendliche hingebreitete Ich hatte zerteilen müssen, wissend um all die Dämonenherrschaften, welche statt seiner deren Verwaltung übernommen hatten, abgesondert nach Bezirken in ihrer Vielfalt; ach, es waren die aufgewühlten, aufgeackerten Bezirke der schmerzenden Lunge, es waren die des Fiebers, des unheimlichen, das aus unbekanntesten rotglühenden Tiefen zur Haut heraufwellt, und es waren die Bezirke der Eingeweideabgründe sowie die noch fürchterlicheren der Geschlechtlichkeit, die einen wie die andern schlangenerfüllt, schlangendurchwachsen, es waren die Bezirke der Gliedmaßen in ihrem ungezügelten Eigenleben, nicht zuletzt die der Finger, und all diese Dämonenbezirke, manche näher, manche ferner von ihm angesiedelt, manche freundlicher, manche feindlicher sowohl zueinander wie auch zu ihm eingestellt – am nächsten und ihm am meisten zu eigen war ihm noch das Sinnhafte, waren ihm Auge und Ohr und deren Bezirke –, all diese Bereiche des Körperlichen und Überkörperlichen, harte Wirklichkeit des steinernen Knochengerüstes, sie wurden in ihrer ganzen Fremdheit, in ihrer zerfallenen Brüchigkeit, in ihrer Entlegenheit, in ihrer Feindlichkeit, in ihrer unerfasslichen Unendlichkeit von ihm gewusst, sinnenhaft und übersinnenhaft, denn sie waren insgesamt, und er mit ihnen, als wäre dies das gegenseitige Wissen, in jenem großen Fluten eingebettet, das über alles Menschliche und alles Ozeanische hinausreicht, in jenem gezeitenschweren, aus- und zurückwogenden, aus- und zurückschwingenden Fluten, dessen heimkehrende Brandung stets an des Herzens Küste schlägt und es zum unablässigen Pochen bringt, Bildwirklichkeit und Wirklichkeitsbild in einem, so wogentief, dass in seiner Tiefe sich das Getrennteste versammelt, unvereinigt noch, doch vereinigt zu künftiger Wiedergeburt; oh, Uferbrandung der Erkenntnis, ihre ewig steigende Flut keimgesättigt von jedwedem Trost und jedweder Hoffnung, oh, nachtschwere, keimschwere, raumschwere Frühlingsflut, und, wissend von diesem seinem gewaltigsten Ichbild, wusste er von der Überwindung des Dämonischen durch eine Wirklichkeitssicherheit, deren Bild im Unbeschreiblichen liegt und trotzdem schon die Welteneinheit umschließt. Denn prall von Wirklichkeit sind die Bilder, weil Wirklichkeit stets nur wieder durch Wirklichkeit versinnbildlicht wird –, Bilder und Aberbilder, Wirklichkeiten und Aberwirklichkeiten, keine wahrhaft wirklich, solange sie alleine steht, dennoch jede einzelne Sinnbild einer letztwirklichen Unerkennbarkeit, die ihre Gesamtheit ist. Und hatte er in den vielen vergangenen Jahren immer gieriger und neugieriger den Zerfall und die Brüchigkeit verfolgt, die er in seinem Körper arbeiten spürte, hatte er, um dieser verwunderlichen und verwunderten Neugierde willen, gerne das Ungemach der Krankheit und der Schmerzen auf sich genommen, ja, hatte er – und was immer der Mensch tut, es wird ihm zu deutlicherem oder undeutlicherem Sinnbild – unausgesetzt den Wunsch in sich getragen, den selten bewussten, dennoch stets ungeduldigen Wunsch, es möge seine körperliche Einheit, die ihm mehr und mehr zu einer Scheineinheit geworden war, endlich aufgelöst werden, je rascher desto lieber, damit das Außergewöhnliche erfolge, damit Auflösung zur Erlösung werde, zur neuen Einheit, zum endgültigen Sinn, und hatte ihn dies alles von frühester Jugend an begleitet und verfolgt, zumindest seit jener Nacht in Cremona, vermutlich jedoch schon seit der Kinderzeit in Andes, sei es zuerst als spielerisch leichte, kindische Ängstlichkeit, sei es als wuchtig gedächtnisauslöschende Furcht, unerinnerbar heute das eine wie das andere, es hatte ihn zugleich auch die Frage nach der Bedeutung solchen Geschehens nie verlassen, sie war in all seinem Vorlauschen, Vorsuchen, Vorfühlen allnächtlich enthalten gewesen, und genau so wie er einst, das Kind in Andes, der Knabe in Cremona, auf seinem Bette gelegen hatte, Knie an Knie gepresst, eingesenkt sein Geist ins Vorträumen, eingesenkt Geist wie Körper in das Schiff seines Seins, hingebreitet über die weiten Erdflächen, er selber Berg, selber Feld, selber Erde, selber das Schiff, er selber der Ozean, lauschend in die Nacht des Innen und Außen, ahnend wohl seit jeher, dass dieses Lauschen bereits einer Erkenntniserfüllung galt, für die sein ganzes Leben gelebt werden sollte, genau so geschah es ihm wiederum, geschah es ihm hier und jetzt, geschah es ihm heute; es geschah ihm das, was ihm seit jeher, deutlicher und deutlicher werdend, stets aufs Neue geschehen war, er tat das, was er ein ganzes Leben lang getan hatte, aber nun wusste er die Antwort: er lauschte dem Sterben.

Konnte es anders sein?! Aufgerichtet ist der Mensch, er allein, doch ruhend zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode hingestreckt –, auch in solch dreifacher Eigenschaft seines...

Erscheint lt. Verlag 28.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Bewusstseinsstrom • Brundisium • Dantes Göttliche Komödie • eBooks • Erinnerungen • Erlösung • Innerer Monolog • Kaiser Augustus • Klassiker der Moderne • Neuerscheinung • Österreichische Schriftsteller • Roman • Sterben • Tod des Dichters • Überlieferung • untergehende Kultur • Vergils Aeneis
ISBN-10 3-641-29230-1 / 3641292301
ISBN-13 978-3-641-29230-0 / 9783641292300
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