Giertochter, Gespensterkind -  Marina Mare

Giertochter, Gespensterkind (eBook)

Ein Binge-Eating-Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-8215-8 (ISBN)
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Eigentlich ist Lena glückliche Architekturstudentin in einer festen Beziehung. Doch dann macht ihr Freund Schluss und Lena versucht die plötzliche Leere mit Essen zu füllen. Die Fressanfälle verselbständigen sich, Essen wird ihre Droge und ihr dicker Körper zum Anstoß der Familie. Denn die hat mehr zu verbergen als ein paar Kilo zu viel. Lena findet heraus, dass es für ihr Verhalten einen Namen gibt: Binge Eating. Trotz der Essstörung schafft sie es, sich selbst und andere mit einer perfekten Fassade zu belügen. Doch wie lange kann man all seine Gefühle hinunterschlucken? Ein Coming-of-Age-Roman über eine ungewöhnliche Sucht.

Marina Mare liebt Alpenflüsse ebenso wie das Meer, vielleicht lässt sie auch deshalb so viele ihrer Gedanken aufs Papier fließen. Ihre erste Geschichte schrieb sie mit acht Jahren. Seitdem sammelt sie die Ideen auf der Straße ein und - um Geld zu verdienen - die Rechtschreibfehler anderer Leute. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden testete sie die Grenzen ihres Körpers aus und kam viel herum in der Welt der scheinbar Verrückten. Während ihres Literaturwissenschaftsstudiums hatte sie einen Nebenjob als Lebensgeschichten-Tipperin in einer Psychologischen Praxis. Weil sie der festen Überzeugung ist, dass jeder etwas zu erzählen hat, schreibt sie nicht nur selbst Jugendbücher und Romane, sondern geht auch in Schulen, um als Schreibcoach die Schülerinnen und Schüler zu animieren, ihre eigenen Geschichten aufzuschreiben. Außer der Literatur mag sie rote Kinosessel in kleinen Programmkinos, ihre Geige und den Geruch von Sommer auf der Haut.

2. Sommer wartet nicht, bis du endlich so weit bist

Montagmorgen sind immer der Anfang von etwas, dachte Lena. Und der erste Tag im neuen Semester war ohnehin etwas Besonderes. Sie saß in der TWL-Vorlesung. Alles war wie immer. Der Professor sprach über Einwirkungen auf Bauwerke, über Körper und Kräfte im Gleichgewicht.

Sie liebte das mathematische und physikalische Wissen, das es ihr irgendwann ermöglichen würde, den wunderbarsten Bauwerken Standfestigkeit zu verleihen. Das sie verstehen ließ, wie auch völlig asymmetrisch wirkende Baukreationen in ihrem Inneren statisch abgesichert sein konnten. So wie Gehrys tanzende Häuser. Und das ihr die Möglichkeit gäbe, die Konstruktion im Inneren in eine eigene Ästhetik nach außen zu übersetzen.

Lena saß in ihrer Bank und saugte euphorisch das Wissen auf, das, wäre es sichtbar gewesen, durch den Raum direkt zu ihr geflogen wäre und sich dort niedergelassen hätte. Sie sah sich um. Die Plätze neben ihr waren frei, vor und hinter ihr saßen kleine Grüppchen, die sich leise über Tragwerkslehre oder Privates unterhielten.

Sie war umgeben von ihren Kommilitonen, aber hätte genauso gut in einem leeren Raum sitzen können, das wäre aufs Gleiche rausgekommen. Denn niemand drehte sich zu ihr um und stellte ihr eine Frage, niemand wollte wissen, wie ihre Semesterferien gewesen waren.

»Du sitzt hier so verloren.« Das war der allererste Satz gewesen, den Patrick zu ihr gesagt hatte, damals auf der Party. Um sie herum hatten mindestens zwanzig Leute gesessen, deshalb hatte sie erst gar nicht verstanden, was er meinte, auch wenn sie die anderen Partygäste nicht kannte.

»Meinst du nicht, dass man auch inmitten von Leuten verloren sein kann?«, hatte er gefragt, sie waren ins Gespräch gekommen und am Ende des Abends hatte Lena sich alles andere als verloren gefühlt.

Heute bemerkte niemand ihre Verlorenheit. Nur sie selbst. Sie fühlte sich alleine zwischen ihren Kommilitonen. Wieso war ihr das im letzten Semester nicht aufgefallen? War sie so ignorant gewesen, hatte sich nur auf die Architektur konzentriert und auf die Abende mit Patrick? Hatte sie nicht gemerkt, dass sie in dieser Stadt keine Wurzeln geschlagen hatte? Jetzt fühlte sie sich wie ein junger Baum, der keinen Halt hatte im Boden und Angst vor dem Wind. Sie hätte nicht nur Architekturmodelle, nein, sie hätte auch Freundschaften aufbauen müssen.

Sie klammerte sich an das Wissen, das der Professor in den Raum warf, verleibte es sich ein und baute es um sich. Setzte es auf die freien Plätze neben sich. Versuchte, sich voll und ganz auf die Tragwerkgeometrie zu konzentrieren und alles andere auszublenden. Tragesysteme und Lasten und Berechnungsverfahren und wirkende Kräfte und Beanspruchung der Bauwerksmaterialien und Lastabtragungen und Flächenstatik. Aber das Wissen nahm nicht genug Raum ein, konnte die leeren Plätze neben ihr nicht ausreichend füllen.

Sie wünschte sich einen Regisseur herbei, der riefe: »Halt! Nochmal zurück! Diese Szene bitte noch einmal.«

Dann würde er alle noch mal neu positionieren, die Kommilitonen vielleicht etwas näher an sie heranrücken und sie würden es erneut probieren.

Aber es gab keinen Regisseur, sie würde selbst die Regie für ihr Leben übernehmen müssen.

Nach der Vorlesung gab Lena sich einen Ruck und ging auf Rita zu, die mit ein paar anderen im Flur stand. Sie fühlte sich wie beim Völkerball. Wie jemand, der als Erstes abgeworfen wird, nun im Außenfeld steht und erst durch einen gezielten Wurf wieder beweisen muss, dass er zurück ins Innenfeld kommen darf.

»Ihr geht doch jetzt in die Mensa, oder? Ist es okay, wenn ich mitkomme?«

»Klar kannst du mitkommen. Aber seit wann isst du in der Mensa? Ich dachte, du würdest immer abends mit deinem Freund warm essen.«

Lena sah zu Boden. Man trägt Privates nicht nach außen, hatte ihre Mutter früher immer gesagt. Sie besann sich, hob ihren Blick und lächelte. »Ich habe mir vorgenommen, dass ich jetzt mal öfter in der Uni mittagesse. Man kommt abends ja doch nicht immer zum Kochen.«

Zehn Minuten später saß sie mit fünf Kommilitoninnen in der Mensa. Es gab Auflauf. Alle redeten über die Aufgaben in TWL und Lena erklärte, wie sie die Aufgabenstellung verstanden hatte. Erleichtert klammerte sie sich an das Fachwissen, das sie wie ein unsichtbares Seil mit ihren Kommilitoninnen verband. Das sie mit ihnen teilen konnte und sie genoss es zu teilen, sich mitzuteilen, bis Britta sie unterbrach.

»Bleibt es dabei, dass wir heute Abend im Pavillon auf das neue Semester anstoßen?« Die anderen bejahten.

»Zwanzig Uhr hatten wir gesagt, oder?« – »Ja, um acht davor.« – »Wie seid ihr eigentlich nach der Party am Freitag noch zurückgekommen?« – »Michael hat uns gefahren.« – »Der Abend war echt super witzig. Ich hätte mich weghauen können, als Michael die Story von seinem Bruder erzählt hat.«

Die anderen lachten.

Lena hielt ihr Tragwerkslehrewissen wie abgerissene Fäden in der Hand und fühlte sich fehl am Platz. Sie wäre auch gerne am Abend in den Pavillon gekommen. Aber sie traute sich nicht zu fragen. Außerdem hätten sich die anderen dann denken können, dass sie keinen Freund mehr hatte.

Eigentlich war es ihr egal, wenn sie das wussten. Vielleicht sollte sie doch fragen. Die anderen sprachen gerade von dem Videoabend am Samstag und von dem notorischen Fremdgeher im Film. Lena schluckte das letzte Stück Auflauf mitsamt ihrer Frage hinunter.

Die Leere glotzte vorwurfsvoll, beinahe gehässig. Lena saß in ihrer Wohnung und starrte die Wand an. Die Nacht zeichnete sich auf der Raufasertapete ab, Lena hatte kein Licht angemacht. Tagsüber in der Uni ging sie mit ihren Kommilitonen Mittagessen, redete mit ihnen über Studieninhalte, gab sich gesprächig und kommunikativ. Aber wenn sie in ihre Wohnung kam, lauerte dort die Leere. Oft sah sie fern oder lenkte sich mit ihren Architekturplänen ab. Doch an diesem Abend saß sie einfach da und hielt sie aus.

Zweieinhalb Wochen waren seit der Trennung von Patrick vergangen. Sie vermisste ihn. Manchmal dachte sie, dass er vielleicht anriefe, um ihr zu sagen, dass es ihm leidtäte und er nur sie liebe. Dann stellte sie sich vor, wie sie in Windeseile zur S-Bahn rennen und nach Düsseldorf fahren könnte und er sie in seine Arme schließen würde. Sie konnte einfach nicht glauben, dass alles vorbei sein sollte.

Lena blickte aus dem Fenster. Der Mond schien direkt in ihr Zimmer.

Sarah hat das Licht angeknipst, kam es ihr in den Sinn. Das tat sie jeden Abend, um ihrer Familie eine gute Nacht zu wünschen. Lena glaubte schon lange nicht mehr an die Engelmärchen der Mutter.

Der Mond war keine Nachttischlampe. Es war ein ganz normaler Vollmond. Wie ein großer runder Käse auf einem dunklen Tablett.

Sie wusste nicht, was sie dazu trieb, das Telefon zu nehmen und seine Nummer zu wählen. Es war vorbei – und doch wollte sie Patricks Stimme hören, ihn fragen, wie es ihm ging, oder auch einfach wieder auflegen. Das Freizeichen versetzte ihren Körper in Anspannung.

»Hallo?«, rief es am anderen Ende der Leitung.

Sie hielt die Luft an.

»Hallooo?«, kam es durch den Hörer.

Lena legte entsetzt auf. Das war nicht Patricks Stimme gewesen, sondern eine Frauenstimme. Blond-und-dick. Jetzt ging sie sogar schon bei ihm ans Telefon. Da war er wieder: der dicke blonde Kloß in ihrem Hals.

Sie trat zurück ans Fenster. Als sie den Mond sah, fiel ihr plötzlich auf, dass er aussah wie sie. Blond-und-dick. Der Mond war blond und dick. Vielleicht war sie auch selbst der Mond. Denn sie hatte den schrecklichen Nachnamen Pfannkuch. Und der Mond sah aus wie ein großer Pfannkuchen.

Hör auf mit dem Unsinn! Lena wandte sich vom Fenster ab. Es war nur der Mond und nichts weiter.

Sie fühlte sich nutzlos. Vollkommen leer. Und auf einmal überkam sie der Gedanke, dass sie vielleicht nicht genug gegessen haben könnte und Hunger hätte. Zwar hatte sie zu Abend gegessen, aber es war wohl nicht genug gewesen. Sie ging in die Küche, schaltete das Licht an und schmierte sich ein Käsebrot. Sie aß und es schmeckte.

Danach hatte sie jedoch nicht das Gefühl, satt zu sein. Sie holte den Käse nochmals aus dem Kühlschrank. Ein halbrundes Stück Mondseer. Ihr Lieblingskäse, obwohl er eigentlich zu viel Fett hatte. Sie nahm das Messer, schnitt ein Stückchen ab und schob es sich in den Mund. Lecker. In der allergrößten Not schmeckt der Käse auch ohne Brot. Dann das zweite Stück. Und dann noch eins. Zwischen Zahn und Hand geht viel zuschand. Lena rammte das Messer in den Käse.

»Stopp!«, schrie es plötzlich in ihr. Nicht schon wieder! Sie durfte sich nicht wegen Patrick vollstopfen. Schluss damit! Der Käse starrte sie flehend an, aber sie sperrte ihn zurück in den Kühlschrank und sprang auf.

Sie musste ihr Traumhaus umbauen! Sofort. Alle...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-7543-8215-2 / 3754382152
ISBN-13 978-3-7543-8215-8 / 9783754382158
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