Archimedes in Alexandrien (eBook)
160 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-7019-3 (ISBN)
Der österreichische Schriftsteller Egmont Colerus behandelte in seinen Romanen aus einer zutiefst humanistischen Weltsicht in impressionistischer oder auch expressionistischer Art zahlreiche Problemstellungen in historischer Einkleidung. Darüber hinaus schrieb er mehrere Sachbücher. Er zählte damit zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern (Gesamtauflage über 670.000 Exemplare).
Eratosthenes führte Archimedes über zwei kleinere Höfe, die dem großen glichen und ebenso von zerstäubtem Wasser und Blüten dufteten, in eine Säulenhalle, die ebenfalls durch Öllampen erleuchtet war und von Gemälden schimmerte. Nur reihte sich hier eine Türe an die andere. Nach wenigen Schritten öffnete der große Beta eine dieser Bronzetüren und sie traten in einen Vorraum, in dem ein Diener auf einem Löwenfell schlief, bei ihrem Eintreten jedoch sogleich aufsprang. Es war ein untersetzter Bursche in kurzem, weißem Kittel. Sein Gesicht war rund und glatt und seine Haare waren kurz geschoren.
„Ein Ägypter, Archimedes. Er ist dir zugeteilt. Du wirst erst in einigen Tagen voll ermessen, wie nützlich er ist. Er wird dir beim Bad behilflich sein, er ist ein geschickter Handwerker, der dir alles anfertigt, was du brauchst; er versteht es, in der Bibliothek Schriften aufzustöbern und ist zudem ein äußerst flinker Schreiber. Er kennt auch Stadt und Leute in Alexandria. Du wirst zufrieden sein.“
Der Diener lächelte still vor sich hin und wartete auf Befehle.
„Schlaf wohl, Archimedes“, sagte Eratosthenes, „wir werden gleich am Morgen den größten Schatz des Museions besichtigen." Damit entfernte er sich ebenso liebenswürdig und langsam, wie es hier alle taten. Es war Zeit, alles nachzuholen, was man etwa vergessen hatte zu sagen oder zu tun.
Der Diener, der die letzten Reste von Schlaftrunkenheit verloren hatte, schien äußerst erfreut, dass die weitere Führung nunmehr ihm anvertraut war. Er hob die Öllampe aus der Erzpfanne und öffnete eine Türe, die in ein großes, auffallend kühles Gemach leitete. Dieses Gemach war ungemein vornehm und prächtig ausgestattet. Nichts fehlte. Alles war vorhanden: ein im wahrsten Sinne schwellendes Lager, ein Tisch, auf dem Schüsseln mit Obst, Backwerk und Karaffen voll Wein standen, ein Arbeitstisch nahe dem Fenster. Wiederum Gemälde und Plastiken. Schwere Vorhänge vor dem Fenster. Ein breiter Lehnstuhl. Schreibgeräte. Metallspiegel.
Es war noch nicht genug, was das Museion schon in diesem Raum seinen Bewohnern bot. Ein Vorhang schob sich unter der Hand des Dieners zur Seite und in einem kleineren Zimmer glitzerte das Wasser eines in die Fliesen eingelassenen Badebeckens, an dessen Rand auf einem Tischchen Salben, Essenzen und Tücher lagen.
„Es ist laues Wasser, Herr", sagte der Diener. „Es kommt aus den Springbrunnen und ich ließ es ein, als die Sonne noch hoch stand. Willst du jedoch kaltes, dann lasse ich es abströmen und du wirst das Wasser haben, das nur die Sterne bestrahlten.“
Archimedes warf die Kleider ab. Eine Gier nach Entspannung war über ihn gekommen. Windstille, Wellengekräusel, Sturm. Peisithanatos. Was ist Lust, was Form, was Freitod? Ist die bewohnte Erde ein Frevel, sind es die Sterne? Oder der Rauminhalt der glatten, ungreifbaren, irrationalen Kugel? Oder ist alles nur ein Traum? Der Traum eines Traumes?
Sein Herz hämmerte, die Schläfen pochten, an tausend Stellen stach es in seiner Haut wie mit Nadeln.
Nein, keine Unrast, keine Eile! Im Museion steht die Zeit still. Hier ist es Pflicht, alles zu tun, um das Werkzeug Mensch zu höchster Schärfe zu schleifen. Alles ist hier selbstverständlich. Und doch liegt ein leiser Hauch von Windstille, von Übersättigung in allem.
Am Rande seiner Gedanken stand plötzlich das Mädchen Wirklichkeit, als ihn die lauen Wasser umspielten. Hinweg, Mädchen Wirklichkeit! Du selbst warst der tiefste Traum, den ich in den wenigen Stunden hier träumte.
Ich werde dich nie wiedersehen. Was man hier schaut, zerrinnt zwischen den Händen wie dieses duftende, schäumende Smegma, diese weißen Wolken, die mir der Diener auf den Schultern verreibt, dass sie das Wasser trüben.
Alles scheint hier einmalig zu sein. Auch einen Apollonios werde ich nie wieder sprechen, nie wieder die Qualen seiner Eifersucht erblicken, nie wieder den starren Blick seines Hasses und die kalten Worte, in denen der heilige Zorn ihn um Jahrzehnte reifen ließ, fühlen. Vielleicht auch nie wieder dieses Bad, wie es mich heute umkräuselt. Ist das der letzte Sinn der Sattheit dieser Stadt, dass sie alles nur einmal erleben lässt, obgleich sie es täglich, stündlich bietet? Dass sie unsre Sehnsucht steigert, je vollkommener sie Erfüllung gibt? Poros und Penia, Überfluss und Mangel als die Eltern des Eros. So hat es der göttliche Platon gesehen. Hier aber erzeugt der Überfluss den Mangel, der zum unauslöschlichen Eros wird.
Die Schläfen pochten nicht mehr, als der Diener ihn mit kräuterduftenden Essenzen rieb und mit weichrauen Tüchern trocknete. Eine beruhigende Hand hatte sich auf sein Denken gelegt. Es begann abzuebben, und sich der Windstille zu nähern. Und er streckte sich auf das kühle Lager und hörte schon in weiten Fernen die leisen Tritte des Dieners, der sich in den Vorraum zurückzog.
Archimedes hatte nicht geahnt, welche Fülle von Farben und Lichtern das Museion durchglühte, wenn die volle Morgensonne es traf.
Er saß mit Eratosthenes in der Wandelhalle, in der es von zahlreichen Angehörigen des Museions lebendig war. Diskutierende Gelehrte, lehrende Meister mit einem Schwarm von Schülern, sinnende Philosophen, Lesende, Schreibende, alles in buntem und doch gemessenem und lärmlosem Wirrwarr. Ärzte, die mit verbissenen Mündern rasch die Gruppen durchschritten, um zu den Kranken zu eilen. Diener, die allerlei für ihre Herren herbeischleppten. Sogar Frauen und Mädchen, die den Wissenschaften oder bloß der Neugierde oder auch der Liebe nachhingen. Es gab im Museion nur ein Gesetz. Und dieses hieß: Beförderung und Auftrieb des Geistes und der Weisheit. Das Mittel zu diesem Ziele blieb in vollster Freiheit jedem überlassen, sofern es nicht andere physisch störte.
Eratosthenes und Archimedes aßen nach der uralten Vorschrift der Pharaonen, wie Beta scherzend sagte, Milch, Weißbrot und frische Feigen.
Sie erhoben sich, als ihr Hunger gestillt war, und wiederum ging es durch zahlreiche Höfe. Diesmal jedoch bis ans Ende des Gebäudekomplexes, der die Speisesäle und Wohnstätten umfasste. Nach Durchschreiten des letzten Gebäudes lag eine breite und lose mit Bäumen bestandene Wiese vor ihnen, an deren jenseitiger Begrenzung ein langgestreckter, riesiger Bau wuchtete, der alle weitere Sicht versperrte.
„Mein Palast“, sagte Eratosthenes lächelnd. „Es ist die einzigartige Bibliothek, der ich vorstehe.“
In Archimedes zitterte plötzlich Erregung. Gut, Bücher. Man hatte sich bisher bei den Hellenen schon manchmal um Bücher gekümmert. Hatte sie gesucht, gefunden, gekauft, besessen. War stolz, einige Schriften sein eigen zu nennen. Schon Peisistratos hatte in Athen die Gesänge Homers aufschreiben lassen, als das lebendige Gedächtnis des Volkes und die Kunst der Rhapsoden nachließ. Aber die Anhäufung allen Wissens hatte erst der unheimliche Sammler Aristoteles begonnen, hatte diesen Trieb dem großen Alexander eingepflanzt, der ihn dann den Diadochen vererbte, insbesondere den Ptolemäern, die* noch dazu durch ägyptische Sitten in diesem Hang bestärkt wurden. Ist das nicht alles Angst? Greisenhafte Gier, die Klänge der Jugend zu retten? Oder aber, wie es die Alexandriner fühlen, doch ein neues, größeres, vollertönendes Instrument? Oder gar der Zusammenklang zahlloser Instrumente, der Neues, Ungehörtes offenbaren soll?
„Wir haben hier nahe an sechzigtausend Rollen“, erläuterte Eratosthenes. „Drüben im Serapistempel fast noch einmal dieselbe Anzahl. Die Ausgaben und verschiedenen Lesarten Homers allein umfassen mehr als tausend Rollen. Aber wozu Zahlen? Du wirst bald sehen.“
Auf dem Weg, der die Wiese durchschnitt, war ein eifriges Gehen und Kommen, und es wurde noch dichter, als sie in die Vorhalle des Riesengebäudes eintraten. Mächtige offene Türen ließen zu beiden Seiten eine Flucht von Sälen durchblicken, deren Boden mit grünem, spiegelndem Marmor belegt war und deren Decken ein glattes, stumpfes Weiß zeigten. Kein Bild, keine Verzierung. In der Mitte der Säle lange glatte Tische und an den Wänden Regale, auf denen in gedrängten Reihen die zylindrischen Kapseln der Papyrosrollen standen. An den Tischen standen und saßen Lesende und Schreibende, und Diener und Bibliothekare eilten um die gewünschten Kapseln, wobei sie manchmal hohe Treppen zu Hilfe nehmen mussten.
„Wir sind nicht bloß Bibliothek“, sagte Eratosthenes, „wir sind mehr als das. Du wirst es gleich sehen. Wirst auch in den Mittelpunkt einer Riesenschlacht des Geistes geraten, in einen Umsturz der Wissenschaft, wie ihn die Welt bisher noch nicht sah. Dieses Schlachtfeld allerdings ist selbst den Gelehrten des Museions verschlossen. Aber einmal darfst du einen Blick hinter die Bühne tun.“
Und er ging auf eine verschlossene Tür zu, vor der vier Makedonier Posten standen, die beim Anblick des Leiters der Bibliothek die Flügel, militärisch grüßend, öffneten, sie jedoch gleich wieder unerbittlich...
Erscheint lt. Verlag | 23.9.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
ISBN-10 | 3-7543-7019-7 / 3754370197 |
ISBN-13 | 978-3-7543-7019-3 / 9783754370193 |
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