Petrowitsch (eBook)
448 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61063-5 (ISBN)
Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach schrieb er zahlreiche Drehbücher. Seit seinem Roman ?Picknick auf dem Eis? gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Autoren. Sein Werk erscheint in 45 Sprachen. Kurkow lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in der Ukraine. 2023 wurde er als Ehrenmitglied in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen.
Am Freitag morgen blätterte ich wieder in Der Kobsar und ergötzte mich an den Bleistiftkommentaren.
»Die Weichheit der Heimaterde unterscheidet sich nicht von der Weichheit fremder Erde, weil sie wie jede beliebige Erde der Urgrund der Menschheit ist und sich nicht zwischen den einzelnen Nationen gemäß der Qualität dieser Nationen aufteilen kann.«
Mich erstaunte nicht mal die Klarheit der Formulierungen, sondern der Gegenstand der Überlegungen, als wenn der Mensch, der das geschrieben hatte, sich nur deshalb von den Gefühlen und den Reimen des Taras Schewtschenko entfernt hatte, um über seinen eigenen Schmerz zu berichten, um über sein eigenes Leid klagen zu können. Aber warum hatte ihn das in den relativ glücklichen sechziger Jahren so beschäftigt? Ein Nationalist war er nicht, sonst wären diese Kommentare auf ukrainisch geschrieben. Russischer Chauvinismus war es auch nicht, da neben den eigenen Gedanken Hochachtung, Mitleid und vielleicht sogar Liebe zu Schewtschenko mitschwang. Einen Moment lang dachte ich, daß seine Überlegungen Lenins Thesen ähnelten – insbesondere die These über das Verschwinden von Nationen und Nationalitäten in der Zukunft. Aber im selben Augenblick stellte ich mir vor, was Lenin wohl dazu sagen würde, daß die geliebte Frau die Heimat sei? Nein, ich glaube nicht, daß der Große Glatzkopf mit dieser These einverstanden gewesen wäre, wie schön auch immer die Krupskaja in ihrer Jugend gewesen sein mochte.
Aber die Zeit verging, ich legte das Buch beiseite, ohne es vergessen zu können, und machte mich auf die weitere Suche nach dem Autor dieser Kommentare. Ich ging zum Vorplatz der Universität. Meine Intuition flüsterte mir zu, daß Klim heute dort sein würde. Aber es war nicht nur Intuition. Draußen schien die Sonne, die Vögel zwitscherten. Es wäre dumm gewesen, bei so einem Wetter zu Haus zu sitzen – besonders wenn das Zuhause ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung auf der stark befahrenen Schota-Rustaweli-Straße war.
Ich fand ihn tatsächlich auf dem Platz. Zuerst suchte ich die beiden Alten, die mich schon kannten. Sie zeigten mit dem Finger auf eine Bank, wo die unbefristete Schachmeisterschaft des Univorplatzes ausgetragen wurde. Herauszufinden, wer von den Spielern Klim war, bereitete keine Schwierigkeit, weil der andere Schachpartner höchstens vierzig war.
Nachdem ich das Ende der Partie abgewartet hatte, die nicht weniger als zwölf Mitglieder des ›Klubs‹ verfolgten, ging ich zu Klim.
Dem hatte der hart errungene Sieg ganz offensichtlich ein Gefühl von Genugtuung verschafft, und nachdem alle Fans schon zu Bänken mit anderen Spielern gezogen waren, sogar ohne ihm zu gratulieren, feierte der Sieger für sich allein. Seine eingefallenen Augen in dem knochigen Gesicht leuchteten feurig und jugendlich.
»Dem haben Sie es aber gezeigt«, sagte ich zu Klim anstelle einer Begrüßung.
»Ja, nicht schlecht«, stimmte er zu. »Witek hat auch was drauf, aber ich bin eine uneinnehmbare Festung für ihn.«
Da ich Angst hatte, mich bei einem tieferen Fachgespräch über Schach zu blamieren, wechselte ich schnell das Thema und kam gleich zur Sache.
»Erinnern Sie sich an Lwowitsch?« fragte ich den immer noch glückselig lächelnden Klim.
Sein Lächeln erstarb.
»Natürlich erinnere ich mich …«, sagte er und sah mich mit leicht zugekniffenen Augen an. »Und was sind Sie, ein Verwandter von ihm?«
»Nein.«
»Aber Sie sehen ihm etwas ähnlich …«
Das Gespräch rollte auf einen Abhang zu, und ich mußte es entweder beenden oder schnell unter Kontrolle bringen.
»Ich glaube, ich bin zufällig an eins Ihrer Manuskripte geraten …«, sagte ich.
»Ja?« wunderte sich der Alte. »An welches denn?«
»Nun ja, es ist weniger ein Manuskript als eher Kommentare zu Der Kobsar von Schewtschenko … übrigens sehr interessante.«
Der Alte griff sich an sein schlechtrasiertes Kinn und sah mich erneut durchdringend an.
»Kommentare?« wiederholte er laut. »Das sind nicht meine … Ich habe andere Kommentare geschrieben … Und Der Kobsar ist Ihnen auch zufällig in die Hände geraten?«
»Ja, die Kommentare stehen am Rand der Seiten …«
»Und was ist das für ein Buch? Ein gewöhnliches? Was für eine Ausgabe?« fragte der Alte vorsichtig.
»Kein ganz gewöhnliches … Eine Art von Matrjoschka, die in einen Band von Tolstoj steckt.«
Der Alte nickte und lächelte wieder, während er auf den Asphalt unter seinen Füßen blickte.
»So also bist du aufgetaucht!« sagte er leise.
Dann hob er wieder den Kopf und sah mich nicht mehr durchdringend, sondern eher ruhig und entspannt an.
»Wenn Sie Geld für ein Fläschchen trockenen Weißen haben, dann lade ich Sie zu mir nach Hause ein.«
Geld hatte ich, so daß wir nach einem kurzen Marsch auf der Route Univorplatz–Delikatessengeschäft–Schota-Rustaweli-Straße in einem geräumigen Zimmer mit einer hohen von Stuck und Zickzackrissen geprägten Decke landeten. Im Zimmer standen zwei Schränke, ein Bücher- und ein Kleiderschrank, beide alt, aus den gediegenen fünfziger Jahren. Ein kleiner Tisch, der eher in eine winzige Neubauküche gepaßt hätte, sah in diesem Zimmer wie eine Zwergenmißgeburt aus.
Der Alte reichte mir ein Messer.
»Machen Sie das Fläschchen auf!« sagte er und ging auf den Flur.
Er kam mit zwei Gläsern zurück.
»Als anständiger Mensch werden Sie mich wohl zu einem Gegenbesuch einladen?« fragte er plötzlich mit einem Lächeln.
»Selbstverständlich«, versprach ich.
»Dann zeige ich Ihnen was!« Der Alte ging zum Bücherschrank und öffnete die Tür. »Da.« Er zog aus dem unteren Fach einen ziemlich dicken Band heraus.
Ich nahm das Buch in die Hand – es war die Studienausgabe von Der Kobsar. Die angenehme Rauheit des Einbandes, Kaliko-Baumwollgewebe, war eine Freude für die Hände; es gibt Stoffe, deren Berührung ein fast physisches Vergnügen bereitet.
»Schlagen Sie es auf. Schlagen Sie es auf!« sagte der Alte.
Ich öffnete das Buch. Vor mir lag wieder ein Matrjoschkabuch. In dem Inneren von Der Kobsar steckte ein zweites, etwas bescheideneres Buch, aber auch eine Ausgabe dieser Jahre: Dostojewskijs Der Idiot.
Ich blickte Klim fragend an.
Er lächelte, aber er lächelte nicht mir zu, sondern eher seiner Vergangenheit, die durch mein Erscheinen jäh aufgerissen worden war.
Eine traurige Vermutung zwang mich plötzlich, das Dostojewskij-Buch aus seinem gemütlichen geheimen Lagerplatz herauszuziehen und durchzublättern. Und die Vermutung erwies sich als richtig. Auf den Rändern von Der Idiot tauchten Bleistiftkommentare auf, nur daß die Handschrift hier größer war.
»Haben Sie das geschrieben?« fragte ich Klim.
»Ja, ich«, sagte er und setzte sich an den kleinen rechteckigen Tisch.
»Und Der Kobsar?« Ich streckte meine Hand nach der Flasche aus und goß den Riesling in die Gläser, während ich gleichzeitig versuchte, meine Gedanken in eine gewisse logische Ordnung zu bringen.
»Der Kobsar? Nein. Den hat jemand anderer kommentiert …« Der Alte streckte seine Hand aus und nahm das Glas.
»Lwowitsch?« fragte ich, um ihn zu etwas aktiveren Erinnerungen zu provozieren.
»Wieso Lwowitsch? Lwowitsch hatte sich Die toten Seelen ausgesucht.«
»Hören Sie«, begann ich mit dem Gefühl, daß mein Kopf in einen dicken Nebel versank und überhaupt nichts mehr von den vergangenen und jetzigen Geschehnissen begriff. »Hatten Sie so etwas wie einen Literaturzirkel?«
»Keinen Literaturzirkel, sondern einen Philosophiezirkel«, berichtigte mich der Alte. »Und nicht ›hatten‹, sondern haben … Wenigstens solange ich lebe. Ich bin mein eigener Zirkel.«
»Aber wer hat die Kommentare zu Der Kobsar geschrieben?« fragte ich.
»Slawa Gerschowitsch … Friede seiner Seele …«
»Wieso, ist er gestorben?«
»Sie haben ihn ermordet … Stromschlag.« Der Alte ließ traurig den Kopf hängen. »Er war ein guter Junge! Ein heller Kopf! Noch vor den Kaschpirowskijs und den Hypnotiseuren kannte er alle diese Kunststücke … Deshalb haben sie ihn auch umgebracht …«
Nebel begann wieder meinen Kopf zu umhüllen.
»Was hat Der Kobsar mit Hypnotiseuren zu tun?« fragte ich in völligem Unverständnis.
»Na Sie machen mir Spaß!« Der Alte sah mich an wie einen Idioten. »Was ist denn Ihrer Meinung nach hohe Literatur? Einfach Buchstaben und Metaphern? Es ist auch ein Mittel, den geistigen Strom weiterzugeben, wie eine Stromleitung! Wollte man sich mit einer düsteren tiefgreifenden Energie aufladen, schlug man ein Buch von Dostojewskij auf. Wollte man sich erheitern und in einem helleren Zustand verweilen, dann nahm man ein Prosawerk von Turgenjew in die Hand … Diese Idioten à la Kaschpirowskij haben alles in die Heilung von Hämorrhoiden per Fernseher pervertiert. Aber glauben Sie mir, der Tag des Heiligen Georgij geht vorbei, und die Literatur wird bleiben, als einziger Leiter aller Bioenergie.«
»Nun, und was für eine Energie gibt Der Kobsar weiter?« fragte ich.
»Das hätte man lieber Gerschowitsch fragen sollen … Aber ich sage Ihnen, da geht es um mehr als Der Kobsar und als um Schewtschenko selbst … Das ist so eine Sache … Nun, und deswegen haben sie ihn umgebracht …«
»Weswegen?«
Der Alte trank seinen Wein aus. Wieder...
Erscheint lt. Verlag | 28.7.2021 |
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Übersetzer | Christa Vogel |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dobryj angel smerti |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Geschichtslehrer • Kasachstan • Lehrer • Liebe • Roadmovie • Roadnovel • Roman • Suche • Tagebücher • Wüste |
ISBN-10 | 3-257-61063-7 / 3257610637 |
ISBN-13 | 978-3-257-61063-5 / 9783257610635 |
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