Spiegelland (eBook)

Ein deutscher Monolog

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
159 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75541-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spiegelland - Kurt Drawert
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Kurt Drawerts «Spiegelland» ist ein zentraler und furios-schöner Roman über die persönliche und politische Zäsur des Endes der DDR und eine hoch belastete Vater-Sohn-Beziehung, über die Formen der Zurichtung von Geist und Körper und deutsche Unterdrückungsgeschichte. Poetisch, radikal, erschütternd, komisch und ein Fanal des Widerstands der Literatur.
Unmittelbar nach dem Ende der DDR schrieb Kurt Drawert den Roman «Spiegelland», der eines der eindrucksvollsten und bedeutendsten Zeugnisse über die historischen und biografischen Brüche ist, die diese dramatische Zäsur in unserer Geschichte zugleich hervorgerufen und sichtbar gemacht hat.
Mit einem eigenwilligen poetischen Furor, der einen mitunter an Thomas Bernhard denken lässt, schreibt Drawert in diesem radikalen und ergreifenden Text, der vor allem auch die Geschichte einer scheiternden Vater-Sohn-Beziehung ist, gleichzeitig über die Mechanismen der Repression in der DDR, hinter denen eine lange deutsche Unterdrückungshistorie steckt. In der Beschreibung des Vaters und damit auch des «Autoritären Charakters» wird ein deutsches Trauma kenntlich, auch wie die Sprache der Zurichtung funktioniert und wie sich die poetische Sprache ihr widersetzt. Wie schreiben sich Lebenszerstörung und -verarmung über sprachliche Formeln, Schweigen, Gesten, Züchtigung und Versagung in Geist und Körper ein? Und inwieweit ist große Literatur wie dieser Roman auch ein Akt des Widerstands und der Befreiung?
Mit dieser Ausgabe wird «Spiegelland», ein Text, der sich seine Frische und Wucht unverändert bewahrt hat, wieder zugänglich, ergänzt um einen Essay.

Kurt Drawert, geboren 1956 in Hennigsdorf bei Berlin, lebt als Autor von Lyrik, Prosa, Dramatik und Essays in Darmstadt, wo er auch das Zentrum für junge Literatur leitet. Bei C.H.Beck erschienen der Roman «Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte» (2008), die gesammelten Gedichte «Idylle, rückwärts» (2011), «Schreiben. Vom Leben der Texte» (2012), «Was gewesen sein wird. Essays 2004-2014» (2015) und das Langgedicht «Der Körper meiner Zeit» (2016). Für seine Prosa wurde Drawert ausgezeichnet u. a. mit dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Werner-Bergengruen-Preis, für seine Lyrik u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis, dem Lyrikpreis Meran, dem Nikolaus-Lenau-Preis, dem Rainer-Malkowski-Preis, zuletzt mit dem Robert- Gernhardt-Preis 2014. 2017 erhielt er den Lessingpreis des Freistaates Sachsen und war 2018 Dresdner Stadtschreiber.

2


… doch mit dem Land sterben die Begriffe noch nicht, die es hervorgebracht hat, wir haben, sagte ich zu W., den ich zufällig, nach fast zehn Jahren, wiedertraf, mit Begriffen gelebt und mit einer Sprache gelebt, die über Existenzen entschied und über Biografien, ritualisierte Verständigungssätze, magische Verkürzungen, Formeln der Anpassung oder der Verneinung, auswendig gelernt, dahingesagt, die Verformung der Innenwelt durch die Beschaffenheit der Wörter, sagte ich zu W., der fett geworden ist, verbittert und zynisch, ein obszönes Vokabular spricht, unablässig Bier trinkt, grob aufstößt und mit hassverzerrtem Gesicht: die Säue ausficken will, die ihn so ruiniert haben, wie er sagte. Ich war fünfzehn, als mir der etwas ältere Jugendfreund Bücher zu lesen gab, die mein Leben entscheidend prägen sollten, Freud, Sartre, Dostojewski, Nietzsche, «Als Zarathustra dreißig war …», Hermann Hesses «Steppenwolf», wir saßen in einem provisorisch hergerichteten Keller als die verkommenen Söhne hochbeamteter Väter, dieses ganze Dresdener Innenstadtviertel bestand fast ausschließlich aus hochbeamteten Vätern mit verkommenen, zumeist einzelnen Söhnen und Töchtern, die es mit vierzehn schon machten in einem provisorisch eingerichteten Keller wie diesem, wir waren die zu bummeln und zu trinken beginnenden und verzweifelten Söhne ohne Herkunft und Ziel, «Macht aus dem Staat Gemüsesalat», «Wir wollen alles und jetzt». Vater und Mutter waren gestorben im Alkohol, den wir tranken, in der Musik, die wir hörten, in den Zeilen, die wir lasen, das Ende einer Übereinkunft mit den Begriffen, über die wir an der Leine gehalten wurden. W. trat mit dem Fuß gegen eine Holzmiete und lachte gequält über das Geräusch berstender Leisten, und es war, als wären es die Wörter gewesen, die morsch zerbrachen und die wir Tag für Tag hörten und lasen und sprachen, wenn wir diesen Keller verließen, der am ehesten noch ein Zuhause gewesen ist. Das Dresdener Zentrum aus der Perspektive der Häuserrückseiten und Höfe, blattloses Gestrüpp, abgestellte Kisten, Eimer und Tonnen, stinkende, fettverschmierte Holzkübel mit Speiseresten am Hinterausgang besserer Lokale, Ratten, Mäuse und Schaben, verwilderte, obdachlose Katzen mit grindigen Zitzen und blutverkrustetem Fell, geduckt und geschlagen hocken sie zwischen den harten, verdorrten Sträuchern, ein kriegsbeschädigter Irrer, der mit verkrüppelten Fingern im Unrat wühlt und von ungeliebten, wütenden Kindern mit Erdklumpen beworfen wird, ehe man ihn später erschlagen in der Hofeinfahrt findet, die erste Liebe mit nackten Schenkeln im Sommer, auf der einzigen Holzbank, sobald die Dunkelheit kam, aus Einsamkeit an sich und aus Einsamkeit vor einer Losung, die hoch über den Dächern rot beleuchtet zu sehen war, «Der Sozialismus siegt», verloren, entschieden verloren, verzweifelt und einsam. W. hatte einige Philosophien im Kopf, die er aufschrieb oder auch malte, als er von allem ausgeschlossen wurde, was man Bildungsweg nannte und mit Bekenntnissen antrat, gute Noten in Geschichte, Staatsbürgerkunde und im Fach Russisch waren nicht gute Leistungen, sondern Bekenntnisse, Spreu oder Weizen sein, so mein nazierzogener Lehrer immer wieder, später stand er wegen Päderastie vor Gericht und wegen Vergehen gegen das sozialistische Eigentum und einigen Unterschlagungen von Sport- und Freizeitgeldern aus dem Fonds des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Das waren alles solche Namen, Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Freie Deutsche Jugend, wir sind geboren worden und sofort Sklaven gewesen, konform oder dagegen sein, eine gespaltene Generation, deren oft bessere Hälfte ins Abseits und in die Chancenlosigkeit und in die Randexistenz geriet, um, wie mein Jugendfreund W., zwanzig Jahre später ein obszönes Vokabular zu sprechen, unablässig Bier zu trinken, grob aufzustoßen und mit hassverzerrtem Gesicht: die Säue ausficken zu wollen, die sie so ruinierten. Aber in Wahrheit waren dieses Abseits und diese Chancenlosigkeit und diese Randexistenz auch eine Möglichkeit, der Verblödung zu entkommen und der Bewusstlosigkeit und der permanenten Tötung von allem, was dachte und handelte und sah, und so haben wir die Sprache unserer hochbeamteten Väter in einer Gegend, in der es nur hochbeamtete Väter und verkommene Söhne zu geben schien, verweigert mit aller Entschiedenheit und gewusst, dass sie sterben würde eines Tages wie ein krankes, sieches Tier, Nur der Zeitpunkt, sagte W., war niemandem klar. Wir sind mit Dutzenden von verlogenen Begriffen aufgewachsen, die wir im ehrgeizigen Alter der Kindheit unbedarft und schamlos vor uns hingesagt haben und die wir auswendig lernten wie fremde Vokabeln, ohne zu wissen, dass sie ein Leben und eine Existenz von innen heraus nur zum Scheitern bringen, wenn man sich ihrer nicht rechtzeitig entledigt so gut es geht, und vielleicht, denke ich, bedarf es eines ganzen Lebens, sich dieser Begriffe zu entledigen. W. hätte eine Möglichkeit gehabt, aber er ist verlorengegangen in einer Sprache, die er mit uns verlassen wollte, denn er hatte nicht aufgehört, in dieser Sprache, wenngleich als Umkehrung, zu leben und die Begriffe, wenngleich in negativer Bedeutung, zu sprechen und die Grenze, über die man gehen muss in eine andere Sprache, so nie zu erreichen, um heute stumpf, verbittert und ordinär geworden den begabten Anfang in den Schmuddelecken der Jugend mit dem kräftigen Aufschlag des Bierseidels auf der Platte des Tisches fast unerinnerbar werden zu lassen. Aber auch ich hätte so ins tatsächliche Verkommen geraten können, ziellos und heimatlos und verzweifelt, wie ich mich fühlte, wenn ich morgens um sechs in die Lehranstalt lief und neben mir die technikbegeisterten Jünglinge sah, wie sie innerlich ausgelöscht über Schaltkreise sprachen und sich dabei an den Ausschlägen kratzten, bis aus einem Pickel am Hals oder Kinn blassrotes Blut floss. Ich muss der allereinsamste Mensch gewesen sein unter den Kommilitonen des Schwachsinns und dem nazierzogenen Lehrer, der nur noch ins Verkommen und ins Nichtstun geraten wollte, das das Gegenteil von Nichtstun und Verkommenheit eben dieser unerträglichen, geisttötenden und sterbenslangweiligen Ausbildung war mit ihren Zwängen und Verlogenheiten und Anpassungsritualen. Immer wieder nahm ich mir vor, abzubrechen und umzukehren, wenn ich an der rotbeleuchteten Aufschrift «Der Sozialismus siegt» vorbei über die Straße in die Lehranstalt lief, du musst alles abbrechen, sagte ich mir den ganzen Weg über vor mich hin, du musst ganz entschieden abbrechen und etwas anderes tun. Diese Lehranstalt ist eine Verhinderungsinstanz des Denkens gewesen, die aber auch jeden Ansatz von Individualität, wo immer sie möglich war, zerstörte, und zu denken ist etwas Feindliches und Absonderliches und ganz und gar Schädliches gewesen, das auf verbotene Lektüre schließen ließ und bekämpft werden musste mit allen Mitteln der proletarischen Diktatur. Aber nicht nur diese Lehranstalt, sondern ausnahmslos jede Lehranstalt ist eine Verhinderungsinstanz des Denkens und der Individualität gewesen, jede Allgemeinschule und jede Oberschule und jede Berufsschule, jede Ingenieurschule und jede Fachschule, jede Hochschule und jede Universität war nichts als eine einzige Verhinderungsinstanz, durch die jene sogenannte bessere Hälfte der Jugend getrieben worden ist, um vollständig verblödet und vernichtet wieder herauszukommen und jene hochbeamteten Stellungen zu übernehmen, die vor zwanzig Jahren noch unseren Vätern gehörten. So habe ich es damals nicht verstanden, dass es meine vielleicht einzige Möglichkeit war, nicht in dieses stupide und alle Abläufe vorbestimmende Entwicklungssystem verstrickt worden zu sein und die Bildungskolonnen als Außenstehender zu sehen, wie sie mit den Sonntagnachmittagszügen in die Universitätsstädte fuhren und auf den Heftstößen voller Unwissen und absurdem Gepauke sitzend die Gänge und Türen blockierten. Ich habe es nicht gleich verstanden, warum mir aufgrund eines nichterfolgten Bekenntnisses der sogenannte höhere Bildungsweg, der in Wahrheit ein höherer Verblödungsweg war, versagt gewesen ist, und warum ausgerechnet ich das Grässlichste aushalten sollte, was es in meinem damaligen Verständnis vom Grässlichen überhaupt gab, nämlich eine und im übrigen von meinem Vater empfohlene technische Schule zu besuchen, in der ich aber auch nichts außer Hirnlosigkeit und infamer Gemeinheit kennengelernt habe. Fast täglich wollte ich aufhören, ganz einfach aufstehen und gehen, irgendwohin, nur weg, aber es gab innerhalb dieser Maschinerie, die dieses System in...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiografisch • Autobiographisch • autoritärer Charakter • DDR • Denkstrukturen • Erfahrungen • Familie • Familiengeschichte • Geschichte • Haltungen • Kurt Drawert • Leben • Literatur • Repression • Roman • Schweigen • Spiegelland • Verhaltensweisen • Versagung • Züchtigung
ISBN-10 3-406-75541-0 / 3406755410
ISBN-13 978-3-406-75541-5 / 9783406755415
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