Kasernen-Cowboy (eBook)
320 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-3785-9 (ISBN)
Rainer Kudziela, Jahrgang 1944, Diplom-Soziologe und Gestalttherapeut, lebt und arbeitet in Hamburg.
VORGESCHICHTE
Erste Erinnerungen
Manchmal steigen überraschend schemenhafte Bilder aus seiner ganz frühen Kindheit auf. Der Junge ist noch keine drei Jahre alt. Lebt mit seinen Eltern im Alten Land bei Tante Lisa. Sie wohnen mit ihr in einer kleinen alten Kate aus dunkelroten Backsteinen. Die Hausecken sind rund und abgestoßen. Um das Haus herum führt ein schmaler Weg aus kleinen Kieselsteinen. Eigentlich ist es gar kein Weg, sondern eine Regenrinne, die vom Regenwasser ausgewaschen ist, das vom Reetdach läuft und tropft. Wenn er draußen ist, auf diesem Weg, regnet es nicht mehr, sonst hätte ihn Maman gar nicht rausgelassen. Aber. In seiner Erinnerung tropft es immer vom Dach und von den kahlen Bäumen.
Gleichzeitig scheint die Sonne. In ihrem Licht funkeln und strahlen die feuchten Steine. Es ist wie in einem Märchen. Im Winter hängen Eiszapfen an der ausgefransten Reetdachkante. Gläsern. Durchscheinend. Hell. Verführerisch. Er greift nach ihnen, will sie abbrechen. Manchmal gelingt es. Dann dreht er sie im Mund hin und her, lutscht und beißt auf ihnen herum. Die Zunge wird kalt und immer kälter. Er stampft mit den Schuhen in die Wasserlachen, lässt es spritzen, lacht. Im Garten stehen Blumen vom letzten Jahr. Sie haben braunblaue Blüten. Dunkel. Abgestorben. Maman nennt sie Hortensien. Für ihn sind es Totenblumen. Sie sind schon tot und stehen noch da. Er soll sie nicht anfassen, also steht er vor ihnen und betrachtet sie fasziniert.
Diese Blumen haben eine besondere Ausstrahlung. Gefühle steigen in ihm auf, wie er sie sonst nur im Haus hat, vor allem wenn es abends dunkel wird, wenn er etwas Angst bekommt. Es ist nichts zu sehen, nichts zu hören, auch wenn er sich alle Mühe gibt. Es ist die Atmosphäre, die er wahrnimmt. Sie ist im Haus und sie ist auch in ihm drin. Das kann er nicht unterscheiden. Die Blüten der Hortensien helfen ihm ein bisschen. Er kann sie anfassen und sehen, was er sonst nicht sehen und nicht anfassen kann.
Dieses Unsichtbare im Haus ist dunkel. Unklar. Verwirrend. Verschlossen. Verschwiegen. Verheimlicht. Er ahnt und spürt ein großes Leid hinter einer verschlossenen Tür. Er ist neugierig und er ist vorsichtig. Er möchte wissen, was ihn hinter der Tür erwartet. Hereinlassen möchte er es aber nicht!
In diesem Winter besucht er mit Maman einmal Leute, die sie kennt. Keine engen Freunde. Es sind alte Bekannte, sagt sie. Maman fährt mit dem Fahrrad. Er sitzt auf dem Gepäckträger hinter ihr. In Steinkirchen vor der Brücke halten sie. Ein altes kleines Haus steht da. Sie betreten die Wohnung. Es ist dunkel. Ein paar Kerzen brennen. Er kennt hier niemanden außer Maman. Eine fremde, dunkle Stimmung ist im Raum. Erwartungsvoll wie zu Weihnachten. Er bekommt einen kleinen Keks, der gut schmeckt. Lebkuchen, wird gesagt. Gespräche, die er nicht versteht. Nicht verstehen kann und wohl auch nicht verstehen soll. Hört er das Wort Krieg? Hört er das Wort Gefangenschaft? Hört er das Wort Tod? Jemand raucht Zigaretten. Die Luft wird dick wie die Stimmung im Raum. Trauer. Schmerz. Leid. Dringen in ihn ein.
Er drückt sich an Maman, versucht, mit ihr zu schmusen. Sie streichelt ihn. Ist mit ihrer Aufmerksamkeit aber nicht nur bei ihm, sondern auch bei den Geschichten, die erzählt werden. Er will Maman ablenken. Er will hier weg. Ihm ist langweilig und er fühlt sich unbehaglich. Mehr und mehr! Er will nach Hause. Aber das geht nicht. Er klebt fest an dieser Stimmung. Die Erwachsenen auch. Sie können nicht aufhören. Es geht ihnen nicht gut. Das ist sichtbar und hörbar. Sie versuchen sich von irgendetwas freizureden, freizusprechen. – Endlich ist Schluss. Maman und er verlassen den Raum. Draußen ist es ganz dunkel. Ist es Abend? Ist es Nacht? Er weiß es nicht. Es ist winterlich kalt. Die Luft ist angenehm frisch.
Schneetreiben im Alten Land
Dies ist ein unwirklicher, kalter, grauer Winternachmittag, kurz vor oder nach seinem dritten Geburtstag. Es hat gerade angefangen zu schneien, und er spielt und läuft ganz beseelt durch die herabschwebenden Schneeflocken. Sie fallen auf seine Arme, die er vor sich ausstreckt. Er will sehen, wie der Schnee auf die Ärmel seiner Strickjacke fällt. Er hält immer wieder das Gesicht in den Himmel und wartet darauf, auf seiner Haut den leisen Aufprall der kalten, kleinen, weißen Schneesternchen zu spüren. Dabei kurvt er übermütig unter den Wäscheleinen hindurch.
Eine junge Frau hängt Unterhosen, Unterhemden, Laken und Bettbezüge auf. Alles ist weiß. Er weicht ihr aus. Sie weicht ihm aus. Wie soll die Wäsche bei diesem Wetter trocknen? Unter seinen Füßen Kopfsteinpflaster. Nass und glatt vom Schnee. Er muss aufpassen, nicht auszurutschen. Aber das macht ihm nichts aus. Er ist geschickt.
Dann verliert er die Lust am Herumrennen und hat eine Idee. Er steht am Rande des kleinen Hofplatzes von Bertas Bauernhof im Alten Land, wohin sie vor kurzer Zeit umgezogen sind. Ganz in der Nähe des Platzes, auf dem er hin- und hergerannt ist, liegt ein kleiner Garten und der grenzt an einen Wassergraben. Darauf muss doch jetzt Eis sein. Da will er hin.
Direkt am Grabenrand dient ein kleiner Holzsteg als Befestigung. Den kennt er. Hier werden Milchkannen gespült, wird im Sommer Wasser für die Blumen geholt. Hier kniet er sich hin, beugt sich über den Rand der Holzbretter und greift mit der Hand nach dem Eis, das sich tatsächlich auf dem Wasser gebildet hat. Auf dem Eis bemerkt er ein kleines rubbeliges Muster wie bei einer gestickten Tischdecke. Darüber freut er sich, greift danach, rutscht ab, kann das schöne Muster nicht fassen. Nimmt eine leere Konservendose, die hier steht. Schlägt mit der Dose auf das Eis, um sich ein Stück davon herauszubrechen. Das Eis ist zu hart. Er schlägt heftiger, beugt sich weiter nach vorn. Macht mehr Druck mit seinem ganzen Körpergewicht.
Da passiert es. Er fällt vornüber und bricht durch das Eis. Es ist höchstens so dick wie seine Finger. Er ist völlig überrascht und erschrocken. Sofort hält er die Luft an, krallt sich am Rand des Holzstegs fest. Es wird dunkel um ihn herum. Sein Kopf befindet sich unter Wasser. Das weiß er sofort. Hält sich fest, so fest es geht, sonst ist alles aus! Das ist sein einziger Gedanke. Festhalten so lange er kann. Langsam wird ihm kalt. Er spürt das Wasser am ganzen Körper. Überall.
Dann wird er herausgerissen aus dem eiskalten Wasser. Gibt keinen Laut von sich. Die junge Frau trägt ihn, rennt mit ihm stolpernd über das Kopfsteinpflaster zum Haus. Sie reißt die Tür auf und schreit. Da kommt Maman. Sie nimmt ihn in den Arm, zieht ihn aus, rubbelt ihn mit einem Handtuch trocken und murmelt für ihn unverständliche Worte. Er spürt ihre Unruhe, ihre Angst, ihre Fassungslosigkeit. Dann legt sie ihn ins Bett. Er schläft sofort ein. Als später am Abend Papa nach Hause kommt, wacht er kurz auf und hört ihn sagen: »Wie konnte das schon wieder passieren?« Und nach einer Weile: »Der eine kommt, der andere geht.« Dann schläft der Junge wieder ein.
Hahnenkampf
Er hat sich gestreckt, so weit wie er kann. Steht jetzt auf den Zehenspitzen in der Küche am Fenster. Er schafft es gerade so eben, dass er nach draußen sehen kann, zwischen zwei Blumentöpfen hindurch, in denen Geranien blühen. Das Kinn hat er dabei auf seine Hände gestützt, die auf dem Fensterbrett liegen. Er beobachtet, was draußen passiert, wie so oft, wenn er sich langweilt. Diesmal ist er ganz gebannt.
Keine drei Meter entfernt von ihm, hinter dem Drahtzaun des Nachbarn, passiert etwas Aufregendes auf dem Hühnerhof. Zwei Hähne kämpfen miteinander. Der eine hat weiße Federn, der andere braunrote. Sie tanzen und flattern umeinander herum. Die Federn im Nacken sind gespreizt. Wütend gehen sie aufeinander los. Sie hacken mit den Schnäbeln aufeinander ein. Der Junge kann den Blick nicht von dem lassen, was er sieht. Fühlt sich wie mittendrin in diesem Kampf. Vergisst alles andere um sich herum. Die Hähne springen sich an. Schlagen mit den Flügeln. Er sieht die großen spitzen Zehenkrallen. Sie sind wie Messer. Er bekommt Angst. Das tut bestimmt weh! Er kann die Stärke und die Ausdauer der beiden Hähne nicht fassen. Keiner gibt nach. Keiner rennt weg. Er wäre schon längst weggerannt. Sie hören einfach nicht auf.
Der Weiße springt höher, trifft den Braunroten mit den Sporen. Der flüchtet. Kommt aber sofort wieder zurück. Springt und fliegt jetzt noch höher als der weiße Hahn, so hoch wie der Zaun. Jetzt trifft er den Weißen. Der kleine Junge zuckt zusammen, sieht das Blut auf den weißen Federn. Rot läuft es über die Brust herunter. Er ist völlig gebannt. Kann sich nicht rühren. Der Junge hat Angst und ist merkwürdig erregt, wie hypnotisiert. Sein Gesicht ist ganz heiß geworden.
Der weiße Hahn liegt jetzt am Boden. Ist er tot?
Fuchs und Wolf
Wenn er am Küchentisch sitzt und isst, schaut er an der gegenüberliegenden Wand immer auf ein großes Bild. Es ist eine Zeichnung in Schwarz-Weiß und zeigt Tiere und...
Erscheint lt. Verlag | 23.6.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7534-3785-9 / 3753437859 |
ISBN-13 | 978-3-7534-3785-9 / 9783753437859 |
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