Am Abgrund der Menschlichkeit -  Gerhard Trabert

Am Abgrund der Menschlichkeit (eBook)

Begegnungen mit Menschen auf der Flucht
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
200 Seiten
adeo (Verlag)
978-3-86334-841-0 (ISBN)
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Die überwiegende Zahl der Menschen, die aktuell ihre Heimat verlassen, tun dies nicht, weil sie in Europa das Paradies erwarten, sondern weil in ihrer Heimat die Hölle herrscht. Sie flüchten vor Krieg und Bürgerkrieg, sie flüchten vor Umweltkatastrophen, vor zunehmenden Dürreperioden, sie flüchten vor existenziell bedrohlicher Armut und vor Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Als Arzt habe ich Menschen auf ihrer Flucht in der ganzen Welt behandelt. Ich habe ihr Leid miterlebt, ihre Angst, ihren Schmerz, ihre Hoffnungslosigkeit. Aber auch ihre Dankbarkeit, ihre Freundlichkeit und soziale Intelligenz - trotz all dem Erlebten. Lassen Sie mich also versuchen, Ihnen die Lebensschicksale von flüchtenden Menschen näher zu bringen. Ich möchte all jenen, die als anonym-abstrakte Zahl durch die Medien geistern, ein Gesicht und eine Stimme geben, die zu oft nicht gehört und verstanden wird. Gleichzeitig möchte ich Hoffnung und Mut machen, weil wir die Situation von Menschen in Not unmittelbar verbessern können - sofern wir unsere Augen vor dem Leid in dieser Welt nicht verschließen und unser Handeln von Verantwortung, Solidarität und Mitgefühl bestimmt wird.

Gerhard Trabert, geboren 1956 in Mainz, ist ein deutscher Arzt für Allgemeinmedizin/Notfallmedizin, Professor für Sozialmedizin/Sozialpsychiatrie und Buchautor. Er ist der Gründer und 1. Vorsitzender des Vereins 'Armut und Gesundheit' in Deutschland sowie des Vereins Flüsterpost.

Gerhard Trabert, geboren 1956 in Mainz, ist ein deutscher Arzt für Allgemeinmedizin/Notfallmedizin, Professor für Sozialmedizin/Sozialpsychiatrie und Buchautor. Er ist der Gründer und 1. Vorsitzender des Vereins "Armut und Gesundheit" in Deutschland sowie des Vereins Flüsterpost.

ANGOLA –

Der Tod gehört zum Alltag


2003 in Matala. Kurz nach dem offiziellen Ende des seit Jahrzehnten dort herrschenden Bürgerkrieges versuchen wir mit einfachsten Mitteln, die vom Bürgerkrieg gezeichneten Menschen medizinisch zu versorgen. Hierfür sind wir mit einem Ärzte- und Krankenpflegeteam der Hilfsorganisation Humedica in verschiedenen Flüchtlingslagern und einem Krankenhaus im Einsatz.

Die vielen kriegerischen Auseinandersetzungen in Afrika, die sogenannten Bürgerkriege, haben sehr oft mit der Kolonialpolitik und den sich daraus ergebenden Abhängigkeiten und Unterdrückungs- sowie Diskriminierungsmechanismen zu tun. Dies hat sich in all den Jahren nicht wirklich verändert, immer noch fällt der afrikanische Kontinent europäischen, US-amerikanischen, chinesischen und russischen Wirtschaftsinteressen zum Opfer. Zu schnell werden die daraus entstehenden Konflikte als das Resultat der in Afrika üblichen Korruption sowie der dortigen Mentalität diffamiert, während der globale Zusammenhang und die Ursachen, die in Wirtschaftsinteressen zu suchen sind, außer Acht gelassen werden.

Angola ist zum Beispiel ein Land mit großen Diamantvorkommen. Unter anderem europäische Länder beuten diese Vorkommen aus und nehmen daraus resultierende inländische Konflikte in Kauf bzw. befeuern sie, um diese innenpolitische Schwächung für sich gewinnbringend zu nutzen. Zurzeit ist die natürliche Ressource der „Seltenen Erden“ (Seltenerdmetalle), auch das Gold des 21. Jahrhunderts genannt, eine neue Ausbeutungsware, die knapp und unersetzbar ist. Naturstoffe wie zum Beispiel Lithium, Neodym, Europium, Erbium oder Scandium sind quasi die Grundlage des weltweiten digitalen Fortschritts. Insbesondere die Industrienationen verlangen nach diesen Schlüsselkomponenten für Computer, Batterien, Smartphones, Lasergeräte, Elektroautos usw.

Angola – wieder ein Land, das vom Bürgerkrieg und dem vergangenen Ost-West-Konflikt ausgezehrt und in weiten Teilen einer belastbaren Infrastruktur beraubt wurde. Wieder sind es die Vertriebenen, Hunderttausende von geflüchteten Menschen, die hungern und zusammengepfercht in Flüchtlingslagern weitgehend ohne medizinische Versorgung versuchen zu überleben. Im April 2003 haben Rebellen und die Regierung in Angola ein Friedensabkommen geschlossen. Inzwischen ist es zum Teil wieder möglich, Regionen zu erreichen, die während des Bürgerkrieges nicht versorgt werden konnten. Eine Gefahr aber bleibt: Weltweit ist wohl kaum ein Land so übersät mit Personenminen wie Angola.

Die Anreise zu unserem Einsatzort ist voller Hindernisse: Wir starten in Frankfurt, fliegen über Johannesburg nach Luanda, in die Hauptstadt Angolas. Der Weiterflug nach Lubango morgens um fünf Uhr ist jedoch nicht möglich, weil das Flugzeug offenbar völlig überbucht ist. Man setzt uns also auf eine Warteliste für den nächsten Tag – Diskussion zwecklos! Die Deutsche Botschaft nennt uns eine Kontaktperson, die uns bei der Organisation des Weiterfluges unterstützen soll, doch der Kontaktmann erleidet einen Malariafieberanfall und ist ans Bett gefesselt. Trotz allem sitzen wir irgendwann endlich im Flugzeug nach Lubango. Nach einer anschließenden katastrophalen fünfstündigen Autofahrt erreichen wir endlich das Ziel unserer Reise: Matala.

Nun beginnt die eigentliche Arbeit. In den Lagern herrschen Armut, Verwahrlosung, Krankheit. Jeder Arzt behandelt etwa 80 bis 100 Patienten pro Tag. Auch hier behandeln wir vor allem parasitäre Erkrankungen, Erkrankungen der Atmungsorgane, Hautkrankheiten wie Krätze, Schuppenflechte und bakterielle Infektionen der Haut und Mangelerkrankungen.

Im Krankenhaus hingegen dominieren die schwereren Fälle. Die Versorgungslage ist schlecht, ein Angolaner wird derzeit im Durchschnitt lediglich 38 Jahre alt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Patient, darunter viele Kinder, an einer zu spät erkannten oder behandelten Malaria oder an sonstigen Infektionen stirbt. Der Tod gehört zum Alltag. Das belastet uns mitteleuropäische Ärzte sehr, denn auch wir sind mangels diagnostischer und therapeutischer Mittel oft hilflos. Kinder, die wahrscheinlich aufgrund einer zerebralen Malaria krampfen, sind am folgenden Tag tot. Ein verzweifelter Mann spendet für seine Frau Blut. Wir versuchen ihre Malaria und Sepsis und Lungenentzündung „blind“ zu behandeln. Ohne Erfolg! Die Frau stirbt noch in der folgenden Nacht.

Verordnete Medikamente müssen die Patienten oder ihre Angehörigen in einer nahe gelegenen Apotheke besorgen. Viele Familien können sich dies jedoch nicht leisten, also bekommt der Patient oder die Patientin im Zweifel keine Medikation. So „einfach“ ist dies in vielen Regionen dieser Erde und besonders eben auch hier in Afrika. Die Verpflegung der Patienten obliegt ebenfalls den Angehörigen. Wir machen mehrfach die Erfahrung, dass eine Familie eine Krankenhauseinweisung ablehnt, weil sie nicht für die Verpflegung sorgen kann oder andere Familienangehörige, wie zum Beispiel Kinder, ansonsten unversorgt blieben.

Operationen sind nicht möglich. Ein Mann wird von seinen Verwandten mit einem Lungendurchschuss ins Krankenhaus gebracht. Die Schwestern verbinden die Wunde, wir legen eine Infusion mit schmerzstillenden Medikamenten und verabreichen Antibiotika gegen die sehr wahrscheinlich auftretende bakterielle Infektion der Einschusswunde. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Am darauffolgenden Tag wird unser Patient mit seiner Schussverletzung von Freunden in einem Pick-up zum nächstgelegenen größeren Krankenhaus gefahren. Ob er die Verletzung überleben wird?

In Angola gehören Pistolen, Kalaschnikow-Gewehre, zerschossenes militärisches Gerät und Minenopfer zum Alltag, wie schon bei meinem Hilfseinsatz im Dezember 2001 in Afghanistan. Es ist erstaunlich, wie schnell ich mich an diesen Anblick „gewöhnt“ habe. Obwohl man sich niemals daran gewöhnen darf!

Ein Soldat, den ich behandle, berichtet über die verschiedenen Funktionsweisen von Minen. Einige seien beispielsweise so konzipiert, dass sie „nur“ den Unterschenkel desjenigen zerfetzen, der auf sie trete. Er solle überleben, aber mit dieser schweren Verletzung, eventuell mit einer Amputation, als abschreckendes und angsteinflößendes Beispiel gegenüber dem Feind wirken. Menschliche Perversion in grausamer Vollendung! In einem besonders gefährdeten Ort legt man uns nahe, die Fußpfade und sonstigen Wege nicht zu verlassen, da überall noch Minen vermutet werden. Der ununterbrochene Einsatz von zwei Minenentschärfungsfahrzeugen untermauert diese Gefahr.

Auch wenn unsere medizinische Hilfe zeitlich begrenzt und sporadisch ist, spüren wir doch immer wieder, dass die betroffenen Menschen diese Hilfe gerne annehmen und sie als Zeichen der Anteilnahme verstehen und merken, dass sie nicht vergessen worden sind. Unser angolanischer Dolmetscher fragt uns, wie lange es unserer Ansicht nach dauern werde, bis man in Angola wieder ein normales Leben führen könne. Darauf haben wir keine Antwort. Es dürfte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Wir spüren die Sehnsucht des Mannes nach Frieden, Normalität und der Möglichkeit, eine ganz normale berufliche Ausbildung absolvieren zu können. Vielleicht kann die Anteilnahme der europäischen Öffentlichkeit mit dazu beitragen, dass der Wunsch dieses jungen Angolaners früher in Erfüllung geht, als man befürchten muss.

Aber es gibt auch Hoffnung. Zum einen stelle ich im Gespräch mit einem Kollegen fest, dass ein Bericht über meinen Hilfseinsatz in Afghanistan im Deutschen Ärzteblatt ihn zu diesem Einsatz in Angola bewegt hat. Öffentlichkeitsarbeit kann sensibilisieren und Hilfe mobilisieren – das motiviert mich. Zum anderen erfahre ich von einer Kollegin, die nach mir in Afghanistan tätig war, dass eine im siebten Monat schwangere Patientin, die wir damals mit einer frischen Oberschenkelfraktur gegen den Widerstand des Iranischen Roten Halbmondes, aber mit Unterstützung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen in ein Krankenhaus eingewiesen hatten, dort operiert und versorgt worden war. Sie wurde im Anschluss an die stationäre Behandlung wieder ins Flüchtlingslager entlassen, in dem die ärztlichen Nachfolgeteams die Weiterbehandlung durchführten. Nur ein Einzelfall – aber ein individuelles Schicksal, das uns zeigt, dass eine gewisse Versorgungskontinuität trotz aller Mängel und widrigen Umstände vorhanden ist. Das sind schon mindestens zwei Tropfen auf den berühmten heißen Stein!


KRIEGSWURZELN

Eine Wurzel

der Macht des Krieges

ist der Glaube vieler Menschen,

dem Tod

von Freunden

einen Sinn zu geben,

ginge nur dadurch,

wieder zu töten.

Eine Wurzel

der Macht des Krieges

ist der Glaube vieler Menschen,

dass Intoleranz

eine Tugend ist.

Eine Wurzel

der Macht des Krieges

ist der Glaube vieler Menschen,

dass die Mächtigen wissen,

was sie tun.

Eine Wurzel

der Macht des Krieges

ist der Glaube vieler Menschen,

dass Leid, Not und Tod

nur die anderen trifft.

Eine Wurzel

der Macht des Krieges

ist der Glaube vieler Menschen,

dass Unterdrückung

Freiheit bringen kann.

Eine Wurzel

der Macht des Krieges

ist der Glaube vieler...

Erscheint lt. Verlag 24.9.2021
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arzt der Armen • Aufbruch • Auffanglager • Beschneidung • Camps • Eritrea • Hadil • Haftom • Krieg • Moria • Perspektive • Soziale Gerechtigkeit • Straßendoc • Syrien • Türkei • Umdenken • wachrütteln • Zukunft
ISBN-10 3-86334-841-9 / 3863348419
ISBN-13 978-3-86334-841-0 / 9783863348410
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