Herbststerben (eBook)
208 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-3453-7 (ISBN)
Markus Schulte wurde 1966 in Dortmund geboren. Er kennt und liebt das Ruhrgebiet mit seinen Menschen. Nach einem Studium der Geographie arbeitete er als Wissenschaftsjournalist, um dann später als Pressesprecher in den Öffentlichen Dienst zu wechseln. Heute lebt er in Dortmund und widmet sich als Buchautor und Journalist den Themen, die unsere Gesellschaft und unser Miteinander so spannend machen - denn was erzählt bessere Geschichten als das wahre Leben?
1
Sonntag
Als der Abspann auf dem Fernsehbildschirm das Ende der Talkshow besiegelte, war es soweit. Roland Albrink verschränkte geschafft von einem langen, zermürbenden Tag voller Rückblicke und Erinnerungen seine Arme vor der Brust und versank in seinem Sessel in tiefes Grübeln.
Violas Verhalten gab ihm Rätsel auf. Seine Frau redete kaum noch mit ihm, seit Tagen schon. Sie zog sich immer weiter zurück. Ihm kam es vor wie ein schleichender Prozess, ganz heimlich war eine schwer zu überwindende Distanz zwischen ihnen herangewachsen.
Auch das große Haus der Familie wirkte plötzlich seelenlos, natürlich auch weil die Kinder es mittlerweile für ihre Ausbildung verlassen hatten.
Was ist nur der Auslöser, fragte sich Albrink. Er konnte sich an nichts Einschneidendes erinnern, keinen Streit, keine Missverständnisse, wie sie in einer Ehe auch nach Jahren noch vorkommen.
Ob Viola wieder Probleme bei der Arbeit hatte? Leicht war es dort nicht für sie. Seit Jahren litt sie unter dem Mobbing einer Kollegin, gegen deren Umtriebe niemand in der Abteilung ein Rezept gefunden hatte. Aber wenn es mal wieder passierte, sprach sie das gewöhnlich zu Hause sofort an, heulte sich aus und beruhigte sich in den Armen ihres Mannes.
Oder lag es an ihm, dass sie sich zurückzog? Hatte er in den letzten Tagen etwas falsch gemacht?
Viel zu tun hatten sie im Polizeipräsidium zuletzt nicht gehabt, zumindest keine schweren Fälle. Eine Brandermittlung hatte die Leute in seiner Einheit, dem Kriminalkommissariat 11 im Bochumer Polizeipräsidium, für kurze Zeit voll eingebunden. Eine vermisst gemeldete junge Frau war am nächsten Tag von selbst wieder aufgetaucht. Manchmal hatte er das Büro schon früh am Nachmittag verlassen, um Überstunden abzubauen.
Früher hatte sich Viola gefreut, wenn sie an solchen Tagen mit wenig Büroarbeit zusammen mit einem Kaffee auf der sonnigen Terrasse saßen und die vielen verschiedenen Gartendüfte studierten. Oder sich im Winter vor dem großen Wohnzimmerfenster ausruhten, während Schneeflocken tänzelnd den Weg durch die kalte Luft zur gefrorenen Rasenkruste suchten. Sie redeten dann immer über alles Mögliche, vergaßen die Zeit, freuten sich über die Kinder, wie sie ihren Weg gingen, bewunderten den Garten, schmiedeten Pläne, wischten Sorgen beiseite und gingen Probleme an.
Früher. Aber heute war es den ganzen Tag über anders gewesen. Still und einsam saßen sie jetzt im dämmerigen Wohnzimmer. Die Luft zwischen ihnen wirkte immer noch schwer wie eine dicke Mauer aus Beton, die kaum ein Laut überwinden konnte.
Albrink löste die verschränkten Arme und stoppte den Abspann im Fernseher mit einem Druck auf die Fernbedienung. Viola regte sich immer noch nicht. Ihr Blick klebte weiter abwesend am dunklen Glas der erloschenen Mattscheibe.
Der sonntagabendliche Tatort war spannend gewesen, selbst für ihn als Kriminalist. Die Talkrunde danach weniger. Nun war es spät, und Albrink wollte früh schlafen gehen. Er hatte Bereitschaftsdienst und musste immer mit einem Einsatz rechnen.
Trotzdem gab er sich einen Ruck.
»Was ist los, Viola?«
Nichts, keine Bewegung, kein Blick, nur bedrückendes Schweigen.
Schau mich doch wenigstens an, protestierte Albrink innerlich und erinnerte sich für einen Moment an die vielen schönen Augenblicke, wenn Viola ihren Mann aus großen, dunklen und liebenden Augen anschaute. Doch heute flohen Violas Augen vor ihm, sie schauten jetzt auch nicht mehr auf den Bildschirm. Ihr Blick wanderte stattdessen langsam an dem Gerät vorbei durch das große Fenster in den dunklen Garten.
Geblendet vom gespiegelten Licht des Wohnzimmers sah sie bestimmt nicht, dass tagsüber viel Herbstlaub gefallen ist, war sich Albrink sicher. Er hatte sich am Nachmittag seinen blauen Blouson übergezogen und war bis zum Kragen eingepackt vor der bedrückenden Stimmung in den kalten Garten geflüchtet.
Trotzig hatte er ein paar große Haufen Laub zusammengeharkt und als Schutz vor dem kommenden Winterfrost auf die nackten Beete verteilt. Aber schon der nächste kräftige Windstoß pustete wenig später eine neue bunte Schicht gelber, roter, brauner und orangefarbener Blätter über den Rasen.
Albrink nahm es dem Wind nicht übel, denn er liebte den muffigen Geruch der verrottenden Blätter, den die Luftböen auf diese Weise in seine Nase wirbelten.
Aus dem Küchenfenster roch es derweil nach frischem Apfelkuchen. Viola backte und sie telefonierte dabei mit Thomas, während Albrink draußen ein letztes Mal im Jahr den feuchtglitschigen Rasen mähte.
Albrinks Sohn Thomas war früh am Morgen mit dem Zug nach Hamburg gefahren, wo er künftig Chemie studieren wollte. Vergangenes Wochenende war Albrink deshalb mit ihm in die Stadt an der Elbe gefahren, um beim Einrichten eines Zimmers in einer Wohngemeinschaft zu helfen. Sie hatten gut was geschafft und sogar gelacht, wenn beim Schrauben der vielen Regalbretter mal etwas schief ging.
Ganz anders, als es in den Jahren zuvor zwischen Vater und Sohn ausgesehen hatte. Albrink und seine Frau Viola hatten mit Thomas schwere Zeiten durchgemacht. Die Pubertät krempelte sein Gehirn komplett um. Der liebe, kleine Junge war plötzlich ein Revoluzzer geworden, von heute auf morgen.
Viola war von der Verwandlung geschockt gewesen, sie verstand nicht, was passierte. Und Albrink fühlte sich das erste Mal im Leben richtig machtlos. Der Vater war plötzlich der Hauptfeind im Leben seines Sohnes. Für Thomas war er auf einmal ein Spießer, weil er als Kriminalkommissar und leitender Beamter ein Vertreter des Staates war. Verächtlich ordnete er seinen Vater dem Establishment zu und ließ keinen Moment aus, ihm seine Verachtung dafür zu zeigen.
»Du hast mir nichts zu sagen«, giftete ihn das pubertierende, plötzlich ziemlich fremd wirkende Wesen in seinem Haus an. Der Junge, dem er die Windeln gewechselt, den er über zehn Jahre durch dick und dünn begleitet hatte, war von jetzt auf gleich Vergangenheit.
Irgendwann gab Albrink auf, als er verstand, dass sein aufwachsender Sohn einen Mann zum Reiben brauchte, egal ob dem Vater das lieb und recht war. Er ging in die Defensive, akzeptierte und schützte das Kind, wo er konnte, sprach mit Lehrern, Psychologen und Erziehungsberatern, beruhigte, erklärte, verhandelte, lief dabei aber oft vor Wände.
Doch Viola kämpfte einen anderen Kampf. Sie wollte erhalten, was nicht mehr war, und verlor dabei viel an Kraft, die ihr im sonstigen Leben fehlte.
Wie es dem Jungen wohl jetzt ging in Hamburg, überlegte Albrink am Nachmittag im Garten? Das erste Mal so weit weg von zu Hause?
»Gut geht es ihm«, sagte Viola, als er nach der Gartenarbeit in die Küche kam und fragte, was ihr Eindruck von Thomas am Telefon gewesen sei. Mehr gab sie nicht von sich. Dann ging sie ihm aus dem Weg. Der noch dampfende Kuchen blieb unberührt in der Küche stehen.
Nach einer langen Minute, die er mit Viola jetzt schweigend vor dem schwarz glänzenden Fernseher verbracht hatte, wollte Albrink erneut ansetzen, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Doch plötzlich drehte seine Frau langsam ihren Kopf zu ihm herüber. Und wie so oft lösten ihre haselnussbraunen Augen, die jetzt offenbar nach dem Ehemann suchten, diesen angenehmen Schauer auf seiner Haut aus.
Welche Chemie in ihm dieses Gefühl brodeln lässt, ist Albrink bis heute ein Rätsel. In der Zeitung hatte er mal von Untersuchungen gelesen, wonach Menschen mit dunklen Augen vertrauenswürdiger wirken als solche mit blauen. Das liege aber weniger an der Augenfarbe, stand da, als an der für braunäugige Menschen typischen Gesichtsstruktur.
Neugierig hatte er dann seine Frau studiert, denn in dem Artikel stand auch, dass Menschen mit braunen Augen meist einen breiten Mund, ein rundes Kinn und größere Augen hätten, was genetische Ursachen habe. Auf Viola traf das zu, stellte er erstaunt fest. Hatten die Forscher vielleicht recht, dass diese Merkmale Vertrauen vermitteln, kam es so zu dem Kribbeln auf seiner Haut?
Was auch immer die Wissenschaft behauptet, nicht vergessen hatte Albrink, wie der Zufall vor vielen Jahren die Wege der beiden auf der Cranger Kirmes in Herne kreuzte. Da war es das kräftige Goldbraun in Violas Pupillen, das an dem Abend wie ein Bernstein am Strand in den untergehenden Sonnenstrahlen aufblitzte, das vermutlich auch in die wenigen Sommersprossen auf ihrer Nase gewandert war und das Albrink im Vorbeigehen so heftig beeindruckte, dass er sich umdrehte, nach ihrem Arm fasste und den ganzen Abend nicht mehr losließ, bis sie ihn endlich küsste.
Doch das Vertrauen, das seitdem bis heute zwischen ihm und Viola wuchs und wuchs, hatte nichts mit ihrer Augenfarbe zu tun. Davon war er überzeugt.
Aus den Millisekunden des Verliebtseins, das Albrink jetzt beim Beobachten seiner Frau spürte, holten ihn Violas dunkle, buschige Augenbrauen zurück.
Sie hob sie nun wie zum Angriff, atmete tief ein und setzte zum Sprechen an.
»Roland, ich muss dir etwas sagen.«
Auf dem Wohnzimmertisch vibrierte plötzlich das Handy, es robbte sich langsam...
Erscheint lt. Verlag | 28.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-7534-3453-1 / 3753434531 |
ISBN-13 | 978-3-7534-3453-7 / 9783753434537 |
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