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Der erste Mensch (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00453-5 (ISBN)
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Gespiegelt in der Figur Jacques Cormery erzählt Camus von seiner Kindheit, die er mit seiner fast tauben, analphabetischen Mutter und einer dominanten Großmutter im Armenviertel Algiers verbringt. Auf der Suche nach einer Vaterfigur beginnt er, über die eigene Herkunft zu reflektieren. [Das handgeschriebene Manuskript wurde bei dem tödlichen Autounfall Camus' in seiner Mappe gefunden. Es erscheint hier, ohne dass an dem unkorrigierten Fragment Änderungen vorgenommen wurden.] «Inszeniert wie ein Roman, enthält ?Der erste Mensch? eine bewegende Autobiographie der algerischen Kindheit Albert Camus´: das intimste Selbstzeugnis, dass der diskrete und scheue Autor hinterlassen hat.» (Der Spiegel)

Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor.

Albert Camus wurde am 7. November 1913 als Sohn einer Spanierin und eines Elsässers in Mondovi, Algerien, geboren. Er studierte an der Universität Algier Philosophie, 1935 trat er der Kommunistischen Partei Algeriens bei und gründete im Jahr darauf das «Theater der Arbeit». 1937 brach er mit der KP. 1938 entstand sein erstes Drama, Caligula, das 1945 uraufgeführt wurde, 1947 sein Roman «Die Pest». Neben seinen Dramen begründeten der Roman Der Fremde und der Essay Der Mythos des Sisyphos sein literarisches Ansehen. 1957 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. Am 4. Januar 1960 starb er bei einem Autounfall. Das Gesamtwerk von Albert Camus liegt im Rowohlt Verlag vor. Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis.

Erster Teil Suche nach dem Vater


Fürsprecher: Wwe. Camus

Dir, die Du dieses Buch nie wirst lesen können[*]

Über dem Karren, der auf einer steinigen Straße entlangfuhr, zogen große, dichte Wolken in der Abenddämmerung gen Osten. Drei Tage zuvor hatten sie sich über dem Atlantik aufgebläht, hatten auf den Westwind gewartet, hatten sich dann in Bewegung gesetzt, zuerst langsam und immer schneller, waren über das herbstlich phosphoreszierende Wasser geradewegs auf den Kontinent zugeflogen und an den marokkanischen Gebirgskämmen zerfleddert[*], hatten sich über den Hochebenen Algeriens wieder zusammengeschart und versuchten jetzt, im Anflug auf die tunesische Grenze, das Tyrrhenische Meer zu erreichen, um sich dort aufzulösen. Nach einer Strecke von Tausenden von Kilometern über dieser vom bewegten Meer im Norden und von den erstarrten Sandwogen im Süden geschützten Art unermesslicher Insel, die sie über diesem namenlosen Land kaum schneller zurücklegten, als es jahrtausendelang die Reiche und Völker getan hatten, erlahmte ihr Schwung, und manche verflüssigten sich schon zu einzelnen dicken Regentropfen, die auf das Stoffdach über den vier Reisenden zu klopfen begannen.

Der Karren knirschte über die recht klar sich abzeichnende, aber kaum befestigte Straße. Hin und wieder schoss ein Funke unter der Eisenfelge oder unter dem Huf eines Pferdes hervor, und ein Feuerstein schlug gegen das Holz des Karrens oder bohrte sich im Gegenteil mit einem dumpfen Geräusch in die weiche Erde des Straßengrabens. Die beiden kleinen Pferde liefen indessen gleichmäßig, kaum einmal stolpernd, mit vorgewölbter Brust, um den schweren, mit Möbeln vollgeladenen Karren zu ziehen, und ließen mit ihrem unterschiedlichen Traben rastlos die Straße hinter sich. Das eine schnaubte mitunter laut und geriet aus dem Trab. Der Araber, der lenkte, ließ dann die abgewetzten[*] Zügel flach auf seinen Rücken klatschen, und das Tier fiel brav in seinen Rhythmus zurück.

Der Mann, der auf der vorderen Bank neben dem Lenker saß, ein Franzose über dreißig, sah mit verschlossenem Gesicht auf die beiden Kruppen, die sich unter ihm auf und ab bewegten. Mittelgroß, stämmig, mit länglichem Gesicht und hoher, breiter Stirn, einem energischen Kiefer und hellen Augen, trug er trotz der vorgerückten Jahreszeit eine Drillichjacke mit drei Knöpfen, die nach der Mode der damaligen Zeit am Kragen zugeknöpft war, und auf dem kurzgeschnittenen Haar eine leichte Schirmmütze[*] [*]. Sobald der Regen auf das Verdeck über ihnen zu trommeln begann, drehte er sich ins Wageninnere um: «Geht’s dir gut?», rief er. Auf einer zwischen die erste Bank und einen Haufen alter Koffer und Möbel eingezwängten zweiten Bank lächelte eine unzureichend gekleidete, aber in einen großen Schal aus grober Wolle gehüllte Frau ihn schwach an. «Ja, ja», sagte sie mit einer leichten, entschuldigenden Geste. Ein vierjähriger kleiner Junge schlief an sie gelehnt. Sie hatte ein sanftes, ebenmäßiges Gesicht, das schön gewellte schwarze Haar der Spanierin, eine gerade kleine Nase, schöne, warmherzige braune Augen. Aber etwas in diesem Gesicht fiel auf. Es war nicht nur das Maskenhafte, das die Müdigkeit oder Ähnliches vorübergehend ihren Zügen aufprägte, nein, eher ein Ausdruck von Abwesenheit und lieblicher Zerstreutheit, wie manche Naive ihn ständig zeigen, der sich hier aber flüchtig über die Schönheit der Gesichtszüge legte. In die so auffällige Güte des Blicks mischte sich bisweilen auch ein Funke unsinniger Furcht, der sogleich wieder erlosch. Mit der flachen, schon von der Arbeit ruinierten und an den Gelenken knotigen Hand klopfte sie leicht auf den Rücken ihres Mannes: «Es geht, es geht», sagte sie. Und sofort hörte sie auf zu lächeln, um unter dem Verdeck auf die Straße zu blicken, wo schon Pfützen zu schimmern begannen.

Der Mann drehte sich wieder zu dem Araber um, der still unter seinem Turban mit gelben Schnürchen saß, wie aufgeplustert von derben, über den Waden zusammengebundenen Hosen mit breitem Hosenboden. «Ist es noch weit?» Der Araber lächelte unter seinem gewaltigen weißen Schnurrbart. «Acht Kilometer, und du bist da.» Der Mann drehte sich um, sah seine Frau ohne Lächeln, aber aufmerksam an. Sie hatte den Blick nicht von der Straße gewandt. «Gib mir die Zügel», sagte der Mann. – «Meinetwegen», sagte der Araber. Er reichte ihm die Zügel, der Mann stieg über den alten Araber hinweg, während der unter ihm auf den Platz rutschte, den er eben verlassen hatte. Mit zwei Schlägen der flachen Zügel übernahm der Mann die Pferde, die ihren Trab verschärften und plötzlich gerader zogen. «Du kennst Pferde», sagte der Araber. Die Antwort kam knapp und ohne dass der Mann lächelte: «Ja», sagte er.

Die Helligkeit hatte abgenommen, und auf einmal wurde es Nacht. Der Araber holte die links von ihm hängende Laterne aus ihrer Schließklappe und verbrauchte, dem Wageninnern zugedreht, mehrere dicke Streichhölzer, um ihre Kerze anzuzünden. Dann hängte er die Laterne wieder auf. Der Regen fiel jetzt sanft und stetig. Er glänzte im schwachen Licht der Lampe und erfüllte die vollständige Finsternis ringsum mit einem leisen Rauschen. Hin und wieder rollte der Karren an Dornbüschen, an sekundenlang schwach beleuchteten niedrigen Bäumen vorbei. Die übrige Zeit aber fuhr er in einem durch die Dunkelheit noch ausgedehnter wirkenden leeren Raum. Nur Gerüche von verbranntem Gras oder, plötzlich, ein starker Geruch nach Dünger erinnerten daran, dass man mitunter an bebauten Feldern entlangfuhr. Die Frau sagte etwas hinter dem Lenkenden, der seine Pferde ein wenig zügelte und sich nach hinten beugte. «Da ist niemand», wiederholte die Frau. – «Hast du Angst?» – «Wie?» Der Mann wiederholte seinen Satz, diesmal aber schreiend. «Nein, nein, nicht, wenn du da bist.» Aber sie wirkte unruhig. «Du hast Schmerzen», sagte der Mann. – «Ein bisschen.» Er trieb seine Pferde an, und wieder hallte nur der laute Lärm der Räder, die die Furchen durchquerten, und der acht Hufeisen, die auf die Straße schlugen, durch die Nacht.

Es war eine Nacht im Herbst 1913. Die Reisenden waren zwei Stunden zuvor vom Bahnhof von Bône abgefahren, wo sie nach einer Nacht und einem Tag Fahrt auf den harten Bänken der dritten Klasse von Algier angekommen waren. Sie hatten am Bahnhof den Wagen und den Araber vorgefunden, der sie erwartete, um sie zu dem Gut in der Nähe eines kleinen Dorfes etwa zwanzig Kilometer landeinwärts zu bringen, dessen Verwaltung der Mann übernehmen sollte. Es hatte gedauert, die Koffer und ein paar Sachen aufzuladen, und dann hatte die schlechte Straße sie noch weiter aufgehalten. Als bemerke er die Unruhe seines Mitreisenden, sagte der Araber: «Keine Angst. Hier gibt es keine Banditen.» – «Die gibt es überall», sagte der Mann. «Aber ich habe das Nötige dabei.» Und er klopfte auf seine schmale Tasche. «Du hast recht», sagte der Araber. « ’s gibt immer Verrückte.» In dem Augenblick rief die Frau ihren Mann. «Henri», sagte sie, «es tut weh.» Der Mann fluchte und spornte seine Pferde noch etwas mehr an.[*] «Wir sind gleich da», sagte er. Nach einer Weile sah er wieder nach seiner Frau. «Tut es noch weh?» Sie lächelte ihn mit einer seltsamen Zerstreutheit an, jedoch ohne dass sie zu leiden schien. «Ja, sehr.» Er sah sie mit dem gleichen Ernst an. Und sie entschuldigte sich wieder. «Es ist nicht schlimm. Das kommt vielleicht von der Zugfahrt.» – «Sieh mal», sagte der Araber, «das Dorf.» Tatsächlich konnte man links von der Straße, etwas weiter weg die im Regen verschwommenen Lichter von Solférino sehen. «Aber du nimmst die Straße rechts», sagte der Araber. Der Mann zögerte, drehte sich zu seiner Frau um. «Fahren wir zum Haus oder ins Dorf?», fragte er. – «Oh, zum Haus, das ist besser.» Ein Stück weiter schwenkte der Wagen nach rechts in Richtung des unbekannten Hauses, das sie erwartete. «Noch einen Kilometer», sagte der Araber. «Wir sind gleich da», sagte der Mann zu seiner Frau hin. Sie saß zusammengekrümmt, das Gesicht in den Armen. «Lucie», sagte der Mann. Sie regte sich nicht. Der Mann berührte sie mit der Hand. Sie weinte lautlos: Er schrie, wobei er die Silben einzeln aussprach und seine Worte mit Gebärden begleitete: «Du legst dich gleich hin. Ich hole den Doktor.» – «Ja. Hol den Doktor. Ich glaube, es ist soweit.» Der Araber sah sie erstaunt an. «Sie bekommt was Kleines», sagte der Mann. «Gibt es im Dorf einen Doktor?» – «Ja. Ich hole ihn, wenn du willst.» – «Nein, du bleibst im Haus. Du passt auf. Ich bin schneller. Hat er einen Wagen oder ein Pferd?» – «Einen Wagen.» Dann sagte der Araber zu der Frau: «Es wird ein Junge. Möge er schön sein.» Die Frau lächelte ihn an, ohne dass sie zu verstehen schien. «Sie hört nicht», sagte der Mann. «Im Haus schreist du laut und machst die entsprechenden Gesten.»

Der Wagen fuhr plötzlich fast geräuschlos. Die schmaler gewordene Straße hatte eine Tuffdecke. Sie führte an ziegelgedeckten kleinen Schuppen vorbei, hinter denen man die ersten Reihen der Weinfelder sah. Ein starker Geruch nach Traubenmost schlug ihnen entgegen. Sie ließen große Gebäude mit aufgestockten Dächern hinter sich, und die Räder knirschten auf dem Schlackebelag einer Art von baumlosem Hof. Der Araber nahm wortlos die Zügel und zog sie an. Die Pferde blieben stehen, und das eine schüttelte sich.[*] Der Araber zeigte auf ein weißgekalktes...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2021
Übersetzer Uli Aumüller
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Algerien • Aufwachsen in Armut • Autobiographie • Der Mythos von Sisyphos • Die Pest • Erinnerungen • Existentialismus • Familiengeschichte • Französische Literatur • Identität • Identitätssuche • Kindheit • Kindheitserinnerungen • Klassiker • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Nobelpreis für Literatur • Nobelpreis Literatur • Philosophie • posthum • Selbstzeugnis
ISBN-10 3-644-00453-6 / 3644004536
ISBN-13 978-3-644-00453-5 / 9783644004535
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