Minotaurus / Der Auftrag / Midas (eBook)

Eine Ballade / oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter, Novelle in 24 Sätzen / oder Die schwarze Leinwand
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2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61213-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Minotaurus / Der Auftrag / Midas -  Friedrich Dürrenmatt
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Eine Ballade über das mythologische Ungeheuer, den Minotaurus, eine Novelle, die gleichzeitig ein supermodernes Gruselmärchen und eine Kriminalgeschichte ist, Der Auftrag, und ein Film zum Lesen, in dem eine denkbar einfache Geschichte mit so viel hintergründiger Bosheit erzählt wird, daß einem nach fünf Minuten der Kopf raucht: Midas.

Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ?Der Richter und sein Henker?, ?Der Verdacht?, ?Die Panne? und ?Das Versprechen?, weltberühmt mit den Komödien ?Der Besuch der alten Dame? und ?Die Physiker?. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ?Stoffen?, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.

Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ›Der Richter und sein Henker‹, ›Der Verdacht‹, ›Die Panne‹ und ›Das Versprechen‹, weltberühmt mit den Komödien ›Der Besuch der alten Dame‹ und ›Die Physiker‹. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ›Stoffen‹, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.

Eine Ballade
[1984/85]

Für Charlotte

Das Wesen, das die Tochter des Sonnengottes,

Pasiphae, geboren hatte, nachdem sie auf ihren

Wunsch hin eingeschlossen in eine künstliche Kuh

von einem dem Poseidon geweihten weißen Stier

bestiegen worden war, fand sich, von den

Knechten des Minos hineingeschleppt, die lange

Ketten bildeten, um sich nicht zu verlieren, nach

langen Jahren eines wirren Schlafs, währenddessen

es in einem Stall zwischen Kühen heranwuchs,

auf dem Boden des Labyrinths vor, das von

Daidalos erbaut worden war, um die Menschen

vor dem Wesen und das Wesen vor den

Menschen zu schützen, einer Anlage, aus der

keiner, der sie betreten hatte, wieder herausfand

und deren unzählige in sich verschachtelte Wände

aus Glas waren, so daß das Wesen nicht nur seinem

Spiegelbild gegenüberkauerte, sondern auch

den Spiegelbildern seiner Spiegelbilder: Es sah

unermeßlich viele Wesen, wie es eines war, vor sich,

und wie es sich herumdrehte, um sie nicht

mehr zu sehen, unermeßlich viele ihm gleiche

Wesen wiederum vor sich. Es befand sich in

einer Welt voll kauernder Wesen, ohne zu wissen,

daß es selber das Wesen war. Es war wie gelähmt.

Es wußte nicht, wo es war, noch was die kauernden

Wesen rundherum wollten, vielleicht träumte

es nur, auch wenn es nicht wußte, was Traum war

und was Wirklichkeit. Es sprang auf, instinktiv,

um die kauernden Wesen zu vertreiben, gleich-

zeitig sprangen seine Spiegelbilder auf. Es duckte

sich, und mit ihm duckten sich seine Spiegelbilder.

Sie ließen sich nicht vertreiben. Es starrte auf

das Spiegelbild, das ihm am nächsten schien, kroch

langsam zurück, und auch sein Spiegelbild

wich vor ihm weg, sein rechter Fuß stieß an

eine Wand, es warf sich herum und fand sich Kopf

an Kopf mit seinem Spiegelbild, kroch vorsichtig

zurück, sein Spiegelbild kroch zurück. Unwill-

kürlich betastete es seinen Kopf, und wie es ihn

betastete, betasteten auch seine Spiegelbilder

ihren Kopf. Es erhob sich, und mit ihm erhoben

sich auch seine Spiegelbilder. Es sah seinen Leib

hinunter und verglich ihn mit dem Leib seiner

Spiegelbilder, und seine Spiegelbilder sahen

ihren Leib hinunter und verglichen ihn mit ihrem

Leib, und indem es sich und seine Spiegelbilder

betrachtete, erkannte es, daß es wie seine Spiegel-

bilder beschaffen war: Es glaubte, ein Wesen unter

vielen gleichen Wesen zu sein. Sein Gesicht wurde

freundlicher, die Gesichter seiner Spiegelbilder

wurden freundlicher. Es winkte ihnen zu,

sie winkten zurück, es winkte mit der rechten, sie

winkten mit der linken Hand, aber es wußte

weder was rechts noch was links war. Es reckte

sich, streckte die Arme aus, brüllte, mit ihm

reckte sich, streckte die Arme aus und brüllte eine

Unzahl gleicher Wesen, tausendfach scholl sein

Echo zurück, schien endlos zu brüllen. Ein

Glücksgefühl überkam es. Es näherte sich der

nächsten Wand aus Glas, ein Spiegelbild näherte

sich ihm ebenfalls, während gleichzeitig sich andere

Spiegelbilder entfernten. Es berührte sein

Spiegelbild mit der Rechten, berührte die Linke

seines Spiegelbilds, die sich glatt und kalt anfühlte,

vor ihm berührten sich in Spiegelbildern von

Spiegelbildern die anderen Spiegelbilder. Es lief,

den glatten Spiegel berührend, die Wand entlang,

seine rechte Hand die linke seines Spiegelbilds

deckend, mit ihm lief sein Spiegelbild, und wie es

nun die Rückseite der Spiegelwand zurücklief,

lief sein Spiegelbild auch zurück. Es wurde

übermütiger, sprang herum, überschlug sich, und

mit ihm sprang und überschlug sich eine Unermeß-

lichkeit von Spiegelbildern. Aus dem Herumrennen

und dem Sich-Überschlagen, aus den Sprüngen

und dem Auf-den-Händen-Gehen – so groß

wurde sein Übermut, weil die Spiegelbilder ja

gleichzeitig dasselbe taten wie es, so daß es sich

wie ein Anführer vorkam, mehr noch, wie ein Gott,

wenn es gewußt hätte, was ein Gott ist –,

aus dieser kindlichen Freude wurde allmählich ein

rhythmischer Tanz des Wesens mit seinen

Spiegelbildern, die teils spiegelverkehrt, teils als

Spiegelbilder von Spiegelbildern mit dem Wesen

identisch und wiederum als Spiegelbilder von

Spiegelbildern von Spiegelbildern spiegelverkehrt

waren, bis sie sich im Unendlichen verloren.

Das Wesen tanzte durch sein Labyrinth, durch die

Welt seiner Spiegelbilder, es tanzte wie ein mon-

ströses Kind, es tanzte wie ein monströser Vater

seiner selbst, es tanzte wie ein monströser Gott durch

das Weltall seiner Spiegelbilder. Doch plötzlich

hielt es in seinem Tanz inne, stand starr, kauerte sich

nieder, starrte mit aufmerksamen Augen, und mit

ihm kauerten und äugten seine Spiegelbilder:

Tanzend hatte das Wesen zwischen den tanzenden

Spiegelbildern Wesen gesehen, die nicht tanzten

und die keine Spiegelbilder waren, die ihm

gehorchten. Das Mädchen, wie das kauernde Wesen

widergespiegelt, stand unbeweglich, nackt,

mit langen schwarzen Haaren zwischen den

kauernden Wesen, die überall waren, vor ihm,

neben ihm, hinter ihm, so wie es auch überall war,

vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Das Mädchen

wagte sich nicht zu rühren, den angstvollen

Blick auf das Wesen geheftet, das vor ihm kauerte

und ihm am nächsten war. Es wußte, daß es nur

ein kauerndes Wesen gab, daß die anderen kauernden

Wesen Spiegelbilder waren, aber es wußte nicht,

wer das Wesen und nicht sein Spiegelbild war.

Vielleicht war es das Wesen, das vor ihm kauerte,

vielleicht sein Spiegelbild, vielleicht ein

Spiegelbild seines Spiegelbilds, das Mädchen

wußte es nicht. Es wußte nur, daß seine Flucht

vor ihm es zu ihm geführt hatte, und neben dem

kauernden Wesen sah es sich selber gespiegelt,

und weiter vor ihm sah es sich selber von hinten

und neben sich ein kauerndes Wesen von hinten,

und so fort durch endlose Räume. Die Hände

über die Brüste gekreuzt, sah es gebannt auf das

immer noch vor ihm kauernde Wesen. Es glaubte,

es berühren zu können. Es glaubte, seinen Atem

zu spüren. Es glaubte, sein Schnauben zu hören.

Sein gewaltiger, mit einem fahlen lichtbraunen Pelz

bedeckter Kopf war der eines Auerochsen,

die Stirn hoch, breit und von verfilzten Wollhaaren

überwuchert, die Hörner kurz und so gebogen,

daß die Spitzen über der Wurzel standen,

die rötlichen Augen schienen eher klein im

Verhältnis zum Schädel, und die Umrandung,

in der sie lagen, war erhöht, die Augen waren

unergründlich. Der sanft geneigte massige Nasen-

rücken führte zu schiefgestellten Nüstern, aus dem

Maul hing eine lange bläulichrote Zunge und

unter dem Kinn ein zopfiger geiferverklebter Bart.

Dies alles wäre zu ertragen gewesen, aber das

Unerträgliche war der Übergang dieses Bullen

zum Menschen. Über dem Auerochsenschädel

wölbte sich ein Gebirge von struppigem und dann

wieder abgeschabtem Fell, aus dessen Grannen

und Strähnen zwei Menschenarme wuchsen,

die sich auf den gläsernen Boden stützten. Es war,

als ob der ungeheure Kopf und der Buckel über

ihm aus dem Leib eines Mannes gewuchert wären,

der sprungbereit vor dem Mädchen kauerte und

dann wieder neben und hinter ihm. Der Mino-

taurus erhob sich. Er war gewaltig. Er begriff

plötzlich, daß es noch etwas anderes als Minotauren

gab. Seine Welt hatte sich verdoppelt. Er sah die

überall widergespiegelten Augen, den Mund,

die langen schwarzen Haare, die über die Schultern

flossen, er sah die weiße Haut, den Hals, die Brüste,

den Bauch, den Schoß, die Schenkel, wie das

alles ineinanderging, ineinanderfloß. Er bewegte

sich zu ihm hin. Es entfernte sich von ihm, während

es sich anderswo auf ihn zu bewegte. Er jagte

ihm durch das Labyrinth nach, es flüchtete. Es war,

als ob ein Sturmwind Minotauren und Mädchen

durcheinandergeblasen hätte, so wirbelten sie

auseinander, durcheinander und einander...

Erscheint lt. Verlag 26.5.2021
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Ballade • Dürrenmatt • Fabelwesen • Imperium • Industrieller • Kino • Klassiker • Krimi • Literatur • Monster • Mord • Mythologie • Novelle • Schweiz • Ungeheuer
ISBN-10 3-257-61213-3 / 3257612133
ISBN-13 978-3-257-61213-4 / 9783257612134
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