Minotaurus / Der Auftrag / Midas (eBook)
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61213-4 (ISBN)
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ?Der Richter und sein Henker?, ?Der Verdacht?, ?Die Panne? und ?Das Versprechen?, weltberühmt mit den Komödien ?Der Besuch der alten Dame? und ?Die Physiker?. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ?Stoffen?, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ›Der Richter und sein Henker‹, ›Der Verdacht‹, ›Die Panne‹ und ›Das Versprechen‹, weltberühmt mit den Komödien ›Der Besuch der alten Dame‹ und ›Die Physiker‹. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ›Stoffen‹, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.
Eine Ballade
[1984/85]
Für Charlotte
Das Wesen, das die Tochter des Sonnengottes,
Pasiphae, geboren hatte, nachdem sie auf ihren
Wunsch hin eingeschlossen in eine künstliche Kuh
von einem dem Poseidon geweihten weißen Stier
bestiegen worden war, fand sich, von den
Knechten des Minos hineingeschleppt, die lange
Ketten bildeten, um sich nicht zu verlieren, nach
langen Jahren eines wirren Schlafs, währenddessen
es in einem Stall zwischen Kühen heranwuchs,
auf dem Boden des Labyrinths vor, das von
Daidalos erbaut worden war, um die Menschen
vor dem Wesen und das Wesen vor den
Menschen zu schützen, einer Anlage, aus der
keiner, der sie betreten hatte, wieder herausfand
und deren unzählige in sich verschachtelte Wände
aus Glas waren, so daß das Wesen nicht nur seinem
Spiegelbild gegenüberkauerte, sondern auch
den Spiegelbildern seiner Spiegelbilder: Es sah
unermeßlich viele Wesen, wie es eines war, vor sich,
und wie es sich herumdrehte, um sie nicht
mehr zu sehen, unermeßlich viele ihm gleiche
Wesen wiederum vor sich. Es befand sich in
einer Welt voll kauernder Wesen, ohne zu wissen,
daß es selber das Wesen war. Es war wie gelähmt.
Es wußte nicht, wo es war, noch was die kauernden
Wesen rundherum wollten, vielleicht träumte
es nur, auch wenn es nicht wußte, was Traum war
und was Wirklichkeit. Es sprang auf, instinktiv,
um die kauernden Wesen zu vertreiben, gleich-
zeitig sprangen seine Spiegelbilder auf. Es duckte
sich, und mit ihm duckten sich seine Spiegelbilder.
Sie ließen sich nicht vertreiben. Es starrte auf
das Spiegelbild, das ihm am nächsten schien, kroch
langsam zurück, und auch sein Spiegelbild
wich vor ihm weg, sein rechter Fuß stieß an
eine Wand, es warf sich herum und fand sich Kopf
an Kopf mit seinem Spiegelbild, kroch vorsichtig
zurück, sein Spiegelbild kroch zurück. Unwill-
kürlich betastete es seinen Kopf, und wie es ihn
betastete, betasteten auch seine Spiegelbilder
ihren Kopf. Es erhob sich, und mit ihm erhoben
sich auch seine Spiegelbilder. Es sah seinen Leib
hinunter und verglich ihn mit dem Leib seiner
Spiegelbilder, und seine Spiegelbilder sahen
ihren Leib hinunter und verglichen ihn mit ihrem
Leib, und indem es sich und seine Spiegelbilder
betrachtete, erkannte es, daß es wie seine Spiegel-
bilder beschaffen war: Es glaubte, ein Wesen unter
vielen gleichen Wesen zu sein. Sein Gesicht wurde
freundlicher, die Gesichter seiner Spiegelbilder
wurden freundlicher. Es winkte ihnen zu,
sie winkten zurück, es winkte mit der rechten, sie
winkten mit der linken Hand, aber es wußte
weder was rechts noch was links war. Es reckte
sich, streckte die Arme aus, brüllte, mit ihm
reckte sich, streckte die Arme aus und brüllte eine
Unzahl gleicher Wesen, tausendfach scholl sein
Echo zurück, schien endlos zu brüllen. Ein
Glücksgefühl überkam es. Es näherte sich der
nächsten Wand aus Glas, ein Spiegelbild näherte
sich ihm ebenfalls, während gleichzeitig sich andere
Spiegelbilder entfernten. Es berührte sein
Spiegelbild mit der Rechten, berührte die Linke
seines Spiegelbilds, die sich glatt und kalt anfühlte,
vor ihm berührten sich in Spiegelbildern von
Spiegelbildern die anderen Spiegelbilder. Es lief,
den glatten Spiegel berührend, die Wand entlang,
seine rechte Hand die linke seines Spiegelbilds
deckend, mit ihm lief sein Spiegelbild, und wie es
nun die Rückseite der Spiegelwand zurücklief,
lief sein Spiegelbild auch zurück. Es wurde
übermütiger, sprang herum, überschlug sich, und
mit ihm sprang und überschlug sich eine Unermeß-
lichkeit von Spiegelbildern. Aus dem Herumrennen
und dem Sich-Überschlagen, aus den Sprüngen
und dem Auf-den-Händen-Gehen – so groß
wurde sein Übermut, weil die Spiegelbilder ja
gleichzeitig dasselbe taten wie es, so daß es sich
wie ein Anführer vorkam, mehr noch, wie ein Gott,
wenn es gewußt hätte, was ein Gott ist –,
aus dieser kindlichen Freude wurde allmählich ein
rhythmischer Tanz des Wesens mit seinen
Spiegelbildern, die teils spiegelverkehrt, teils als
Spiegelbilder von Spiegelbildern mit dem Wesen
identisch und wiederum als Spiegelbilder von
Spiegelbildern von Spiegelbildern spiegelverkehrt
waren, bis sie sich im Unendlichen verloren.
Das Wesen tanzte durch sein Labyrinth, durch die
Welt seiner Spiegelbilder, es tanzte wie ein mon-
ströses Kind, es tanzte wie ein monströser Vater
seiner selbst, es tanzte wie ein monströser Gott durch
das Weltall seiner Spiegelbilder. Doch plötzlich
hielt es in seinem Tanz inne, stand starr, kauerte sich
nieder, starrte mit aufmerksamen Augen, und mit
ihm kauerten und äugten seine Spiegelbilder:
Tanzend hatte das Wesen zwischen den tanzenden
Spiegelbildern Wesen gesehen, die nicht tanzten
und die keine Spiegelbilder waren, die ihm
gehorchten. Das Mädchen, wie das kauernde Wesen
widergespiegelt, stand unbeweglich, nackt,
mit langen schwarzen Haaren zwischen den
kauernden Wesen, die überall waren, vor ihm,
neben ihm, hinter ihm, so wie es auch überall war,
vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Das Mädchen
wagte sich nicht zu rühren, den angstvollen
Blick auf das Wesen geheftet, das vor ihm kauerte
und ihm am nächsten war. Es wußte, daß es nur
ein kauerndes Wesen gab, daß die anderen kauernden
Wesen Spiegelbilder waren, aber es wußte nicht,
wer das Wesen und nicht sein Spiegelbild war.
Vielleicht war es das Wesen, das vor ihm kauerte,
vielleicht sein Spiegelbild, vielleicht ein
Spiegelbild seines Spiegelbilds, das Mädchen
wußte es nicht. Es wußte nur, daß seine Flucht
vor ihm es zu ihm geführt hatte, und neben dem
kauernden Wesen sah es sich selber gespiegelt,
und weiter vor ihm sah es sich selber von hinten
und neben sich ein kauerndes Wesen von hinten,
und so fort durch endlose Räume. Die Hände
über die Brüste gekreuzt, sah es gebannt auf das
immer noch vor ihm kauernde Wesen. Es glaubte,
es berühren zu können. Es glaubte, seinen Atem
zu spüren. Es glaubte, sein Schnauben zu hören.
Sein gewaltiger, mit einem fahlen lichtbraunen Pelz
bedeckter Kopf war der eines Auerochsen,
die Stirn hoch, breit und von verfilzten Wollhaaren
überwuchert, die Hörner kurz und so gebogen,
daß die Spitzen über der Wurzel standen,
die rötlichen Augen schienen eher klein im
Verhältnis zum Schädel, und die Umrandung,
in der sie lagen, war erhöht, die Augen waren
unergründlich. Der sanft geneigte massige Nasen-
rücken führte zu schiefgestellten Nüstern, aus dem
Maul hing eine lange bläulichrote Zunge und
unter dem Kinn ein zopfiger geiferverklebter Bart.
Dies alles wäre zu ertragen gewesen, aber das
Unerträgliche war der Übergang dieses Bullen
zum Menschen. Über dem Auerochsenschädel
wölbte sich ein Gebirge von struppigem und dann
wieder abgeschabtem Fell, aus dessen Grannen
und Strähnen zwei Menschenarme wuchsen,
die sich auf den gläsernen Boden stützten. Es war,
als ob der ungeheure Kopf und der Buckel über
ihm aus dem Leib eines Mannes gewuchert wären,
der sprungbereit vor dem Mädchen kauerte und
dann wieder neben und hinter ihm. Der Mino-
taurus erhob sich. Er war gewaltig. Er begriff
plötzlich, daß es noch etwas anderes als Minotauren
gab. Seine Welt hatte sich verdoppelt. Er sah die
überall widergespiegelten Augen, den Mund,
die langen schwarzen Haare, die über die Schultern
flossen, er sah die weiße Haut, den Hals, die Brüste,
den Bauch, den Schoß, die Schenkel, wie das
alles ineinanderging, ineinanderfloß. Er bewegte
sich zu ihm hin. Es entfernte sich von ihm, während
es sich anderswo auf ihn zu bewegte. Er jagte
ihm durch das Labyrinth nach, es flüchtete. Es war,
als ob ein Sturmwind Minotauren und Mädchen
durcheinandergeblasen hätte, so wirbelten sie
auseinander, durcheinander und einander...
Erscheint lt. Verlag | 26.5.2021 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Ballade • Dürrenmatt • Fabelwesen • Imperium • Industrieller • Kino • Klassiker • Krimi • Literatur • Monster • Mord • Mythologie • Novelle • Schweiz • Ungeheuer |
ISBN-10 | 3-257-61213-3 / 3257612133 |
ISBN-13 | 978-3-257-61213-4 / 9783257612134 |
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