Kristof Magnusson über Pet Shop Boys, queere Vorbilder und musikalischen Mainstream (eBook)

queere Vorbilder und musikalischen Mainstream
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30327-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kristof Magnusson über Pet Shop Boys, queere Vorbilder und musikalischen Mainstream -  Kristof Magnusson
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Go West! Ein autobiografischer Blick auf eine Band, die mühelos und widerspruchsfrei ganz unterschiedliche Gruppen von Fans miteinander vereint: von Intellektuellen, die sie als ambitionierte Konzeptkünstler bewundern, über Familien bis hin zur schwulen Partyszene. Kristof Magnusson nahm zum ersten Mal Popmusik im späten Grundschulalter wahr - und da waren die Pet Shop Boys für ihn der Inbegriff der Popmusik schlechthin. Später prägten sie seine musikalische Sozialisation in den Teenagerjahren und begleiteten seine Anfänge als Autor während der Studienzeit. Die Rolle der Pet Shop Boys als queere Identifikationsfiguren hat sich zwar im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verändert, doch immer wieder war Magnusson beeindruckt davon, wie es der Band gelang, eingängige Charthits zu produzieren und dabei gleichzeitig clever und subversiv zu bleiben. So schließt sich ein Kreis, wenn Magnusson seinen Helden unvermittelt in der Berliner Eckkneipe »Oase« begegnet.

Kristof Magnusson, 1976 in Hamburg als Sohn deutsch-isländischer Eltern geboren. Ausbildung zum Kirchenmusiker, Zivildienst mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. in New York City in der Sozialarbeit mit Holocaustüberlebenden und Obdachlosen. Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und der Universität Reykjavík. Schreibt Bücher und Theaterstücke, wie zum Beispiel die Komödie »Männerhort« und den Roman »Das war ich nicht«. Übersetzt aus dem Isländischen. Engagiert sich für Literatur in Einfacher Sprache, unterrichtet gelegentlich an Unis und kuratiert Literaturveranstaltungen. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Ein Mann der Kunst«, im Verlag Antje Kunstmann 2020.

Kristof Magnusson, 1976 in Hamburg als Sohn deutsch-isländischer Eltern geboren. Ausbildung zum Kirchenmusiker, Zivildienst mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. in New York City in der Sozialarbeit mit Holocaustüberlebenden und Obdachlosen. Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und der Universität Reykjavík. Schreibt Bücher und Theaterstücke, wie zum Beispiel die Komödie »Männerhort« und den Roman »Das war ich nicht«. Übersetzt aus dem Isländischen. Engagiert sich für Literatur in Einfacher Sprache, unterrichtet gelegentlich an Unis und kuratiert Literaturveranstaltungen. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Ein Mann der Kunst«, im Verlag Antje Kunstmann 2020.

Inhaltsverzeichnis

New York, Leipzig, Reykjavík


Die Pet Shop Boys haben mich seit der Kindheit in allen Lebenslagen begleitet. Wann immer es Veränderungen, Umbrüche und Zäsuren in meinem Leben gab, konnte ich sicher sein, dass es dazu den passenden Pet-Shop-Boys-Song geben würde, wie einen Soundtrack zu meinem Leben. Ganz besonders traf das auf die Zeit zwischen 1996 und 2004 zu. Damals wechselte ich nicht nur mehrfach den Wohnort – von Hamburg nach New York, zurück nach Hamburg, dann nach Leipzig, nach Berlin, nach Reykjavík und wieder nach Berlin – auch mein Beziehungsleben unterlag einem gewissen Wandel.

 

»And all I wanted to say was that I love you, but you’re telling me now you don’t believe it’s true. You got a different, a different, a different point of view.«

Bis zum Sommer 1996 hatten mich die Pet Shop Boys in meinem Hamburger Vorortleben begleitet. Sie hatten mir eine erste Vorstellung davon vermittelt, was Pop sein konnte, was Konzeptkunst sein konnte. Was queer bedeuten konnte. Doch diese Phase meines Lebens ging zu Ende. Nach dem Abitur beendete ich noch meine bereits begonnene Kirchenmusiker-Ausbildung, dann musste ich Zivildienst machen. Im September 1996 packte ich meine Koffer und wechselte meinen Wohnort von Hamburg-Schnelsen in die USA – nach New York City, um dort einen Freiwilligendienst bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zu machen, der als Zivildienst anerkannt war. Mein Einsatzort war eine jüdische Organisation namens DOROT auf der Upper West Side in Manhattan: Die eine Hälfte der Woche arbeitete ich in einem kleinen Shelter für Obdachlose, die andere Hälfte besuchte ich Überlebende des Holocaust, leistete ihnen Gesellschaft, kaufte für sie ein, ging mit ihnen zum Arzt, lieferte koscheres Essen, »meals on heels (sic!)«.

Die erste CD, die ich mir auf dem Broadway bei Nobody Beats the Wiz kaufte, war das gerade herausgekommene Album Bilingual von den Pet Shop Boys, das zum Soundtrack meines abenteuerlichen, fast zweijährigen Ausflugs in die Sozialarbeit werden sollte. Auf eine etwas verquere Art und Weise identifizierte ich mich besonders mit dem Song Single-Bilingual, auch wenn der eine komplett andere Situation beschrieb als meine eigene Lebenslage. Im Text geht es um einen Handelsreisenden, der eigentlich nicht besonders sympathisch rüberkommt. Die Beschreibungen lassen ihn eher blasiert wirken: »They call this a community, I like to think of it as home, arriving at the airport I am going it alone; ordering a boarding pass, travelling in business class.« Das dazugehörige Musikvideo ist dementsprechend albern. Neil Tennant singt im Video mit ernster Miene, während Chris Lowe – verkleidet als Sicherheitsbeamter – seinen Bandkollegen mit dem Metalldetektor abklopft und um ihn herum graue Geschäftsleute allerlei übertriebenen Quatsch anstellen und auf dem Flugfeld tanzen. »Arriving at my hotel there are faxes greeting me. Staying in a junior suite, so there’s room to meet and greet.«

Ich mochte den Song sehr und mir war auch klar, dass es sich dabei um eine Parodie auf die neoliberale Business-Euphorie der Neunzigerjahre handelt – das Lied zur Ich-AG. Wer das Video bis zum Ende anschaut, bekommt sogar noch eine weitere Interpretation angeboten: Über der Band, über einer Dachterrasse, drehen sich Kampfjets in der Luft wie Discokugeln im Klub; die Landelichter der Düsenjäger werden zur Lightshow für den Dancefloor. Die schnöseligen Handelsreisenden, die der Song beschreibt, mögen zwar albern und blasiert in ihrer Wichtigtuerei sein, aber vielleicht verdienen sie ihr Geld auch im Waffenhandel.

Doch beide Interpretationen des Songs – eine Parodie auf neoliberales Gebaren oder eine Warnung davor, mit welcher Leichtfertigkeit der internationale Waffenhandel agiert – hatten definitiv nichts mit meinen Lebensumständen im Herbst 1996 zu tun. Ganz im Gegenteil: Meine internationale Reisetätigkeit war sozial motiviert und mein Flug in die USA war alles andere als Business Class. Für mich zählte etwas anderes: Ich war auch Single und auch irgendwie bilingual. Aber definitiv deutlich mehr Single. Und das reichte aus, um mich mit dem Protagonisten des Songs zu identifizieren. Das Lied mag zwar als bissige Satire gedacht sein, aber trotz aller Ironie ging das Lied mir nahe. Ich hatte echte Empathie für die Hauptperson des Songs, sosehr sie auch eine Parodie sein mochte. Ich fühlte mich auch ein bisschen wie ein Handelsreisender. Und ich spürte die Einsamkeit der Erzählerstimme. Selbst wenn die Pet Shop Boys den Protagonisten des Songs der Lächerlichkeit preisgaben, so hatten sie ihm doch eine Menschlichkeit gegeben. Auch hier wurde wieder ein aktueller Aspekt aufgegriffen: Die immer stärker neoliberal optimierte Arbeitswelt wurde kritisch betrachtet, aber eben gleichzeitig mit einem gewissen Interesse, einem gewissen Spaß. Nichts in dieser Musik, dem Text, dem Video suggeriert, dass die Pet Shop Boys sich dadurch aufwerten wollen, dass sie auf den Kapitalismus schimpfen.

Meine Zivi-Unterkunft in New York City war ein ziemliches Desaster. Es handelte sich um ein klitzekleines WG-Zimmer in einem vierstöckigen, sehr alten Altbau am Times Square. Nichts funktionierte. Klo und Dusche teilte ich mir mit den Obdachlosen, die in den anderen Zimmern untergebracht waren. In der Dusche fiel oft genau dann, wenn man sich eingeseift hatte, das kalte Wasser aus und es kam nur noch kochend heiße Lava aus der Leitung. Dann blieb mir nichts übrig, als einen Eimer mit dem heißen Wasser zu befüllen und so lange zu warten, bis es kalt genug war, um mir das Duschgel und Shampoo abzuwaschen. Mein Anrufbeantworter ging kaputt, weil eine riesige Kakerlake hineinkroch und zwischen die Zahnräder geriet. Gegenüber war ein Parkplatz. Die damals gängigsten Tonfolgen amerikanischer Auto-Alarmanlagen kann ich noch heute auswendig.

Wie gay mein neues New York Cityer Umfeld war, wurde mir erst nach und nach bewusst. Direkt neben meiner Wohnung war eine lutherische Kirche mit Obdachlosenküche und einer guten Orgel. Kurz nach meiner Ankunft fragte ich, ob ich dort Orgel spielen dürfe, bekam kurzerhand einen Schlüssel für die Kirche in die Hand gedrückt, wurde aber auch sofort für den Kirchenchor gecastet. Als ich zu der ersten Chorprobe kam, war ich verwundert. Es waren überraschend viele Männer dort, nicht die üblichen drei Bässe und ein halber Tenor, die ich aus den deutschen Kirchenchören kannte, vor denen ich während meiner Kirchenmusikerausbildung geübt hatte. Die Männer hier hatten alle militärisch kurze Haare und waren sehr muskulös. Das wirkte alles sehr straight, als wäre ich in einer Gruppe singender Marines gelandet. Ich bekam Angst. Ich hatte mich ein Jahr vor meiner Abreise nach New York City geoutet und war gespannt darauf, wie es wäre, hier offen schwul zu leben. Aber ging das hier, in dieser Gemeinde? Schon bereute ich, dass ich ausgerechnet zu der ersten Chorprobe ein rosa Polohemd angezogen hatte. Ich setzte mich zu den Tenören. Wenig später setzte sich einer von den grimmig dreinblickenden muskulösen Männern mit dem militärischen Kurzhaarschnitt neben mich. Er betrachtete, weiterhin sehr ernst dreinblickend, mein rosa Polohemd. Dann das rote Hemd, das er trug. Dann legte er mir die Hand auf das Bein und sagte: »Schatzi, das passt ja farblich gar nicht zusammen.«

 

Als ich 1998 nach Hamburg zurückkehrte, hatte ich erst mal die Schnauze voll von alternativen Wohnformen. Ich begann ein Praktikum bei der Hamburger Morgenpost, befragte am Fischmarkt Passantinnen zu ihrer Meinung zu Eros Ramazotti, interviewte Fans der Kelly Family, die in der Nacht vor dem Konzert vor der Alsterdorfer Sporthalle campierten. Und ich bewarb mich an der Filmhochschule in Potsdam. Ich stellte mir vor, wie ich nach Berlin ziehen und täglich mit der S-Bahn nach Babelsberg fahren würde, um mich dort zum Drehbuchautor ausbilden zu lassen, und sah mich schon auf allen Berlinale-Partys. Potsdam lud mich zu einem Aufnahmegespräch ein, behandelte mich mies und lehnte mich ab. Damals fand ich das schlimm, heute weiß ich, dass es in der Filmbranche und auf den Berlinalepartys nicht gerade die Drehbuchautorinnen und -autoren sind, um die sich alles dreht, und bin eigentlich ganz froh.

Ich schrieb mich für eine Random-Magister-Kombination an einer Berliner Universität ein, da las ich davon, dass es in Leipzig ein Literaturinstitut gebe, eine Art Kunsthochschule für die Kunst des Schreibens. Ich bewarb mich, wurde im Aufnahmegespräch gut behandelt. Und angenommen. Somit war die Frage »Should I write a book or should I take to the stage« erst einmal beantwortet.

Ich merkte bald, dass Leipzig, auch was die Höhe der Mieten anbetraf, das Gegenteil von New York City war. Die Mieten waren unglaublich niedrig. In Leipzig konnte ich das machen, was in New York City utopisch gewesen wäre: Ich mietete eine 40-Quadratmeter-Wohnung für mich allein, als Erstmieter in einem gerade fertiggestellten Neubau! Dann merkte ich allerdings schnell, dass ich stylemäßig damit voll danebenlag. Das Studium am Deutschen Literaturinstitut (DLL) war eine wunderbare Sache. Viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen liebte und bewunderte ich sehr. Allerdings hatten viele von ihnen...

Erscheint lt. Verlag 7.10.2021
Reihe/Serie KiWi Musikbibliothek
KiWi Musikbibliothek
Zusatzinfo 2-farbig
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 90er Jahre • Ein Mann der Kunst • Go West • Lieblingsband • Musik • Musikbibliothek • Musikreihe
ISBN-10 3-462-30327-9 / 3462303279
ISBN-13 978-3-462-30327-8 / 9783462303278
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