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Die sieben Sprachen des Schweigens (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00933-2 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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Ein Gang mit Imre Kertész durch Jena. Ein befreiendes Erlebnis in Jerusalem. Eine Rückkehr aus dem Jenseits eines dreiwöchigen Komas. Drei elementare autobiographische Erfahrungen verdichtet Friedrich Christian Delius zu einem großen Text über das Widerspiel von Schweigen und Sprechen, wobei er das Schweigen als Ausgangspunkt und Angelpunkt allen Sprechens und Meinens würdigt. Delius erzählt von der Vielfalt und den Vorzügen des Schweigens ebenso anschaulich wie von Gesprächen, Missverständnissen und Überraschungen zwischen Schillers Gartenhaus und dem «Schwarzen Bären» in Jena, dem Tempelberg und den Krawatten in Jerusalem und den wilden Halluzinationen durch das eigene Seelengestrüpp während eines langen Delirs auf der Intensivstation. Ein Alterswerk, ein Buch der Erinnerung, so tiefgründig wie heiter, und zugleich ein konzentriertes Selbstporträt. Selten hat F.?C. Delius so viel preisgegeben, und selten werden so viele Fragen an das Leben, die ein jeder hat, so spielerisch elegant beantwortet - in Worten, die nicht gesprochen wurden, nun aber geschrieben stehen.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Die Jerusalemer Krawatte


Eines Tages wäre die Geschichte der Jerusalemer Krawatte zu erzählen –

 

Eines Tages, das mag in ein paar Jahren sein oder Monaten oder irgendwann, wenn die Kräfte reichen, mit der Härte der Genauigkeit auf eines meiner schwierigsten Jahre zu blicken und gleichzeitig die Befreiung zu beschreiben, die ich dem alten Abraham und seinem Sohn Isaak verdanke und die mit einem ostereierbunten Stoffstreifen verknotet ist –

 

Vielleicht kein besonders schönes Stück, zu schmal, zu bunt, zu offensichtlich selbstgemacht, aber das Äußere ist nicht der Grund, weshalb ich, ohnehin kein leidenschaftlicher Schlipsträger, diese Krawatte nur selten um den Hemdkragen binde, auch nicht, weil die Batikmode eine Mode von vorgestern ist und ich ungern der Geschmacksverirrung bezichtigt werde –

 

Was mich hindert, sie bei Partys oder Empfängen oder größeren Tischrunden anzuziehen und mit den knalligen Farben unter dem Kinn aufzufallen, sind die leicht verstörten Blicke: Was hast du denn da an?, die ich früher, oft ohne laut gefragt zu sein, im milden Angeberton halb beantwortet, halb entschuldigt habe mit den Worten: eine Jerusalemer Krawatte –

 

Was schnell zu Konversationsgeplänkel über das Wie und Warum geführt und mich in die Verlegenheit gebracht hat, abwägen zu müssen, wie weit ich den Fragestellern mit Selbstauskünften, ja mit einem Reigen von Selbstauskünften entgegenkommen sollte –

 

Die, wenn ich einigermaßen bei der Wahrheit bliebe, bis auf die Höhen des Tempelbergs in Jerusalem, in hessische Dorfkirchen und zu einigen Quetschungen des Lebens, wie der alte Weimarer sagt, führen müssten, zu Selbstbespiegelungen und Bohrungen in die eigene Tiefenseele, was in einem Partygetümmel, bei einem kleinen Gesprächsgeplänkel über Form und Farbe einer Krawatte völlig übertrieben oder aufdringlich wäre –

 

Ich müsste noch weiter ausholen und sogar von meiner Schreibarbeit sprechen, und das ausgerechnet als einer, der Erzählungen von Schriftstellern, die von Schriftstellern erzählen, fast immer für überflüssig gehalten und vermieden hat, auch hier warteten zu viele Peinlichkeiten und Hindernisse –

 

Dabei gibt es keinen Grund, diese Krawatte zu verstecken oder nichts über sie zu erzählen, immer wieder drängt die zurückgehaltene und für mein Leben so zentrale Geschichte hervor, immer wieder wünsche ich mir die nötige Gelassenheit für einen Bericht, und der Vorsatz, hin und wieder von einigen biographischen Belustigungen zu erzählen, wird ohne dies schmale, bunte Stück Stoff nur schlecht gelingen –

 

Nach so vielen Andeutungen hier also ein paar Stichworte, die zur kürzestmöglichen Version der Geschichte der Jerusalemer Krawatte gehören sollten –

 

Einladungen, mit einem eigenen Buch auf Reisen zu gehen und daraus gegen Honorar zu lesen, sich vom geneigten Publikum ermuntern und in zuweilen anstrengende Gespräche verwickeln zu lassen, habe ich in den achtziger und neunziger Jahren nur ausnahmsweise annehmen können, für einen Familienvater, der möglichst viel Rücksicht zu nehmen versuchte auf das Wohlergehen zweier Schulkinder und der angetrauten Professorin, waren die Reisemöglichkeiten beschränkt –

 

Jeder Weg aus Berlin hinaus war sorgfältig abzuwägen und zu besprechen und oft zu verwerfen, doch als der Briefträger im Frühsommer 1994 eine Einladung nach Israel brachte, zu einem israelisch-deutschen Schriftstellertreffen nach Jerusalem, verlangte die innere Stimme gleich, alles zu tun, um mit einer Zusage zu antworten –

 

Obwohl ich gerade im Frühjahr sechs Wochen an einer amerikanischen Universität gewesen war und damit das Familienbudget aufgebessert hatte und obwohl ich mit dem eben erschienenen Buch «Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde» da und dort unterwegs war, schien mir eine dritte größere Unternehmung in diesem Jahr, Israel im November, unverzichtbar, eine Woche nur, zehn Tage, dieser Wunsch traf auf keinen Widerstand im Familienrat, die Töchter waren inzwischen elf und fünfzehn Jahre –

 

Vieles drängte mich, die Einladung anzunehmen, ich war nie in Israel gewesen, es war höchste Zeit, einmal in das Bibelland, Überlebendenland, Rettungsland, Kämpferland, Konfliktland, Aufbauland, Gottesland zu fahren, in das Prüfungsland für jeden Deutschen, der sich mit der Shoah, mit den Tätern, mit den einschlägigen Schuldfragen beschäftigte, und in das Christenland, das auch der diffusen Neugier eines christlich geprägten Agnostikers einiges zu bieten hatte –

 

Die Einladung kam von Schriftstellern aus Israel und Deutschland, die zuvor in Freiburg ein Treffen von Autoren aus beiden Ländern organisiert hatten, danach ein ähnliches in Berlin, nun sollten die Gespräche in Jerusalem, in der großzügigen Künstlerherberge und Tagungsstätte Mishkenot Sha’ananim, fortgesetzt werden, und ich durfte mich freuen, dass die Kollegen sogar einen wie mich dabeihaben wollten, von dem bekannt war, dass er sich nicht eben häufig in mündlicher Rede hervortut –

 

Ich sagte also zu und wurde gebeten, zwei kürzere Texte einzureichen, damit sie übersetzt, im Programmbuch gedruckt und bei einer Lesung in Tel Aviv oder Jerusalem präsentiert werden konnten, ich wählte zwei Passagen aus dem gerade erschienenen «Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde», darunter den Abschnitt «Ich war Isaak» –

 

Dreieinhalb Seiten, sehr private, sehr intime Nöte eines Elfjährigen mit einem Vater, den sich das Kind als übermächtigen Abraham mit Messer und Mordbereitschaft vorstellt, mordbereit aus absolutem, nicht angezweifeltem Gottesgehorsam, der stärker ist als die Liebe zum Sohn, dessen Schrecken keine Rolle spielt bei Moses im Alten Testament –

 

Ein monologischer Langsatz, kreisend um die Bibelstelle, die mich schon als Kind in der Kinderbibel mit den wuchtigen Figuren des Schnorr von Carolsfeld irritiert hatte, die Opferszene, eine zentrale Metapher der Religionen, übertragen auf einen hessischen Dorfpfarrer und seinen verschreckten Erstgeborenen, verdichtet als kindliche Beschwerde über einen Gott, der seinen treuen Dienern solche Mordbereitschaft, Täuschungen und Konflikte abverlangt –

 

Diese kurze Variation eines bekannten Textes aus der Bibel war zu verstehen, ohne den Zusammenhang und den dramaturgischen Ablauf des Buches zu kennen, wo sie zwischen dem feierlichen Sonntagsmittagessen der Familie und einer Szene über die Angst des Jungen vor der nicht zu stoppenden Übermacht der ungarischen Fußballer platziert war, sie könnte, weil sie aus dem Buch Moses stammte, die Israelis neugierig machen, überlegte ich, oder provozieren, vielleicht würde man den Text auch als langweilig und zu brav im Sinne jüdisch-christlicher Gemeinsamkeitsrituale empfinden oder als zu radikal, das war egal, die dreieinhalb Seiten waren keine schlechte Eintrittskarte zu dieser Tagung –

 

Von den Vorbereitungen und vorbereitenden Lektüren, der Reise, den intensiven Kontrollen, dem Flug, der Ankunft, den Kollegen, der Fahrt über die Autobahn hinauf nach Jerusalem, von den üblichen Reiseimpressionen muss hier nicht erzählt werden, alles keine neuen oder nennenswerten Ereignisse –

 

Außer der Überraschung im Flugzeug, als ich im Einreisepapier den Vornamen des Vaters einzutragen hatte, nicht aber den der Mutter, klar, natürlich wollten die Israelis wissen, ob da noch ein Verbrecher aufzuspüren wäre oder ich aus einer nazikriminellen Familie komme, völlig in Ordnung –

 

Und doch irritierend, den Namen eines vor über dreißig Jahren Gestorbenen hinzuschreiben und zu denken: Was tun sie, oder was tun sie mit mir, wenn er mehr als ein normaler Wehrmachtsverbrecher war, der in Frankreich, in Russland, in Nordafrika als einfacher Soldat irgendwie durchkam und nicht in der Partei war, nach allem, was ich wusste –

 

Ich verstand die Frage nach dem Vornamen, aber sie störte mich, störte mich auf, da hatte ich mir ein Leben lang Mühe gegeben, mich vom Vater zu distanzieren, und nun begleitete er, schon so lange tot, mich nicht nur als Abraham im Buchtext, sondern auch mit seiner ganzen Vornamenexistenz und seiner, soweit ich wusste, widerwillig ertragenen Wehrmachtsmitmacherei auf dem Flug über das Mittelmeer nach Israel, in das Mutterland dreier Religionen, und reiste unsichtbar mit in das Land der Bibel, seiner Bibel, eine Reise, von der er nicht einmal zu träumen gewagt hätte –

 

Den Gedanken, Abraham hinzuschreiben, hatte ich nicht, obwohl ich als Isaak einreiste, mit der Isaak-Geschichte im Gepäck, und als ich auf dem israelischen Formular seinen Namen in meinen Großbuchstaben sah, kam es mir wie ein kleiner Verrat vor, als hätte ich ihn seinen Richtern ausgeliefert –

 

Später dachte ich, man wollte die deutschen Besucher mit der Frage nach dem Vater ein bisschen erschrecken, vielleicht in ein Labyrinth fruchtloser Überlegungen schicken: Wer bin ich?, oder man wollte uns schon mal daran gewöhnen, dass man als Deutscher, sobald man israelischen Boden betritt, ständig mit Blicken und Fragen gemustert wird: Auch dieser Tourist ein Kind von Verbrechern, was haben die getan, die ihn zeugten?, sieht man es ihm an, sieht man es ihm nicht...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiografien Schriftsteller • Autobiographie • Autorbiografien • Biografie Neuerscheinung 2021 • Deutschland • Ehe • Erinnerungen • Holocaust • Imre Kertész • Israel • Krankheit • Liebe • Literatur • Ruhm • Schweigen • Sohn • Sprache • Tod • Vater • Vater-Sohn-Beziehung
ISBN-10 3-644-00933-3 / 3644009333
ISBN-13 978-3-644-00933-2 / 9783644009332
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