Europa schafft sich ab (eBook)

Wie die Werte der EU verraten werden und was wir dagegen tun können
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01085-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europa schafft sich ab -  Erik Marquardt
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Moria, Menschenrechte, Mittelmeer An den europäischen Außengrenzen werden vielfach Menschenrechte gebrochen. Geflu?chtete werden ohne Zugang zu Asylverfahren zuru?ckgewiesen, eingesperrt, auf dem Meer ausgesetzt und misshandelt. Erik Marquardt war in den letzten Jahren immer wieder auf der Balkanroute, auf Lesbos und bei der Seenotrettung auf dem Mittelmeer. In seinem Buch macht er die Diskrepanz zwischen dem europäischen Bekenntnis zu Menschenrechten und der Wirklichkeit vor Ort deutlich. Marquardt zeigt, wie europäische Regierungen eigenes Recht brechen, Werte verraten und welche Folgen das fu?r uns alle hat. Zugleich macht er deutlich, wie ein Kurswandel möglich ist und wie man selbst dafu?r aktiv werden kann. «Dieses Buch behandelt die Realität an Europas Außengrenzen in einer Klarheit, dass ich mir gewu?nscht hätte, es wäre grausame Fiktion.» Joko Winterscheidt

Erik Marquardt, geboren 1987, ist ein deutscher Politiker (Bündnis 90/Die Grünen) und Fotojournalist. Seit der Europawahl 2019 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments. Marquardt ist Vorsitzender des Vereins Civilfleet-support. Er war mehrfach als Seenotretter auf dem Mittelmeer, organisierte Hilfsprojekte auf Lesbos und der Balkanroute und berichtete aus Afghanistan. Derzeit lebt er in Berlin und Brüssel.

Erik Marquardt, geboren 1987, ist ein deutscher Politiker (Bündnis 90/Die Grünen) und Fotojournalist. Seit der Europawahl 2019 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments. Marquardt ist Vorsitzender des Vereins Civilfleet-support. Er war mehrfach als Seenotretter auf dem Mittelmeer, organisierte Hilfsprojekte auf Lesbos und der Balkanroute und berichtete aus Afghanistan. Derzeit lebt er in Berlin und Brüssel.

Der schwere Weg nach Westeuropa


Nach einigen Tagen auf Lesbos voller Eindrücke und Gespräche fahren wir weiter nach Thessaloniki, wie so viele damals, die nach erfolgreicher Flucht der Balkanroute nach Westeuropa folgen wollten.

 

Der Busbahnhof in Thessaloniki war voller Menschen, die ihren Weg nach Zentraleuropa suchten. Kinder liegen völlig erschöpft auf dem Asphalt, während die Eltern versuchen, ein paar Bustickets zu kaufen. (Siehe Foto 9 im Bildteil.) Das gestaltet sich für einige schwieriger als gedacht. Als wir selbst am Schalter anstehen, sehen wir, wie Geflüchtete vor uns weggeschickt wurden. Wir sprechen sie an, aber sie sind nicht allzu enttäuscht. Man müsse sich nur noch über den Preis einigen, sagen sie. Leider gibt es auch auf der Balkanroute nach Europa Korruption, es bereichern sich viele – nicht alle – am Geschäft mit den Geflüchteten. Kaum jemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Wie so oft werden diejenigen am härtesten bestraft, die keine Lobby und den falschen Pass haben.

Am Grenzübergang in Idomeni – ein Dorf mit etwas mehr als hundert Einwohner:innen, das ein halbes Jahr später in den Fokus der Weltpresse rücken sollte – setzten wir unsere Reise über Gevgelija fort. Dieser nordmazedonische Grenzort war damals voller Leben. Fast alle Menschen auf der Balkanroute benutzten den gleichen Weg. In Gevgelija war auf dem alten Bahnhof erst einmal wieder Warten angesagt. (Siehe Foto 10 im Bildteil.) Denn auch in Nordmazedonien muss man sich wieder neu registrieren und ein Ticket für den Zug an die serbische Grenze kaufen. Einige können sich das Ticket nicht leisten oder haben Angst davor, dass die Züge nicht dort ankommen, wo es ihnen versprochen wurde. Sie laufen die etwa 150 Kilometer durch das Land. Wie gefährlich das ist, wurde klar, als im April 2015 14 Menschen von einem Zug überrollt wurden und starben, weil sie auf den Gleisen wanderten und sich am Streckenverlauf orientierten.[1] Die Angehörigen der Opfer wurden von den Behörden nicht ausfindig gemacht, Überlebende schnell nach Griechenland abgeschoben, wie die ARD später herausgefunden hat.[2] Solche Unglücke sind oft leider nur eine Randnotiz der öffentlichen Berichterstattung. Doch ein Ergebnis dieses schrecklichen Unglücks war, dass das mazedonische Parlament im Juni 2015 ein Gesetz beschloss, das es Geflüchteten ermöglichte, legal durch das Land zu reisen. Allerdings war das Unglück nicht der einzige Grund für die Gesetzesänderung. Nordmazedonien hatte schlicht nicht genügend Gefängniskapazitäten, um die Menschen einzusperren, die ohne Genehmigung in Nordmazedonien aufgegriffen wurden. Das Abschiebegefängnis Gazi Baba, in dem es nur Platz für 120 Inhaftierte gab, war schon im Mai 2015 mit 450 Inhaftierten vollkommen überfüllt.[3]

Nach der Gesetzesänderung liefen die meisten Menschen nicht mehr zu Fuß durch das Land oder versuchten es auf Fahrrädern zu durchqueren, sondern fuhren mit dem Zug.

 

Am Abend richten die Menschen ihre Schlafplätze auf dem Bahnhofsgelände her, die meisten haben nicht einmal eine Decke und suchen teilweise unter den Zügen im Güterbahnhof Schutz, weil der Bahnsteig schon voll ist. Die überwiegende Mehrheit von ihnen schlafen direkt auf dem Boden. Ein Mann hat ein Feldbett organisiert, auf dem vier Kinder schlafen, die drei Väter haben sich daneben auf den Asphalt gelegt. (Siehe Foto 11 im Bildteil.)

 

Einen Tag später kaufen wir uns auch ein Ticket, um mit dem Zug Richtung Serbien zu fahren. Das kostet damals 10 Euro. Die staatliche Bahn hatte die Preise für den Weg durchs Land kürzlich von 5 auf 10 Euro verdoppelt. Im Spätsommer werden die Preise für das Ticket auf 25 Euro erhöht.[4] Drei Züge fahren täglich Richtung Serbien. Viel zu wenige für die vielen Menschen.

Beim Einstieg bittet der Schaffner mich und andere Journalist:innen, im ersten Waggon Platz zu nehmen. Das sei der Wagen für internationale Gäste. Dort sei es sehr geräumig und sauber. Erst als er uns das anbietet, bemerken wir, dass der erste Wagen komplett leer ist, während sich in den anderen Waggons die Menschen stapeln. Bezahlt haben alle denselben Preis. Ich entgegne, dass es mit Blick auf die Geflüchteten ja momentan recht viele internationale Gäste gebe, die sich auch etwas mehr Platz wünschen würden. Aber in welchen Waggon man einsteigen darf, entscheidet sich nach der Hautfarbe. Das ist die bittere Realität auf der Balkanroute. Alle Journalist:innen lehnen es ab, in den ersten Waggon zu steigen.

Im völlig überfüllten und stickigen Zug suchen wir neue Gesprächspartner:innen. Einer merkt, dass wir Deutsch sprechen, bittet uns, kurz zu warten, und zeigt stolz ein Trikot von Borussia Dortmund. Wir unterhalten uns mit dem Syrer, er erklärt mir, wie die Tabelle in der 1.Fußball-Bundesliga gerade aussieht, wer wie viele Tore schießt und dass er unbedingt nach Dortmund will, um seine Mannschaft endlich mal im Stadion sehen zu können.

 

Als wir aus dem Zug aussteigen, ist es dunkel. Die Passagiere werden von der Polizei mit Handzeichen in Richtung Serbien geschickt, wo sie zu Fuß die Grüne Grenze erreichen können. Wir entschließen uns, nicht mit ihnen zu laufen, sondern die Grenze regulär zu überqueren. Auch mit einem deutschen Pass kann man belangt werden, wenn man nicht an offiziellen Grenzübergängen in das Land einreist. Und besonders im Dunkeln sieht man bei der Grünen Grenze nicht, wo Nordmazedonien aufhört und Serbien anfängt.

 

Am nächsten Morgen gehen wir zum Registrierungszentrum in Presevo, das einem geschäftigen Marktplatz gleicht. Die Behörden registrieren die Menschen nach einiger Wartezeit in langen Schlangen, und anschließend kaufen sich die Reisenden ein Busticket für die Weiterfahrt.

Eine Gruppe von Männern fragt uns, ob sie kurz ein Handy von uns benutzen können. Sie berichten, dass ihnen die Grenzpolizisten an der Grünen Grenze zwei Optionen angeboten hätten: entweder sie werden im Gefängnis auf der Wache eingesperrt, weil sie illegal eingereist sind, oder sie geben alle Handys und ihr Bargeld ab. Sie entschieden sich dafür, von der Grenzpolizei ausgeraubt zu werden. Die offensichtliche Normalität der Korruption auf der Fluchtroute erschüttert mich.

 

In den kommenden Tagen fahren wir auf dem Balkan die Fluchtroute ab. Von Belgrad aus geht es zurück nach Gevgelija, als wir hörten, dass sich die Lage dort zuspitzt. Am 20. August hatte die nordmazedonische Regierung den Notstand ausgerufen und abrupt versucht, die Grenze zu schließen. Mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen gingen sie gegen alle vor, die die Grenze trotzdem überqueren wollten. Mehrere Menschen wurden verletzt.[5]

Drei Tage später, als wir erneut an der Grenze ankommen, ist diese wieder geöffnet. Doch die Konfrontation hat die Stimmung verändert. Wir sehen den ausgelegten Stacheldraht. Grenzsoldaten haben sich postiert und schleppen große Kisten aus Transportern in Militärzelte. Auf den Kisten steht «Crowd control», es sind Gummigeschosse und Tränengas. Nachschub für die nächsten Grenzscharmützel. Auf der anderen Seite des Stacheldrahts stehen Hunderte Männer, Frauen und Kinder in einer riesigen Schlange. In größeren Gruppen werden die Menschen über die Grenze geleitet.

Als wir am Grenzübergang stehen und die Szenerie fotografieren, fällt mir eine größere Menschentraube auf, die sich um einen Mann sammelt. Als ich näher komme, merke ich, dass es Sebastian Kurz ist, der damals noch Außenminister Österreichs ist und Nordmazedonien einen eintägigen Besuch abstattet. Man müsse den Balkanstaaten helfen, sagt er an diesem Tag. Aber Griechenland müsse auch seine Grenzen besser schützen. Ich frage mich, was das genau heißen soll. Grenzen besser schützen? Ein Satz, der leicht dahingesagt ist, aber in der Praxis bedeutet er, dass Menschen, die Schutz suchen, ihn nicht mehr finden. In meinen Ohren und vor allem in den Ohren vieler Menschen auf der Flucht klingt das damals nach Grenzschließungen für Geflüchtete.

Was erhofften sich Kurz und andere davon, dass sie fast täglich forderten, die Grenzen zu schließen, und eine «Politik der offenen Grenzen» beklagten? Glaubten sie wirklich, dass ihre Ankündigungen irgendjemand abschrecken würden? Das Gegenteil war der Fall. Die konservativen Politiker:innen erzeugten den Eindruck, dass es momentan besonders leicht sei, nach Europa zu kommen, aber dass das auch bald wieder vorbei sein müsse. Besser konnte man nicht dafür werben, dass sich Menschen bitte schnell auf den Weg nach Europa machen sollten.

In dieser Zeit häuften sich Grenzschließungsforderungen der europäischen Regierungsvertreter, die durch den Bau des Grenzzauns in Ungarn und die hitzige öffentliche Debatte dafür sorgten, dass sich viele Menschen auf einen wahren Wettlauf gegen die Zeit begaben.

Fluchtentscheidungen sind oft komplex, und ich habe selten Menschen getroffen, die im Gespräch nur einen Grund dafür nannten, warum sie geflohen sind. Und trotzdem konnte man auf der Balkanroute und auf den griechischen Inseln in den nächsten Wochen und Monaten sehr viele treffen, die sich unter Zeitdruck fühlten. Niemand wusste, wann Europa sich endgültig abschottet und die Flucht noch gefährlicher wird, aber alle wussten, dass die...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2021
Zusatzinfo 24 S. 4-farb. Tafelteil u. 2 4-farb. Karten
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Asylpolitik • Die Grünen • EU • EU Kritik • Flüchtlinge • Flüchtlingshilfe • Flüchtlingskrise • Flüchtlingspolitik • Globalisierungskritik • Hilfe • Kabul • Lesbos • Malta • Menschenrechte • Menschenwürde • Mittelmeer • Politiker • Politische Debatte • Seenotrettung • Solidarität
ISBN-10 3-644-01085-4 / 3644010854
ISBN-13 978-3-644-01085-7 / 9783644010857
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