Verantwortliche Gelassenheit (eBook)

Freiheit in Zeiten der Krise
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
154 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06532-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verantwortliche Gelassenheit -  Thomas Holtbernd
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Die Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie haben die Gesellschaften vor die Fragen gestellt: In welchen Freiheitsräumen leben wir, welchen Einschränkungen oder Verpflichtungen folgen wir, wie ist es um unser Vertrauen in die Regierenden und Mitmenschen bestellt? Sind wir bereit, zugunsten des Gemeinwohls und gerade um der Schwächeren willen Zumutungen hinzunehmen? Davon ausgehend macht Thomas Holtbernd in seiner Analyse deutlich: Wollen wir zukünftige Konflikte, Pandemien und Katastrophen mit möglichst wenig Schaden überstehen, wird es nötig sein, Krisen einzuüben und ein Freiheitsverständnis zu entwickeln, das dazu befähigt, mit Ambivalenzen, unstrukturierten Anforderungen sowie einer großen Ungewissheit umgehen zu können. Wie Kirchen ihren Beitrag dazu leisten können, ist auch eine Anfrage an die Aufgaben bei der Wende von einer moralisch orientierten Wertegesellschaft zu einer problemlösenden Konfliktgesellschaft.

Thomas Holtbernd, geboren 1959; Diplom-Theologe und Diplom-Psychologe; er war in der Krankenhausseelsorge tätig, ist Unternehmensberater und leitet eine psychologische Praxis.

Thomas Holtbernd, geboren 1959; Diplom-Theologe und Diplom-Psychologe; er war in der Krankenhausseelsorge tätig, ist Unternehmensberater und leitet eine psychologische Praxis.

Die Krise als Inszenierung


„Geschichten schaffen Handlung, Struktur, Sinn und Zweck, Tugend und Laster, Lohn und Strafe. Sie motivieren zielgerichtetes Handeln, das in der Realität immer wieder scheitert. Geschichten machen die Welt lesbar.“13 Gerade in Umbruchzeiten und Krisen werden Geschichten erzählt und dafür Inszenierungen geschaffen, damit überzeugend wird, was als große Erzählung gelten soll. Ein solches „Gesamtkunstwerk“ erschafft einen Resonanzraum, und hierfür – so nimmt Philipp Blom an – wird in den nächsten Jahren die Klimakatastrophe die Kulisse sein.14 Durch die Corona-Krise wurden einige grundlegende Probleme einer solchen Vorstellung vom Weltgeschehen als einer Bühne besonders deutlich. Zum einen ist die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Spiel ins Wanken geraten. Einige Staatsmänner wie auch gewisse Bevölkerungsgruppen leugneten die Bedrohung durch das Virus, wie sie vorher bereits die Klimakatastrophe als Erfindung von Wissenschaftlern denunziert hatten. Die Frage, was Wirklichkeit und was Illusion ist, wurde an den Rand gedrängt, es galten „alternative Fakten“. Zum anderen ist die Geschichte vom unendlichen Wachstum an ihr Ende geraten: „Die liberale Erzählung hat ihre Verführungskraft verloren, und noch gibt es zu wenige Bilder, die ein Leben unter völlig anderen Voraussetzungen denkbar und erlebbar machen, also greifen Angst und Frustration um sich.“15 Drittens ist ein bestimmtes Gefühl für Ästhetik und Form verloren gegangen. „ … Kunst ist nicht länger ein potentiell außermoralischer Raum, sondern muss sich mit den Normen und Werten der Gesellschaft befassen, deren eingebundener Teil sie nun ist.“16 Damit geht einher, dass einer ganzen Kultur „ihre eigene Formbeherrschung und -kompetenz unverständlich geworden“17 ist.

Gibt es hingegen eine robuste Erzählung in einer Gesellschaft, lässt sich eine Krise schnell als Krise erkennen, nämlich als Bruch in dieser Erzählung. Gelten in der Gesellschaft viele Erzählungen als gleichwertig und fehlt es an einer eingeübten sowie internalisierten Form, muss eine bedrohliche Situation so stark dramatisiert werden, dass sie überhaupt als Krise wahrgenommen wird. Es müssen erschreckende Bilder, wie zum Beispiel ein Saal mit vielen Särgen, gezeigt werden. Krisen verlangen Narrative der Bedrohung, die eindeutig den Ernst der Lage vermitteln können. Rigide Maßnahmen, die ergriffen werden, müssen hiermit anschaulich begründet werden und sie müssen als solche wiederum narrative Begründungsgrundlage sein. Entweder gibt es bereits Erfahrungen mit entsprechenden Narrativen oder aus den Erfahrungen werden Narrative neu oder angepasst auf die Situation entsprechend gebildet.

Die digitalen Medien, das Internet und Social Media haben dazu geführt, dass Nachrichten als einfache Informationen kaum noch Aufmerksamkeit finden. Der Vordenker des Internets Jaron Lanier18 forderte die Menschen auf, ihre Social-Media-Accounts zu löschen, weil durch die sozialen Medien die Demokratie zerstört würde. Es ist durch die digitalen Medien leichter, Fake News, Deepfakes und auch Verschwörungstheorien zu verbreiten. Die öffentlich-rechtlichen Medien sowie die großen Tagesund Wochenzeitungen stehen nicht mehr für eine seriöse Informationsverbreitung, allenfalls für das Bemühen, noch einigermaßen objektiv und ehrlich zu berichten. Aufmerksamkeit ist zu einer der wichtigsten Ressourcen in der Welt des 21. Jahrhunderts geworden, und daher müssen Inhalte publikumswirksam sowie unterhaltsam auf Kosten von Objektivität und Sachlichkeit gestaltet werden. Vor allem für Politiker gilt die Vorsichtsregel, keinen pointierten Satz zu formulieren, der im Mainstream auf massive Kritik stoßen könnte. Äußerungen müssen so „harmlos“ getroffen werden, dass die Gefahr, missverstanden zu werden, so gut wie ausgeschlossen ist. Damit verliert der gesellschaftliche Diskurs an Biss. Die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und unter Politikern scheint kein Ringen um Positionen mehr zu sein, sondern um die beste Medienwirkung. Die Niederschwelligkeit im Internet, seine Kritik zu äußern und einen Shitstorm zu initiieren oder zu verstärken, hält manche, die im öffentlichen Leben stehen, von klaren oder unliebsamen Äußerungen ab. Und das nicht nur aus Angst, weil sie Opfer einer solchen Erregungswelle im Netz sein könnten, sondern manchmal auch, weil der Diskurs hierdurch banaler wird und eben nicht zu einer konstruktiven Meinungsbildung führt. „Der ‚Shitstorm‘ wird damit zur affirmativsten Form der Kritik, die sich selbst genügt und keine Unterscheidungen braucht.“19 Innerhalb der Gesellschaft verlagert sich die fehlende Polarisierung in extreme Gruppierungen, weil sie sich nicht vertreten oder gehört fühlen. Es entsteht eine Erregung, die um Skandale, Benachteiligung von Opfergruppen und Krisen kreist. Tritt eine tatsächliche und reale Krise ein, wird sie lediglich als außergewöhnliche Steigerung der gewohnten Erregungsgeschichten wahrgenommen. Die Konsumenten der Skandal- und Opfergeschichten haben das Gespür für die Form einer Krisenbeschreibung verlernt oder gar nicht erlernt. Es werden erst in der Krise Krisennarrative geschaffen und entwickelt, sodass es anfangs zu gewaltigen Irritationen, Übersprungshandlungen und Absurditäten kommt. Die Möglichkeit, dass die aktuelle Krise auch das Ende bestimmter Entwicklungen einleiten kann, wird nicht in Betracht gezogen. So ist zum Beispiel das Wachstumsnarrativ über Jahrzehnte wie zu einem Naturgesetz geworden und wurde daher gar nicht mehr als Narrativ gedeutet. Auch haben die Erregungsgesellschaft und die totale Medialisierung der Öffentlichkeit die Wahrheitsfrage verdeckt. Es entstand eine Kultur des Bullshits. Nach Harry G. Frankfurt geht es beim Bullshit nicht mehr um Wahrheit oder Richtigkeit, sondern nur noch um eine Aussage, die Wirkung hat. „Gerade in dieser fehlenden Verbindung zur Wahrheit – in dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind – liegt meines Erachtens das Wesen des Bullshits.“20

Freiheit, egal wie wir sie verstehen, muss immer einen Wahrheitsbezug haben, da sie ansonsten nicht als Wert eingefordert werden kann. In einer Krise wird der Wert der Freiheit durch seine negative Bestimmung ins Bewusstsein zurückgeholt, indem Freiheiten beschränkt und Disziplinarmaßnahmen verordnet werden. Michel Foucault hat in „Überwachen und Strafen“ zwei Grundmodelle gegenüberstellt. „Einmal ist es der Traum von einer reinen Gemeinschaft, das andere Mal der Traum von einer disziplinierten Gesellschaft.“21 Bei der Lepra versuchten die Gesellschaften die Erkrankten auszuschließen oder sie zu verbannen. Die Pest hingegen versuchte man zu bannen, indem der Einzelne total überwacht und diszipliniert wurde. Michel Foucault nahm an, dass sich diese beiden Modelle im 19. Jahrhundert miteinander verbunden haben. „Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts arbeitet die Disziplinargewalt daran, die ‚Aussätzigen‘ wie ‚Pestkranke‘ zu behandeln, die sublimen Unterteilungen der Disziplin auf den amorphen Raum der Einsperrung zu projizieren, diesen Raum mit den Methoden der analytischen Machtverteilung zu durchsetzen, die Ausgeschlossenen zu individualisieren, aber auch mit Hilfe der Individualisierungsprozeduren die Auszuschließenden zu identifizieren.“22 Die Inszenierung der Corona-Krise scheint eine Weiterentwicklung dieser Dynamik zu sein. Die Politik ist bemüht, die Zahl der Infizierten zu stoppen, und muss daher durch Tests die Infizierten erfassen und sowohl die Infizierten und diejenigen, die Kontakt mit Erkrankten oder Infizierten hatten, in Quarantäne schicken. Die, die ausgeschlossen werden sollen, müssen identifiziert werden. Gleichzeitig werden diejenigen, die sich nicht an die Ausgangsregeln halten oder gegen das Kontaktverbot verstoßen, geächtet und mit massiven Geld- und Haftstrafen zum Einhalten der Regeln gezwungen. In diktatorischen Staaten wird die Einhaltung rigoros durchgesetzt, die demokratischen Regierungen setzen hingegen auf Freiwilligkeit und lenken diese Freiwilligkeit durch eine gezielte Information oder das Nudging.

Die Medizin ist zu einem der Hauptdarsteller in dieser Inszenierung geworden. Allerdings sind es vor allem die Disziplinen der Medizin, die mit mathematischen oder statistischen Modellen operieren und scheinbar eindeutige Aussagen machen können, während für die Humanwissenschaften ansonsten festzustellen ist, „daß der unüberwindliche Eindruck von Verschwommenheit, Ungenauigkeit, Präzisionsmangel, den alle Humanwissenschaften hinterlassen, nur die Oberflächenwirkung dessen ist, was sie in ihrer Positivität zu definieren gestattet“23. Virologen und Epidemiologen bestimmten die Vorgehensweise der Politik. Diese Inszenierung, also die Geschichte von den Zahlen, wurde brüchig, als das Problem der wissenschaftlichen Methode offensichtlich wurde. Die Aussage über eine wissenschaftliche Erkenntnis ist immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die abhängig von vorhandenen Daten, durchgeführten Experimenten und...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2021
Verlagsort Würzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Beschränkung • Freiheit • Gesellschaft • Kirche • Krise • Politik • Unfreiheit
ISBN-10 3-429-06532-1 / 3429065321
ISBN-13 978-3-429-06532-4 / 9783429065324
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