Tom Pauls - Macht Theater (eBook)

Ein Stück vom Leben

, (Autoren)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2781-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tom Pauls - Macht Theater - Tom Pauls, Peter Ufer
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Erinnerungen eines legendären Theatermachers.

Erstmals erzählt Tom Pauls von dem Moment, der ihn für die Bühne begeisterte, von Selbstzweifeln während seines Schauspielstudiums, den Widersprüchen vor 1989 sowie dem Neuanfang nach 1990. Noch nie sprach er so persönlich von den Höhen und Tiefen seiner Karriere, über die Rolle des Theaters in der DDR, die Ostalgie sowie gegenwärtige Katastrophen wie Elbe-Hochwasser und Corona-Pandemie. Ohne Herausforderungen ging es bei ihm nie. Aber mit Possen bringt er unverdrossen sein Publikum zum Lachen und macht immer weiter Theater.  

»Der Kabarettist und Schauspieler füllt jeden Saal und spricht den Leuten aus Seele und Gemüt.« Stern



Tom Pauls, geboren 1959 in Leipzig, Schauspieler und Kabarettist. Regelmäßig gastiert er auf Kabarettbühnen, in großen Konzerthäusern, drehte mehrere Spielfilme und ist regelmäßig im Fernsehen zu sehen. Seit 50 Jahren steht er auf der Bühne, gründete vor 40 Jahren das legendäre Zwinger-Trio. Populärste Bühnenfigur ist die sächsische Witwe Ilse Bähnert, der Tom Pauls seit dreißig Jahren Leben einhaucht. Am 11.11.2011 gründete der Schauspieler das Tom Pauls Theater in Pirna, spielt dort seine erfolgreichen Stücke und begrüßt, wann immer er kann, die Gäste persönlich.

Im Aufbau Verlag sind seine Bücher 'Das wird mir nicht nochmal passieren. Meine fabelhafte Jugend', 'Nischd wie hin. Unsere sächsischen Lieblingsorte' (zus. mit Bernd-Lutz Lange), 'Deutschland, deine Sachsen. Eine respektlose Liebeserklärung' und 'Meine Lene. Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt' lieferbar.

Mehr Informationen unter www.tom-pauls-theater.de    

Kapitel 2

Ulbricht und die Knusperhexe


Ich blickte hinauf zum Großen Bärenstein. Am Eingang zur Riegelhofstiege kletterte ich über mehrere Felsabsätze und summte ein Lied vor mich hin: »Der Vogelfänger bin ich ja, stets lustig, heißa, hoppsassa! Ich Vogelfänger bin bekannt bei Alt und Jung im ganzen Land.« Ich musste daran denken, wie ich schon als Sechsjähriger meiner Schwester vorgesungen hatte: »Wenn alle Mädchen wären mein, so tauschte ich rasch Zucker ein. Die, welche mir am liebsten wär, der gäb ich gleich den Zucker her.«

Als ich Kind war, lief bei uns zu Hause nachmittags und abends immer klassische Musik. Ich hörte vom Schallplattenspieler die Kratzer auf den Eterna-Schallplatten. Beethoven, Haydn und Mozart hatten offenbar einen Schaden. Mein Vater wollte die Nebengeräusche beseitigen, wischte die Platte mehrfach mit einem weichen gelben Tuch ab. Aber es half nichts. Außerdem gab er mir zu verstehen, dass ich mich niemals an Beethoven, Haydn oder Mozart vergreifen sollte, sonst bekämen sie einen Sprung. Ich schwor es. Aber es half nichts. Denn manchmal stellte ich heimlich die Geschwindigkeit von 33 auf 45, und dann klangen die Töne so hoch, als hätte das gesamte Orchester Helium eingeatmet. Mein Vater raste.

Ich muss jedoch zugeben, dass mir Wolfgang Amadeus Mozart auch in Normalgeschwindigkeit gefiel. Nicht nur der »Vogelfänger« aus der »Zauberflöte«, sondern besonders das Violinkonzert A‑Dur mit David Oistrach und der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Franz Konwitschny beeindruckte mich sehr und bewegte mich tief. Obwohl ich als Sechsjähriger weder wusste, wer Oistrach, noch wer Konwitschny waren. Nur von Mozart hatten mir meine Eltern schon sehr früh und sehr nachdrücklich erzählt. Sie erklärten mir, dass er ein echtes Wunderkind gewesen sei und es immer wieder Kinder und Wunder geben würde. Keine Ahnung, ob das in meinem Fall etwas geholfen hat.

Dreißig Jahre später sollte ich dann den »Amadeus« von Peter Shaffer auf der Bühne spielen. Doch bis es dazu kommen konnte, war es ein langer Weg, und es brauchte zuvor diesen einen Moment, der mich berührte und verführte, um überhaupt einen Gedanken daran verschwenden zu können, dass das eines Tages möglich sein könnte. Ich erlebte diesen einen Moment im Dezember 1965, auch wenn mir erst Jahre danach klar werden sollte, dass dieser eine Augenblick mein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt hatte.

Es begann zum einen damit, dass mich mein Großvater Willy seit meinem vierten Lebensjahr regelmäßig mit ins Schauspielhaus in Leipzig nahm. Er arbeitete dort als Gewandmeister und zeigte mir den Fundus und die Theaterschneiderei. Bevor ich auch nur ein Stück auf der Bühne gesehen hatte, sah ich die Kostüme. Ich bewunderte die Schauspielerinnen und Schauspieler, wenn sie für die Vorstellungen eingekleidet wurden. Kennengelernt habe ich so Christa Gottschalk, Manfred Zetzsche, Günther Grabbert, Hans-Joachim Hegewald. Sie hatten alle eine unglaubliche Ausstrahlung. Schon ihre Stimmen ließen mich erzittern.

Besonders beeindruckte mich Marylu Poolmann. Mein Großvater Willy grüßte sie mit großer Ehrfurcht. Er erklärte mir auch, warum. Sie sei Holländerin, geboren am 3. Oktober 1936 in Amsterdam. Ihr erstes Engagement habe sie in Leipzig bekommen und sei geblieben. 46 Jahre lang stand sie in Leipzig auf der Bühne. Allerdings behielt sie ihre niederländische Staatsbürgerschaft und konnte dorthin reisen, wann immer sie wollte. Opa Willy erzählte mir, dass ihre erste Rolle die der Paula in dem Schwank »Der Raub der Sabinerinnen« gewesen sei. Sie habe ihren ersten Auftritt sehr ernst genommen. Als ihr Kollege Johannes Curth ihr bei den Proben zuflüsterte: »Alles sehr schön, meine Gude, aber leider kommds ni über dä Rambe« nahm Marylu Poolmann das gelassen. Nichts brachte sie aus der Ruhe, deshalb erinnere ich mich wohl besonders gern an sie.

Es gibt noch einen zweiten Grund für die Erinnerung: ihre Tochter Frauke. Mit ihr studierte ich später an der Theaterhochschule in Leipzig Schauspiel. Doch schon als Kinder stromerten wir gemeinsam durch die Künstlergarderoben des Leipziger Schauspielhauses. Eines Tages wurden wir Zeugen einer heftigen Diskussion. Es ging offenbar um Politik, wir begriffen jedoch nicht, was der Grund für den Streit war. Frauke wollte ihrer Mutter dennoch beistehen, rannte zu ihr, stellte sich vor sie. Ihre Mutter blieb wie immer gelassen. Sie nahm die Hand ihrer Tochter und sagte: »Bleib ruhig, bleib ganz ruhig, wir sind nur zu Gast in diesem Land.«

Zum anderen bahnte sich der eine entscheidende Moment für mich damit an, dass ich dreimal in der Woche meine Großmutter zu ihrer Chorprobe begleiten musste. Meine Eltern übertrugen Oma die Aufsichtspflicht über ihr Wunschwunderkind, bei dem allerdings der Knoten erst noch platzen musste. Meine Mutter und mein Vater arbeiteten wochentags bis in den Abend hinein und befürchteten wohl, dass ich in ihrer Abwesenheit allein zu Hause verhungern oder, viel schlimmer noch, beim Hören einer der Eterna-Platten das Vinyl zerkratzen könnte. Also musste Großmutter ran. Ich ging gern mit ihr zur Chorprobe, denn die alten Damen mochten mich und meine lockigen Haare. Jedenfalls nahm ich das an, denn sie strichen immer darüber.

Omas beste Freundin hieß Gigi, eigentlich Gertrud Ilse Pätzold, war pensionierte Musiklehrerin und die Leiterin des Laienchores des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands (DFD). Ich gab Frau Pätzold den Spitznamen Gigi, denn immer, wenn ich mit Großmutter zur Probe kam, stach sie mir zur Begrüßung einen ihrer spitzen Finger wie eine Gieke, also einen spitzen Gegenstand, in meinen Bauch. Dazu meinte sie: »Na, mei Dleener, bisd wo kidzlich!?« Ich spürte ihre Fingerkuppe nah an meinen Eingeweiden und dachte sofort an die Hexe aus dem russischen Märchen »Die schöne Wassilissa«. Das hübsche Mädchen musste sich gegen die Sticheleien der bösen Zauberin wehren, und es gelang ihr eines Tages, sie in einen Kessel mit kochendem Wasser zu werfen. Doch die Hexe versuchte zu entkommen. Immer drohten neue Gefahren. Irgendwann gelang es der schönen Wassilissa, den Deckel auf den Blechpott zu drücken, und die Furie verendete in dem heißen Wasser wie ein Krebs im Kochtopf.

Was mich allerdings versöhnte, war der Gesang. Der Chor der alten Damen trällerte mit feinem Sopran beispielsweise »Ännchen von Tharau«. 17 Strophen lang intonierten die Sängerinnen die Geschichte um eine offenbar begehrenswerte Frau, die all ihre Männer überlebt hatte. Ich hörte genau hin: »Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein soll unsrer Liebe Verknotigung seyn.« Ich verstand kein Wort, aber es klang verheißungsvoll. Auch als meine Großmutter mit ihren Sängerinnen »Im Krug zum Grünen Kranze« trällerte, stieg meine Stimmung. Ich wusste nicht warum, aber die Melodie ging mir nah. »Hei, was die Becher klangen, wie brannte Hand in Hand: Es lebe die Liebste deine, Herzbruder, im Vaterland!« Ich ahnte nicht einmal, was damit gemeint sein könnte, aber es klang erhebend.

Neben diesem populären deutschen Liedgut probte der Chor ein weiteres Musikstück. Oder besser gesagt: Gertrud Ilse Pätzold Gigi verlangte von ihren Frauen, dass dieses Lied geübt werden sollte. Man werde als DFD-Chor demnächst auf dem Pressefest der »Leipziger Volkszeitung« auftreten, erklärte sie. Und zu dieser Veranstaltung müsse dieser neue Gassenhauer intoniert werden. Die meisten der Chorfrauen schüttelten den Kopf. Ich spürte den kollektiven Unmut des Ensembles. Aber Gertrud Ilse Pätzold Gigi wiederholte ihre Forderung. Sie argumentierte damit, dass der DFD ihnen den Proberaum kostenlos zur Verfügung stellen würde und es deshalb selbstverständlich sei, auch mal dankbar etwas zurückzugeben. Und so schlimm sei das Traktoristen-Lied nun auch wieder nicht. Es hieß: »Fritz, der Traktorist«. Gigi begann zu singen: »Wer ist überall der Erste? Das ist Fritz, der Traktorist! Ob’s im Pflügen oder Säen, oder ob’s im Lernen ist. Auf dem Felde bei der Arbeit, singt er stets das beste Lied, dann stimmt Gretel ein ganz leise, weil ihr Herz vor Sehnsucht glüht, nach dem Fritz, nach dem Traktor, nach dem Fritz, ja! Dem Fritz, dem Fritz, dem Fritz, dem Traktorist!«

Die DFD-Chor-Frauen lächelten leicht verkrampft, und meine Großmutter sagte: »Das singen wir nicht.« Gigi Pätzold sang...

Erscheint lt. Verlag 7.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Autobiografie • Autobiographie • DDR • DDR Geschichte • DDR Künstler • Deutschland • Dialekt • Erinnerung • Humor • Kabarett • Karriere • Künstler • Mundart • Pirna • Sachsen • Schauspieler • Selbstironie • Theater • Theatergeschichte • Tom Pauls • Tom Pauls Theater • Witz • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-8412-2781-3 / 3841227813
ISBN-13 978-3-8412-2781-2 / 9783841227812
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