Die Magie von Schokolade (eBook)
272 Seiten
Piper ebooks (Verlag)
978-3-492-99930-4 (ISBN)
Lucie Castel lebt und arbeitet als Lehrerin in Lyon. Mit ihrem ersten Roman Weihnachten wird wunderbar eroberte sie nicht nur in Frankreich die Bestsellerliste. Auch ihr zweiter Roman Die Magie von Schokolade wurde zum Lieblingsbuch der französischen Buchhändlerinnen.
Lucie Castel lebt und arbeitet als Lehrerin in Lyon. Mit ihrem ersten Roman Weihnachten wird wunderbar eroberte sie nicht nur in Frankreich die Bestsellerliste. Auch ihr zweiter Roman Die Magie von Schokolade wurde zum Lieblingsbuch der französischen Buchhändlerinnen.
Kapitel 1
Patisserie Palazzo
Ich habe eine Begabung. Ich weiß, wie man kleine Portionen Glück herstellen und anderen schenken kann.
Auf welche Weise? Mit feinen Kuchen. Ganz gleich, wie alt jemand ist, der zu mir kommt, wo er herkommt oder welche Geschichte er hat, ob Mann oder Frau – immer weiß ich, welcher Teig, welcher Guss, welche Gewürzmischung ihm die größte Freude bereitet. Um den Kuchen auszuwählen, der zu einer Person passt, muss man die Menschen genau studieren.
Ich habe diese Begabung von Elena Palazzo, meiner Großmutter väterlicherseits, geerbt. Sie hat sie zuerst an ihrer Familie ausprobiert. Elena versteht es, jedem Kummer, und sei er noch so schlimm, mit einem Mandelkuchen mit Orangen oder einem ihrer berühmten fiadone ein Ende zu bereiten.
Ich bin zwischen Eischnee und mousse au chocolat aufgewachsen und habe vermutlich mehr Rohzucker eingeatmet als Sauerstoff. Backen war meine erste Sprache, meine erste Art, mich auszudrücken, und das ist so geblieben. Bis heute finde ich es einfacher, jemandem »Ich liebe dich« zu sagen, indem ich ihm einen Windbeutel mit Zitronensahne überreiche, als diese Worte auszusprechen. Worte haben oft einen doppelten Sinn, sie können trügerisch sein. Beim Kuchen ist das nicht so. Dosierung und Rezepte sind eine Wissenschaft, haben nur mit Chemie zu tun und gar nichts mit Metaphern, mit denen ein geschickter Redner andere manipulieren und belügen kann.
Ich bin das, was ich backe. Wer mich kennenlernen will, braucht nur zu probieren, was aus meinem Ofen kommt. Nie wollte ich etwas anderes tun als backen. Ich habe alle Stufen der Karriereleiter erklommen, angefangen mit dem Aufschlagen von Eiern, die ich dann in feine Cremes oder Baiser verwandelte, gefolgt von einem genauen Studium der Zutaten und Backvorgänge, bis ich schließlich vor zwei Jahren die höheren Weihen erhielt: Ich gewann den Wettbewerb als beste Patissière Frankreichs.
Als die Jury in Paris ihr Urteil verkündete, geriet mein Herz außer Rand und Band, ich empfand Glück, Erleichterung, Erregung, Stolz … Kummer. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass meine Großmutter hätte miterleben können, wie ich den Preis erhielt und mit dem Band der Tricolore geehrt wurde. Aber wie der größte Teil meiner Familie blieb sie auf ihrer Insel wohnen, als meine Mutter mit mir ins Exil ging, weit weg von der Mittelmeerküste an eine andere Küste, nahe bei Saint-Malo. Diese Entfernung hätte unseren verwandtschaftlichen Beziehungen nichts anhaben dürfen, aber ich war erst neun, als meine Mutter beschloss, Korsika zu verlassen, und in diesem Alter weiß man noch nicht, wie wichtig unsere Wurzeln für unser Leben sind.
Nach meinem Sieg gehörte ich zu dem ganz kleinen Zirkel von Frauen, die diesen Preis jemals erhalten hatten – es sind tatsächlich nur zwei –, und vor mir lag der Königsweg. Ausgezeichnet unter all den männlichen Kollegen, kehrte ich mit Lorbeer bekränzt in die Bretagne zurück. Einer jungen Unternehmerin leiht keine Bank gerne Geld, aber Bekanntheit zahlt sich aus. Die verrückte Idee, die ich ein paar Jahre zuvor auf dem Schulhof in der Bretagne geäußert hatte, wurde Wirklichkeit. Ich habe meine eigene Patisserie aufgemacht.
Und dann ist alles schiefgegangen. Erfolgreiche Leute behaupten, man könne es nur schaffen, wenn man gute Mitarbeiter hat. Ich hätte den Sturm vorausahnen müssen; meine Teilhaber waren unzuverlässig, wir waren auch nie eine richtige Gemeinschaft, es gab sie auf der einen und mich auf der anderen Seite, aber Liebe macht blind und taub und leider auch ein bisschen dumm. Vor zwei Monaten hat sich mein Traum in Luft aufgelöst, ich wurde von einem bösen Drachen aus meiner eigenen Patisserie vertrieben und habe alles verloren.
Dann starb mein Großvater, er ist jetzt im Himmel bei meiner Mutter und meinem Vater, vielleicht, um sie zu überwachen, und gestern Abend, als ich meinen Koffer packte, um nach Korsika zur Beerdigung zu fahren, wurde mir klar, dass es für mich keinen Grund mehr gibt, in Saint-Malo zu bleiben. So wurden aus einer Reisetasche für ein paar Tage vier große Koffer, in denen sich alles befindet, was von meinem Leben übrig ist. Während ich ins Flugzeug steige, das mich nach Sartène, die Stadt meiner Kindheit, bringen soll, werfe ich einen letzten Blick zurück. Wie viele Koffer braucht man, um ein Leben einzupacken?
Am Tag der Beerdigung drängen sich viele Menschen vor der Kirche. Ich habe Tränen in den Augen und sehe, wie der Leichenzug in der Parallelstraße stehen bleibt. Er transportiert den Leichnam meines Großvaters Andria Palazzo, der vor vier Tagen gestorben ist – nach einem Leben voller Aufregungen und Abenteuer, dessen zweihundert letzte Episoden ich verpasst habe. Als meine Mutter und ich Korsika verließen, dachte ich, wir führen nur ins Nachbardorf, um Eis essen zu gehen, und kämen am Abend wieder nach Hause. Oder am nächsten Tag, und das hätte ich sicher gut verkraftet.
Aber vom Süden Korsikas an die Smaragdküste im Norden der Bretagne umzuziehen war, als käme man auf einen anderen Planeten. Ein anderes Universum, eine andere Welt, eine andere Geschichte. Wenn man das Leben noch vor sich hat, zählt das Gestern nicht, das Heute spürt man kaum, und alle Träume sind in die Zukunft gerichtet.
Immer wieder habe ich gedacht: Morgen kehre ich nach Sartène zurück. Oder übermorgen. Vielleicht in ein paar Monaten, wenn ich volljährig bin, wenn ich mein Praktikum hinter mir habe, wenn ich meine eigene Patisserie eröffnet habe.
Die Zukunft galoppiert voran, ohne sich umzudrehen; nie fängt man sie ein. Und unterdessen vergeht die Zeit und nimmt das Leben unserer Liebsten mit sich.
Und nun bin ich doch nach Sartène zurückgekehrt, in dieses kleine, malerisch auf einer Anhöhe gelegene Fleckchen Erde, das dem Himmel schmeichlerisch ins Ohr zu flüstern scheint, ihm seine strahlende Helligkeit für immer zu bewahren. Wieder stehe ich auf dem hübschen Marktplatz voller dichtbelaubter Bäume, und jetzt, zwanzig Jahre später, kommt mir dieser Platz recht klein vor. Wie viele Jahre habe ich verloren, indem ich der Zukunft hinterherlief! Jetzt geht ein Teil meiner Geschichte mit ihr verloren, und ich habe den Eindruck, dass ich sie nicht genug ausgekostet habe.
Dabei standen meine Großeltern und ich uns sehr nahe, und mein Großvater hat kurz vor seinem Tod beschlossen, mir ein wunderschönes Ladenlokal zu vererben – nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der jetzt gerade der Leichenzug hält –, und dazu eine ordentliche Summe, um meinen Traum zu verwirklichen, im Land seiner Vorfahren Konditorin zu sein. Es ist auch das Land meiner Vorfahren. Als meine Großmutter mich nach seinem Tod anrief, hat sie mir nicht nur die traurige Nachricht überbracht, sondern mir auch gleich von dem unverhofften Erbe erzählt. Mir wird klar, wie schwer es für die beiden gewesen sein muss, dass ihre geliebte Enkelin wegging, in ein Land hoch im Norden, wo es kalt und immer windig ist. Wie konnte Großvater wissen, dass ich seine Hilfe einmal so sehr brauchen würde? Dieser hübsche Laden und das Geld bieten mir eine zweite Chance, plötzlich leuchtet ein kleines Licht in der Dunkelheit, die mich seit Monaten umgibt.
Wenn du wüsstest …
Wir betreten die große Kirche am Platz, die uns von oben zu mustern scheint. Zuerst die Familie, meine Großmutter ganz vorne, dann meine Onkel und Tanten, Cousins, deren Gesichter ich nicht wiedererkenne, und schließlich die Freunde, die engsten ganz vorne. Soweit ich mich erinnern kann, war meine Großmutter immer sehr stolz darauf, dass die Palazzo eine alte korsische Familie sind und ihr Vermögen gemacht haben, weil sie einen ausgezeichneten Ruf genossen. Damals sprach sie von allen möglichen Feinden, die sie um ihre Vormachtstellung auf der Insel beneideten und deren Hinterhältigkeit man nicht unterschätzen dürfe. So wuchs ich in der Überzeugung auf, dass sich unter unseren Betten und in den Schränken Monster verbargen, die zu allem bereit waren, um uns unsere Autos zu stehlen und unsere Vorratskammern und Kühlschränke zu leeren. Mit sechs Jahren misst man den Reichtum an dem, was sich im Kühlschrank befindet, und an der Zahl der Autos. Immer wenn meine Mutter vergaß, einzukaufen, und der Kühlschrank leer war, machte ich die Monster und ihre Hinterhältigkeit dafür verantwortlich. Erst Jahre später verstand ich den Sinn dieser Reden. Rückblickend bin ich sogar der Meinung, dass meine Großeltern fest an eine Verschwörung gegen die Familie Palazzo glaubten. In der Kirche ist es so kalt wie im Grab. Ich setze mich auf den mir zugewiesenen Platz in der vierten Reihe. Der Priester, ein Mann von etwa fünfzig, hat einen, wie ich glaube, süditalienischen Akzent und beginnt seine Rede mit wirklichkeitsfremder Routine. Er zeichnet das Leben meines Großvaters nach, an das ich kaum eine Erinnerung habe, und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Wären wir doch bloß nicht weggezogen …
Dann steht alles um mich herum auf, was mich aus meinen trüben Gedanken reißt. Der Gottesdienst ist zu Ende, was mir erst bewusst wird, als die Leute aus den Bänken treten, um dem Sarg zu folgen. Ich weiß nicht, wie lange ich mit meinen Gedanken woanders war. Das passiert mir in letzter Zeit öfter.
»Du bist immer noch auf der Welt, komm zu uns zurück«, sagte Alex fast jeden zweiten Tag zu mir. Ich hätte besser in meiner Welt bleiben sollen, als zu versuchen, Teil der seinen zu werden.
Ich stehe in der Schlange, um meiner Großmutter zu kondolieren. Neben mir zwei Cousins, jedenfalls vermute ich das. Als ich vor ihr stehe, umarme ich sie ungeschickt und sage leise:
»Es tut mir wirklich sehr leid …«
»Ich weiß«, antwortet...
Erscheint lt. Verlag | 28.10.2021 |
---|---|
Übersetzer | Vera Blum |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | La Guerre des Papilles |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Backen • Bretagne • eine kleine Bäckerei • Familienfehde • für Frauen • Korsika • Kuchen • Patisserie • romantisch • Romeo und Julia • Schokolade |
ISBN-10 | 3-492-99930-1 / 3492999301 |
ISBN-13 | 978-3-492-99930-4 / 9783492999304 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 4,8 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich