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Candide (eBook)

oder der Optimismus

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
160 Seiten
marixverlag
978-3-8438-0137-9 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
5,99 inkl. MwSt
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Ist die Welt, in der wir leben, tatsächlich, wie Leibniz behauptet, 'die beste aller möglichen', oder ist sie ein Ort, aus dem Gott sich längst zurückgezogen, ja mehr noch, den er nie betreten hat? Am Beispiel des einfältigen Candide beantwortet Voltaires auf den Index gesetzte Romansatire diese Fragen mit der radikalen Demontage von Leibniz' philosophischem Optimismus, denn Candide erlebt auf seiner abenteuerlichen Reise die infernalischsten Schrecken und absurdesten Zufälle. Geläutert kommt er am Ende zu der Erkenntnis, dass dem Menschen letztlich nichts bleibt, als ,seinen Garten zu bestellen'.

Der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (François Marie Arouet, 1694-1778) ist die bedeutendste Persönlichkeit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. In seinen philosophischen und literarischen Werken formulierte er die Werte der Vernunft, Toleranz, Menschenrechte und Menschenwürde. Er setzte sich vehement für das Verbot der Leibeigenschaft ein und engagierte sich mehrfach in Justizverfahren, die durch religiösen Fanatismus einseitig beeinflusst wurden. Da ihm in Paris die Beisetzung verweigert wurde, beerdigte man Voltaire in Sellières. Als die Revolution ab 1789 tobte, verlegte man den Verstorbenen 1791 ins Panthéon. Auch das Herz des Philosophen wurde konserviert und wird in der Bibliothèque Nationale aufbewahrt.

Der französische Schriftsteller und Philosoph Voltaire (François Marie Arouet, 1694-1778) ist die bedeutendste Persönlichkeit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. In seinen philosophischen und literarischen Werken formulierte er die Werte der Vernunft, Toleranz, Menschenrechte und Menschenwürde. Er setzte sich vehement für das Verbot der Leibeigenschaft ein und engagierte sich mehrfach in Justizverfahren, die durch religiösen Fanatismus einseitig beeinflusst wurden. Da ihm in Paris die Beisetzung verweigert wurde, beerdigte man Voltaire in Sellières. Als die Revolution ab 1789 tobte, verlegte man den Verstorbenen 1791 ins Panthéon. Auch das Herz des Philosophen wurde konserviert und wird in der Bibliothèque Nationale aufbewahrt.

ZWÖLFTES KAPITEL


Die Alte erzählt ihren Leidensweg (II)

Ich war erstaunt, ja entzückt, meine Muttersprache zu hören; nicht minder aber befremdete mich, was der Mann da eben geäußert hatte. So antwortete ich ihm, es gebe ärgeres Unheil als jenes, über das er sich beklage. In wenigen Worten tat ich ihm die Schrecknisse kund, die ich durchgemacht hatte, und das nahm mich derart mit, dass ich gleich wieder in Ohnmacht fiel. Der Mann trug mich in ein nahe gelegenes Haus, sorgte, dass ich schlief und aß, bediente mich sogar selbst, tröstete mich und liebkoste mich mit Schmeicheleien. Nie habe er so etwas Schönes gesehen wie mich, sagte er, und nie habe er so stark vermisst, was er nun leider nicht mehr habe und was ihm auch keiner je wiederzugeben vermöge. ›Ich bin in Neapel geboren‹, erzählte er mir; ›dort werden jährlich zwei-, dreitausend Knaben zu Kapaunen verschnitten. Ein paar davon sterben; andere können später schöner singen als jede Frau; wiederum andere gehen in die Politik und bringen es bis zum Gouverneur eines Staates. Bei mir hatte die Operation außerordentlichen Erfolg. Ich wurde Chorist in der Kapelle Ihrer Durchlaucht der Fürstin von Palestrina‹, ›Meiner Mutter!‹, rief ich. ›Eurer Mutter?‹, fragte er verwundert zurück. Dann begann er zu weinen und fragte: ›Wie! Ihr wäret die kleine Prinzessin, die ich bis zu ihrem sechsten Jahre betreut habe, und die damals schon so wunderschön zu werden versprach, wie Ihr es heute seid?‹ ›Ja, die bin ich. Meine Mutter liegt vierhundert Schritt von hier in vier Stücke gehauen unter einem Leichenhaufen.‹

Ich erzählte ihm alles, was mir geschehen war; und auch er erzählte mir sein ebenfalls recht abenteurreiches Schicksal. Eine christliche Großmacht hatte ihn zum König vom Marokko gesandt, um mit diesem einen Vertrag zu schließen. Darin wurde dem heidnischen Monarchen die Lieferung von Panzern, Pulver und Schiffen zugesichert, wenn er nur tüchtig den Handel der anderen christlichen Nationen schädige. ›Meine Mission ist beendet‹, schloss der wackere Eunuch seinen Bericht; ›jetzt kann ich heim. Ich werde Euch nach Italien zurück begleiten; wir fahren ab Ceuta. Ma che sciagura d’essere senza coglioni!‹

Ich dankte ihm unter Tränen der Rührung. Statt nach Italien brachte er mich freilich nach Algier und verschacherte mich an den dortigen Dei. Gerade war ich verkauft, da begann in Algier die Pest zu wüten; sie machte wohl ihre übliche Runde durch Afrika, Asien und Europa. Mein gnädiges Fräulein, Ihr kennt Erdbeben; aber hattet Ihr schon einmal die Pest?« – »Nein«, antwortete die Baroness.

»Hättet Ihr die gehabt, würdet Ihr mir einräumen, dass sie einem Erdbeben doch den Rang abläuft. In Afrika ist sie gang und gäbe; auch mir blieb sie nicht erspart. Nun versucht einmal zu ermessen, was da binnen eines Vierteljahres geschehen war und besonders, was all dies für eine junge Frau meiner Herkunft bedeutete: die Tochter eines Papstes, gerade erst fünfzehn, ging durch Armut und Sklaverei, wurde fast jeden Tag vergewaltigt, musste erleben, wie man ihre Mutter in vier Stücke haute, erträgt Hunger und Krieg und sollte nun doch in Algier an der Pest sterben. Allein ich starb nicht. Wohl aber traf es meinen Eunuchen, den Dei und nahezu das ganze Serail von Algier.

Als sich die grässliche Seuche fürs Erste ausgetobt hatte, wurden die Sklaven des Dei verkauft. Mich erstand gleich ein Händler und brachte mich nach Tunis; dort verkaufte er mich einem anderen Händler, der mich nach Tripolis weiterverkaufte; von Tripolis ging es dann nach Alexandria, von Alexandria nach Smyrna, von Smyrna nach Konstantinopel. Endlich landete ich bei einem Aga, der eine Einheit Janitscharen befehligte, Elitesoldaten der türkischen Armee. Ich war noch nicht lange dort, da wurde er schon zum Einsatz abkommandiert. Er sollte das von den Russen belagerte Asow befreien, eine Stadt im Tartarengebiet, gelegen an jenem großen Gewässer, das man Palus Maeotis oder Asowsches Meer nennt.

Der Aga war ein durchaus galanter Mann, was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass er seinen Harem überallhin mitnahm; so auch diesmal. Wir wurden in einem kleinen Fort am Meeresufer untergebracht, wo zwei schwarze Eunuchen und zwanzig Soldaten uns bewachten. Bei den Kämpfen starben jede Menge Russen, doch bekamen wir dies auf Heller und Pfennig heimgezahlt. Sie gaben kein Pardon, nicht für Weib, nicht für Kind, nicht für Greis. Nur unser kleines Fort hielt noch, in dem wir freilich eingekesselt saßen. Die Feinde wollten uns durch Aushungern zur Kapitulation zwingen. Nun hatten unsere zwanzig Janitscharen aber geschworen, sich niemals zu ergeben. Da sie irgendwann dem Hunger nicht mehr standhielten, ihren Eid jedoch um keinen Preis brechen mochten, sahen sie nur einen Ausweg: sie aßen unsere beiden Eunuchen. Als sich nach ein paar Tagen das Problem von Neuem stellte, beschlossen sie, jetzt seien die Frauen an der Reihe.

Zu unserem Glück hatten wir bei der Truppe einen sehr frommen und sehr verständnisvollen Imam. Er hielt den Soldaten eine Predigt, in der er ihnen dringlich riet, uns nicht gleich ganz zu töten: ›Schneidet lieber‹, empfahl er ihnen, ›jeder Dame nur eine Hinterbacke ab. Das ergibt für jeden von euch ein gutes Essen. Und wenn ihr in ein paar Tagen erneut etwas braucht, wiederholt ihr die Prozedur. Der Himmel wird euch solche Barmherzigkeit lohnen und euch retten‹.

Der Mann war wirklich mit einer blendenden Eloquenz begnadet; und so gelang es ihm tatsächlich, die Soldaten zu überzeugen. Die furchtbare Operation wurde an uns vollzogen. Nachher behandelte der Imam uns mit einer Salbe, die man im muselmanischen Ritus bei frisch beschnittenen Kindern verwendet. Wir fühlten uns alle dem Tode nahe.

Kaum aber hatten die Janitscharen die von uns gestellte Mahlzeit beendet, als die Russen mit ihren flachen Booten anrückten. Kein einziger Janitschar entkam. Die Russen machten, was unseren Zustand betraf, nicht viel Federlesens. Wie überall, gab es auch bei ihnen französische Wundärzte. Einer von ihnen, ein recht tüchtiger, nahm sich unser an und versorgte uns. Freilich versuchte er – das vergesse ich mein Lebtag nicht –, meinen Zustand auszunutzen: die Wunden waren endlich zur Gänze verheilt, da verfolgte er mich schon mit gewissen Wünschen. Immerhin sagte er uns aufmunternd, wir sollten das Ganze nicht so tragisch nehmen – derlei Dinge, versicherte er, passierten bei Belagerungen immer wieder; das sei eben Kriegsbrauch.

Als wir wieder halbwegs laufen konnten, schickte man uns nach Moskau. Bei der Teilung fiel ich einem Bojaren zu, der mich zu seiner Gärtnerin machte und mir täglich zwanzig Knutenhiebe verabreichte. Zwei Jahre verblieb ich dort, dann wurde mein Herr gemeinsam mit etwa dreißig anderen Bojaren infolge irgendeiner Hofintrige gerädert. Diese Wendung nutzte ich, um zu fliehen. Ich zog durch ganz Russland. Lange Zeit war ich Kellnerin in Riga, dann in Rostock, in Wismar, in Leipzig, in Kassel, in Utrecht, in Leiden, im Haag, in Rotterdam. Nach und nach wurde ich alt und grau, hatte Not und Schande zur ständigen Begleitung und nur noch einen halben Hintern. ›Und das alles mir!‹, musste ich dauernd denken, ›mir, der Tochter eines Papstes!‹ Hundertmal wollte ich mich schon umbringen, aber ich hing doch immer zu sehr am Leben. Diese lächerliche Schwäche ist vielleicht die unseligste unserer schädlichen Neigungen; denn gibt es einen größeren Narren als jenen, der immerzu eine Last herumschleppt, die er jeden Augenblick hinwerfen will? Der sein Dasein hasst, aber nicht von ihm lassen kann? Der gleichsam die Schlange streichelt, die an ihm frisst, bis sie sein Herz verzehrt hat?

In den Ländern, durch die das Schicksal mich trieb, und in den Schenken, die meine Arbeitsstätten waren, habe ich jede Menge Leute kennengelernt, die ihrem Dasein fluchten. Doch von all denen haben nur zwölf ihrem Elend tatsächlich freiwillig ein Ende gesetzt: drei Neger, vier Engländer, vier Genfer und ein deutscher Professor namens Robeck. Schließlich wurde ich Dienerin bei dem Juden Don Isaschar, und er sandte mich zu Euch, mein schönes Fräulein. Ich nahm gleich großen Anteil an Eurem Los, und bald bewegten mich Eure Katastrophen mehr als meine. Aus eigenem Antrieb hätte ich Euch gegenüber auch nie von meinen Schicksalsschlägen gesprochen. Doch erstens habt Ihr mich ja eben ein wenig gestichelt und gereizt; und zweitens entspricht es doch guter Gepflogenheit auf Seereisen, einander Geschichten zu erzählen, damit es nicht so langweilig wird. Eines haben mir die ganzen Widrigkeiten immerhin gebracht, mein Fräulein: Welterfahrung. Mir macht keiner weis, dass hienieden alles zum Besten stehe. Kommt, gönnt Euch ein Vergnügen: Geht einmal hier an Bord von Passagier zu Passagier und fragt jeden nach seinem Lebensweg. Wenn Ihr auch nur einen findet, der nicht schon oft seine Existenz verwünscht hat, der nicht schon oft der Meinung war, er sei doch der unglücklichste aller Menschen, dann lasse ich mich kopfüber ins Meer...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2021
Reihe/Serie Klassiker der Weltliteratur
Klassiker der Weltliteratur
Verlagsort Wiesbaden
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufklärung • Bildungsroman • Die beste aller möglichen Welten • Frankreich • Französische Literatur • Geschenkbuch • Gottfried Wilhelm Leibniz • Lebensphilosophie • Pessimismus • Philosophie • Roman • Skeptizismus • Utopie
ISBN-10 3-8438-0137-1 / 3843801371
ISBN-13 978-3-8438-0137-9 / 9783843801379
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