Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents (eBook)

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2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-27541-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents -  Bartholomäus Grill
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Der erfahrenste deutsche Afrika-Korrespondent blickt zurück auf vier turbulente Jahrzehnte - und entdeckt das Zukunftspotenzial des angeblich verlorenen Kontinents
Bartholomäus Grill hat fast vier Jahrzehnte lang als Korrespondent der ZEIT und des SPIEGEL aus Afrika berichtet. Nun zieht der legendäre Reporter Bilanz und richtet den Blick zugleich nach vorn: Wo steht Afrika heute, was wird die Zukunft bringen? Mit großer erzählerischer Kraft zeichnet er das Bild eines vielschichtigen Kontinents im Aufbruch, jenseits aller Klischees. Ein Buch so klug wie mitfühlend, das uns Afrika mit anderen Augen betrachten lässt.

Bartholomäus Grill, 1954 in Oberaudorf am Inn geboren, wuchs auf einem Bauernhof auf, den seine Eltern in der Tradition nachhaltiger Kreislaufwirtschaft führten. Er studierte Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte. Vier Jahrzehnte lang hat er als Korrespondent der ZEIT und des SPIEGEL aus Afrika berichtet und immer wieder über den Siegeszug der globalen Landwirtschaft geschrieben. 2006 wurde er für eine Reportage über den Tod seines Bruders mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Grill veröffentlichte den Bestseller »Ach, Afrika« (2003), außerdem »Um uns die Toten« (2014), »Wir Herrenmenschen« (2019) und zuletzt »Afrika!« (2021). Er lebt in Kapstadt.

ADIEU, AFRIKA!

Am Ende einer langen Dienstreise


Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen, eine Begegnungsstätte für die Massai, ein Volk von Halbnomaden, das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania. Wir, das waren neun junge Leute aus Deutschland, Dritte-Welt-Bewegte, wie man damals, im Jahr 1980, sagte. Wir wollten Afrika retten. Unter der glühenden Sonne stellten wir Lehmziegel für das geplante Gebäude her, mussten aber bald feststellen, dass kein einziger Einheimischer mithalf. In ihren Augen waren wir naive Weißnasen, die sie mit einem sinnlosen Projekt beglücken wollten. Dabei stammte die Idee von einem ortsansässigen Massai, von Esto Mollel, der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungspläne für seine rückständige Region im Norden Tansanias ausgedacht hatte: Straßen, Kliniken, Staudämme. Das Kulturzentrum sollte der Anfang sein. Am Ende unserer dreiwöchigen Bemühungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden, sondern ein Hühnerstall im Garten unseres Gastgebers. Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu: ein Lehrer, der mir Afrika erklärte. Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben, aber der Hühnerstall steht noch immer, unweit von seinem Grab. Als ich Ende 2019 das morsche Gemäuer besichtigte, kam es mir vor wie ein Sinnbild für die Entwicklung Afrikas, für einen Kontinent, der nach dem Ende der Kolonialzeit in den frühen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhängigkeit aufgebrochen war – und sechs Jahrzehnte später eher bescheidene Fortschritte erzielt hat.

Afrika retten: Inspektion des Hühnerstalls, den unsere Solidaritätsgruppe im August 1980 aus selbst gemachten Lehmziegeln baute.

© Kleinowitz Stefan

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden, hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen, und von hier aus blicke ich zurück auf meine Zeit in Afrika: Es war ein Wechselbad der Gefühle, ein ständiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttäuschung, Hoffnung und Pessimismus.

Longido vor vierzig Jahren: ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia, zweitausend Einwohner, zwei Buschschänken, kein Telefon, kein Strom, keine Trinkwasserversorgung. Mittlerweile leben hier siebenmal so viele Menschen, und Rose Mollel, Estos Witwe, schwärmt von den Errungenschaften. »Wir haben jetzt Elektrizität und fließendes Wasser. Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum. Die Hauptstraße ist geteert, es gibt zwei Tankstellen und Funktürme für unsere Mobiltelefone.« Dazu ein Dutzend Spelunken, jede Menge sozialer Konflikte, mehr Wohlstand für wenige, mehr Armut für viele, weil es an Arbeitsplätzen mangelt.

Seit meinem ersten Besuch der örtlichen Primary School – Rose war seinerzeit Schulleiterin – hat sich die Zahl der Grundschüler auf 1118 nahezu verdoppelt. Die Klassenzimmer sind so ärmlich ausgestattet wie eh und je: primitive Pulte und Holzbänke, zersplitterte Schiefertafeln, Fenster ohne Scheiben, heißes Blechdach. »Wir haben gute Lehrprogramme, aber keine Lehrmittel«, sagt Julieth Godfrey. Die 57-jährige Lehrerin unterrichtet Mathematik. Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof: ein Computer mit Zubehör, beschrieben in Kisuaheli: Skrini (Bildschirm), Kibodi (Tastatur), Waya (Kabel). Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung. Es gebe nur einen Rechner in der Schule, den nutze aber ausschließlich die Verwaltung, sagt Godfrey. »Es heißt, Bildung sei das wichtigste Mittel, um die Armut zu überwinden. Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entfernt.«

Computer nur als Wandbild: mit der Lehrerin Julieth Godfrey in Longido.

© Kleinowitz Stefan

An Longido lässt sich ein Paradoxon studieren, das exemplarisch ist für Afrika: Der Kontinent ist vorangekommen – und gleichzeitig stehen geblieben.

In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefähr zwei Millionen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren, um aus über fünfzig Ländern zu berichten. Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt: Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt, Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne verbessert? Oder geht es, wie häufig zu hören ist, stetig bergab? Meine Antwort lautet: sowohl als auch.

Aber schon die Frage ist falsch gestellt. Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen, als monolithische Krisenmasse, nicht als vielfältiger Erdteil mit 54 Nationen, die sich höchst unterschiedlich entwickelt haben. Es gibt eine Reihe von Failed States, durch Bürgerkriege ruinierte Staaten wie Südsudan oder Somalia. Es gibt mit Bodenschätzen gesegnete Länder wie Nigeria oder Angola, die ihren Reichtum verprassen. Länder wie Simbabwe oder Gambia, die von Gewaltherrschern zerstört wurden. Länder wie Südafrika, die sich in einer gefährlichen Abwärtsspirale befinden, oder wie Kenia, die sich irgendwie durchwursteln. Politisch stabile Länder wie Namibia, Ghana oder Senegal. Schließlich Länder, die wirtschaftlich erfolgreich sind: Botswana, Äthiopien, Ruanda, Tansania. Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Problemen herum: mit Armut, Arbeitslosigkeit und Krankheit, mit der Unfähigkeit und Gier korrupter Eliten, mit Verteilungskämpfen um knappe Ressourcen, die durch die schnelle Zunahme der Bevölkerung und den Klimawandel verschärft werden. Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte – im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schlusslicht. Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor, mögen sich Leser und Leserinnen sagen, die mein Buch Ach, Afrika kennen, denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund. Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig verändert.

Ich habe mit afrikanischen Ökonomen, Sozialwissenschaftlern und Historikern über die Ursachen debattiert, gelegentlich auch gestritten. Auffällig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen. Da war einmal das große Lamento über den Zustand ihrer Staaten, über das Versagen der politischen Klasse, ja, über deren Verrat an ihren Völkern. Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung: Die Afrikaner und Afrikanerinnen hätten ihre Misere größtenteils selbst herbeigeführt. Warum, verdammt noch mal, schaffen sie es nicht, sich aus eigener Kraft zu entwickeln? Noch krasser drückt es der simbabwische Publizist Kwame Muzawazi aus: »Der wahre Feind Afrikas im 21. Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus: Es ist der schwarze Mann selbst, seine eigene Passivität, seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Angelegenheiten … wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwo.«

Die zweite Erklärung sieht Afrika immer und überall als Opfer, stets sind finstere Außenmächte für alle Übel verantwortlich, die Ex-Kolonialmächte, die Weltbank, die multinationalen Konzerne, die weißen Rassisten und so weiter. Der gegenwärtige Zustand des Kontinents könne »der niederträchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werden«, postuliert der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o. Ein apodiktisches Urteil, das an den Offizier in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie erinnert: »Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos.« Die herrschenden Eliten Afrikas übernehmen solche Generalanklagen gerne, denn sie lenken vom eigenen Versagen ab, wecken im reichen Norden Schuldgefühle und bestärken die internationale Hilfsindustrie in ihrem häufig sinnlosen Aktivismus. Die Einwände afrikanischer Kritiker stoßen hingegen auf taube Ohren, Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert, sie haben Opfer zu sein.

Beide Positionen – selbst verschuldet versus fremdverschuldet – greifen zu kurz. Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren, die Afrika so große Probleme bereitet: einerseits die Spätfolgen des Kolonialismus und das räuberische Weltwirtschaftssystem, das der global entfesselte Kapitalismus noch räuberischer macht, andererseits die schlechte Regierungsführung in vielen Ländern und, drittens, die Synergien, die sich daraus ergeben, die Kollusion der einheimischen Machteliten mit ausländischen Partnern – mit Ölmultis, Bergbaumagnaten, Waffenhändlern, Steuerhinterziehern, Strategieberatern, Anwälten, Wirtschaftsprüfern und Bankern –, die helfen, die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen.

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlächtig, ihre Generalisierungen – »die Afrikaner« – sind ärgerlich. Doch bei allen Einschränkungen stimme ich ihrem Befund zu: Machtmissbrauch, Inkompetenz, Planlosigkeit und endemische Korruption sind die größten Entwicklungshemmnisse. Die politischen Eliten regieren seit der Unabhängigkeit souveräne Staaten, doch in vielen Fällen sind sie weder willens noch fähig, diese in eine bessere Zukunft zu führen. Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren, sie beruht auf dem Recht des Stärkeren. Sie plündern ihre Nationen, bereichern sich maßlos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit. Die vielleicht größte Enttäuschung ist, dass auch meine Wahlheimat Südafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird – das reichste Land des Kontinents, das nach der Überwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild für Afrika war. Millionen von Südafrikanern, die in einer friedlichen Revolution für Freiheit, Gleichheit und Versöhnung gekämpft haben, sind desillusioniert. Spätestens in der Amtszeit von Präsident Jacob Zuma mussten sie feststellen, dass sie von einer Diebesbande regiert werden. Die einstigen Befreier haben nichts aus den...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ach, Afrika • Afrika • Afrotopia • Antirassismus • Apartheid • Äthiopien • China • eBooks • Geschichte • Klimawandel • Kolonialismus • Kongo • Korruption • Nelson Mandela • Rassismuskritik • Rohstoffhandel • Wirtschaft
ISBN-10 3-641-27541-5 / 3641275415
ISBN-13 978-3-641-27541-9 / 9783641275419
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