Stadt der Mörder (eBook)
464 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27746-8 (ISBN)
Paris im Dezember 1924: Es ist ein bitterkalter Morgen, als die Leiche des sechzehnjährigen Clément Faucogney am Place du Panthéon entdeckt wird. Der Anblick des entstellten Körpers ist selbst für Ermittler Julien Vioric kaum zu ertragen - und er ist den Schützengräben von Flandern nur knapp entronnen. Die Beweise führen Vioric in die Passage de l'Opéra, zu einer jungen Frau, die sich auf der Suche nach ihrer Schwester in größte Gefahr begeben hat. Doch noch weiß sie nichts davon. Sie ist bereits dem Charme der Pariser Dichter und der betörenden Schönheit der Stadt verfallen. Nicht ahnend, dass sie der Schlüssel zu allem ist. Nicht ahnend, dass sie bereits im Visier des Mörders steht ...
Bildgewaltig schreibt Britta Habekost über das historische Paris der Surrealisten, das von einem grausamen Serienmörder heimgesucht wird.
Britta Habekost, geboren 1982 in Heilbronn, studierte Literatur sowie Kunstgeschichte und arbeitete unter anderem als Museumsführerin. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft für surrealistische Dichter wie André Breton und Louis Aragon, die sie in ihrem historischen Kriminalroman »Stadt der Mörder« gekonnt durch die Szenerie wandeln lässt. Wenn sie nicht gerade an einem Buch schreibt, reist sie mit ihrem Mann durch Asien.
1
15. Dezember 1924, im Morgengrauen
Das buttergelbe Licht der Gaslaternen am Place du Panthéon spiegelte sich in den Messingknöpfen der Gendarmen und tropfte dann hinab in das Grau der Pflastersteine. Doch weder die schwachen Lichtflecken noch das unbarmherzige sechsmalige Läuten der Saint-Étienne-du-Mont waren in der Lage, diesem Dezembermorgen die Düsternis auszutreiben.
Lieutenant Julien Vioric legte den Kopf schief. Er wäre in die Hocke gegangen, um besser sehen zu können. Aber der Anblick war selbst für einen Mann, der glaubte, die fürchterlichsten Dinge bereits gesehen zu haben, zu viel. Vor ihm lag ein entstellter menschlicher Körper in einem Jutesack. Bisher hatte sich Vioric noch jede Tat erklären können, und war sie noch so grausam gewesen. Aber das hier?
Sein Freund und Kollege Tusson stieß Vioric an. »Ist das der adelige Bengel?«
Wie immer war Tusson gut informiert und wusste, dass Vioric mit der Suche nach einem verschwundenen jungen Mann betraut worden war. Bei dem Vermissten handelte es sich um den sechzehnjährigen Sohn der adeligen Familie de Faucogney.
»Das könnte wirklich jeder sein«, erwiderte Vioric. Aus dem Sack sah etwas hervor, das nach allen Regeln der Vernunft einmal ein menschlicher Kopf gewesen sein musste.
Tusson zündete sich eine Zigarette an und zog so heftig daran, dass die Glut knisterte.
»Was weißt du über den Jungen?«
»Über Clément Faucogney? Nicht besonders viel. Nur dass er zweimal wöchentlich von seiner Gouvernante zu seiner Fechtstunde begleitet wurde«, sagte Vioric leise. »Die junge Dame ist seither übrigens ebenfalls spurlos verschwunden.«
»Ein Sechzehnjähriger, der von seiner Gouvernante begleitet wird? Verwöhntes Bürschchen.« Tusson zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge und wandte sich wieder der Leiche zu, bevor er hinzufügte: »Fechten! Kannst du dir das vorstellen, Julien? Alles, was heutzutage auch nur entfernt an ein Bajonett erinnert, gehört auf den Müllberg der Geschichte.«
Wie auch so manche althergebrachte Verhaltensregel in Liebesdingen, dachte Vioric. Im Hause des jungen Clément wurde hinter vorgehaltener Hand der Verdacht geäußert, die Gouvernante habe womöglich eine kopflose Liaison mit dem Bürschchen gehabt. Vioric hatte insgeheim gehofft, dass die beiden durchgebrannt waren und zumindest der Junge bald wieder reuig zur Familie zurückkehren würde. Aber das war leider nicht geschehen.
Die Polizisten sahen sich einer Wand aus Menschen gegenüber, die trotz Eiseskälte und unverschämter Frühe so aufgeregt wirkten wie Zuschauer bei einem Hundekampf. Viorics Blick glitt über die Menge. Auf Fußspitzen tänzelnde Neugierde ließ die Reihen hin und her wogen.
Vioric erkannte ein paar der jungen Frauen, die in den Cafés im fünften Arrondissement bedienten: seine flüchtigen Bekannten etlicher einsamer Mittagessen. Alle wirkten seltsam uniformiert mit ihren Glockenhüten aus Wolle und Filz, und deswegen fiel ihm Héloïse Girard, die Fotografin und Journalistin vom Figaro auch gleich auf. Auf ihrem Haupt thronte eine honiggelbe Cloche, die so leuchtete, dass sie damit das Gedränge um sie herum auf Abstand zu halten schien.
Als Girard seinen Blick auffing, warf sie ihm eine Kusshand zu und hob die Ermanox-Kamera vor ihr wie immer glamourös geschminktes Gesicht. Vioric senkte den Kopf und zog den Hut tiefer in die Stirn. Diese Frau war eine einzige Provokation, nicht bloß was ihre penetrante Farbenliebe anging. Vioric fühlte sich heute von der unbekümmerten guten Laune, die von ihr ausging, beinahe ein wenig beleidigt. Heute war ein blutig-grauer Tag und nicht durch ein paar schrille Farbtupfer zu retten.
Tusson winkte einen der umstehenden Gardiens zu sich. »Murier, mein Junge. Holen Sie mal irgendetwas, das man zwischen den Toten und die Menge stellen kann!« Der sehr junge, blasse Polizist hastete davon.
Er erleichterte eine Wäscherin, die gerade mit einem kleinen Handwagen am Rand des Platzes vorbeikam, um eines ihrer Leintücher.
»Gut gemacht«, sagte Vioric.
»Danke, Lieutenant.« Etwas dünnes, schüchternes Stimmchen. Aber seine Augen blitzten heller als die Messingknöpfe an seinem dunklen Mantel.
»Halten Sie das Tuch hoch«, befahl Tusson ihm und dem Gardien, der Murier am nächsten stand. Die beiden taten wie geheißen, die Menge murrte.
Vioric ging neben Tusson in die Hocke und wünschte sich ein Paar dieser Latexhandschuhe, die man in der Gerichtsmedizin einsetzte, aber die waren für Polizisten nicht vorgesehen. Er betrachtete bedauernd seine geliebten Lederhandschuhe und zögerte. Bring es hinter dich, dachte er. Sein Herz versank für einen kurzen Moment in einer Art Leere, ehe es mit einem raschen Stolpern wieder seinen Takt fand. Vioric warf einen Blick auf Tusson, der reglos nach unten schaute.
»Hilfst du mir, den Burschen aus dem Sack zu ziehen?« Tusson nickte widerwillig.
Als die Leiche vor ihnen auf dem Boden lag, machte Vioric dem Polizeifotografen Platz, der die Szenerie mit Blitzlicht überzog.
Tusson richtete sich wieder auf. Die nächste Zigarette fand den Weg zwischen seine dünnen, von einem rötlichen Bart umrahmten Lippen. »Ich seh mir mal die Umgebung an.«
»Vorsichtig, der Taschenkrebs!«, rief ein Gardien.
»Was?« Tusson wich dem Tier gerade noch aus. Er lag nur wenige Meter von der offenen Seite des Sackes entfernt. »Mon dieu, Vioric! Was macht der denn hier?« Er besah sich das Tier genauer. Es war tot. Ein Riss durchlief den Panzer. »Auf dem Fischmarkt im Marché Saint-Quentin und in den Fischläden in Les Halles gibt es hervorragende Tiere. Mit Gurkensalat und Rettich ergeben sie ein wunderbares Mittagessen …«
»Tusson!«
»Verzeihung die Herren«, kam es hinter dem Tuch hervor, das zwar frisch gewaschen duftete, aber nicht gegen den Gestank dessen ankam, was sich im Sack befand. »Wir können unsere Arme nicht mehr lange oben halten.«
Tusson winkte zwei weitere Gardiens zur Ablösung heran. Dann stieg er über die Leiche und näherte sich den speerartigen Eisenzacken am Zaun vor der Treppe zum Panthéon. »Ha!«, rief er und deutete mit der Zigarette auf eine der Spitzen. »Hier hängt was, ein paar Fasern vielleicht!«
»Geht’s vielleicht noch lauter?«, zischte Vioric. »Willst du, dass Mademoiselle Girard das als Untertitel für einen ihrer Schnappschüsse benutzt?«
Julien Vioric konnte den Blick kaum von dem verdrehten Körper abwenden. Er erkannte Verletzungen, wie er sie auch in Flandern gesehen hatte, aber da waren Granaten für geborstene Rippen verantwortlich gewesen. Vioric war erleichtert, als Doktor Durand von der Gerichtsmedizin endlich kam.
»Doktor Durand, können Sie mir sagen, ob der Junge ein schmetterlingsförmiges Muttermal am Steißbein hat? Dann habe ich alles, was ich für den Moment brauche.«
»Sie haben wohl schon einen Verdacht, um wen es sich hier handelt, Lieutenant?«
»Es könnte Clément Faucogney sein. Er kehrte vor fünf Tagen nicht mehr vom Fechtunterricht zurück. Wie sich herausstellte, lag sein Lehrer mit Darmkatarrh im Bett, und seit dieser abgesagten Stunde wird der Junge vermisst. Seine Mutter wurde gebeten, ein eindeutiges Körpermerkmal ihres Sohnes zu nennen, falls man eine nicht zu identifizierende Leiche findet. Sie nannte besagtes Muttermal.«
Doktor Durand nickte und wandte seine Aufmerksamkeit dem Opfer zu.
»Ich habe schon viele Leichen gesehen, aber das hier – wenn es nur ein bisschen anders aussehen würde, würde ich sagen, der Junge wurde von einem Automobil überfahren. Oder wurde vor eine U-Bahn geworfen. Warten Sie einen Augenblick.« Der Doktor nahm ein paar Untersuchungen vor, deren Anblick Vioric sich ersparte. Er stand auf und trat zu dem jungen Murier.
»Ich denke, wir sollten einander kennen, wenn uns das Schicksal schon hier bei diesem armen Teufel zusammenwürfelt. Lieutenant Julien Vioric, mein Name.«
Der junge Gardien nickte. »Stéphane Murier, Gardien de la paix stagiaire, Lieutenant Vioric!«
»Woher kommen Sie?«
»Aus Antibes.«
Vioric zuckte zusammen. »Antibes? Ist das Ihr Ernst?«
Murier nickte.
»Was zum Teufel brachte Sie dazu, sich nach Paris zu begeben?«
»Meine Eltern sind an der Spanischen Grippe gestorben. Und Paris? Lieutenant, jeder will doch nach Paris.«
Tusson gesellte sich zu ihnen. »Ja, vor allem Amerikaner, weil sie sich bei uns noch betrinken dürfen.« Tusson hatte nichts übrig für die zehntausenden Exilanten aus der neuen Welt, die neuerdings Paris bevölkerten, weil sich die Stadt seit dem Krieg auf eine Weise gemausert hatte, die Vioric nicht hätte beschreiben können.
»Manche sind auch hier, um Bücher zu schreiben«, beteuerte Murier, als müsste er die vermeintlichen Flüchtlinge der amerikanischen Prohibition in Schutz nehmen. »Mein Mitbewohner zum Beispiel schreibt einen Roman über …«
»Wie alt sind Sie?«, unterbrach ihn Vioric.
»Einundzwanzig.«
»Du meine Güte.«
»Lieutenant?«
»Nun, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, aber vielleicht kann ich Sie irgendwann dazu überreden, zurück nach Antibes zu gehen. Sie wollen doch nicht Ihr junges Leben dieser Stadt zum Fraß vorwerfen.« Er zwinkerte Murier zu und warf anschließend einen Blick über die Schulter. Der Doktor schien sich den Sack, in dem der Junge gefunden worden war, genauer anzusehen.
»Packen Sie den Taschenkrebs ein, Murier?«
»Natürlich.«...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2021 |
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Reihe/Serie | Julien Vioric |
Kommissar Julien Vioric ermittelt | |
Kommissar Julien Vioric ermittelt | |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | 1924 • Alex Beer • André Breton • Babylon Berlin • Boheme • Comte de Lautréamont • eBooks • Frankreich • Fräulein Gold • historischer Krimi • historisches Paris • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Louis Aragon • Nachkriegskunst • Niklas Natt och Dag • Starke Frauen • Surrealismus • Volker Kutscher |
ISBN-10 | 3-641-27746-9 / 3641277469 |
ISBN-13 | 978-3-641-27746-8 / 9783641277468 |
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