Der gefrorene Fluss (eBook)

Das berauschende Glück der Stille. Ein Winter im Himalaja
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2021 | 1. Auflage
416 Seiten
Arkana (Verlag)
978-3-641-26942-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der gefrorene Fluss -  James Crowden
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Auf der Suche nach Stille und Abenteuer bricht der junge Engländer James Crowden 1976 auf nach Zanskar, ein abgelegenes Himalaya-Hochtal, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Er ist erst der zweite Fremde, der jemals seinen Fuß in diese harsche Welt der Zanskaris gesetzt hat. Über die Wintermonate taucht er tief ein in ihre entbehrungsreiche Existenz: Einsamkeit und Schnee, Feste und Gebete, Ofenfeuer und Butterherstellung. Inspirierend und fesselnd zugleich, entfaltet der Autor das faszinierende Panorama einer längst untergegangenen Welt aus Abgeschiedenheit, innerer Einkehr und purer Stille. Zugleich erinnert er an die Bedrohung unserer einzigartigen Natur.

James Crowden, geb. 1954, ist ein renommierter Lyrik-Autor, Ingenieur und Ethnologe. Nach seiner Zeit in der Armee brach er 1976 auf ins Zanskar-Tal, wo er den Winter verbrachte. Seitdem hat er die Region im Himalaya immer wieder besucht, seine Erfahrungen dort mündeten in die lebenslange Begeisterung für den Buddhismus und traditionelle Landwirtschaft. Bis zu seinem Ruhestand arbeitete er als Schäfer, Förster und Apfelwein-Brauer. Der Autor lebt in Somerset, im Südwesten Englands.


Prolog
Die Suche nach Stille


Das Tal


Stille, Schnee und Alleinsein haben von mir Besitz ergriffen und wollen mich nicht mehr loslassen. Ich bin besessen von den Bergen, der Kälte und dem Eis. Der Winter hat mit harter Hand meine Seele fest im Griff. Es ist wie eine Krankheit, eine Art spiritueller Besessenheit, das Bergfieber. Es gibt kein Entkommen. Ich sitze hier für die nächste Zeit fest, gefangen in einem kaum bekannten tibetisch-buddhistischen Hochtal, eingekeilt zwischen der Hauptkette des Himalaja und dem Karakorum.

Einer nach dem anderen haben sich die Hochpässe hinter mir geschlossen, und sie werden erst in sechs oder sieben Monaten wieder begehbar sein. Die einheimische Bevölkerung, die Zanskari, verbringen ihr halbes Leben um kleine Öfen geschart, in denen sie Yak-Dung und Tamariskenholz verheizen, um sich warm zu halten. Es ist dunkel in ihren Häusern. Wie sie, umgeben von diesen Unmengen an Schnee und Eis, überleben und über den Winter kommen, ist nach wie vor ein Rätsel. Der einzige andere Mensch aus einer westlichen Kultur, der einmal einen ganzen Winter in Zanskar verbracht hat, war ein exzentrischer ungarischer Sprachwissenschaftler namens Alexander Csoma de Kőrös. Doch das ist gut einhundertfünfzig Jahre her, und er hat keine Aufzeichnungen über den Winter dort hinterlassen.

Stellen Sie sich vor, Ihre Vorfahren lebten schon seit tausend Jahren oder mehr in den Bergen. Welche Auswirkung würde das auf Ihren Geist, auf Ihr Denken haben, auf Ihr Bewusstsein und Ihre Art, die Dinge zu sehen? Stellen Sie sich vor, wie viel Schweigen Ihre Vorfahren in dieser Zeit aufgesogen und verinnerlicht haben. Die Menschen von Zanskar versuchen, die Lehren der Stille zu bewahren, die zwischen den Worten aufkeimt. Diese Lehren, mitunter sehr formal, aber auch sehr subtil, lassen den Raum anklingen, der sich auftut, wenn Worte ihr Ende erreichen. Und dann ist da auch noch das Schweigen des Dzogchen und der Berge, das nicht gelehrt, sondern nur vom Lehrer auf den Schüler übertragen werden kann. Die Sprache der buddhistischen Lehren, die Sprache des Mitgefühls durchzieht das Alltagsleben der Zanskari wie ein unsichtbarer Faden.

Nach Süden hin liegt der pulsierende, farbenfrohe indische Subkontinent. Nach Norden die trockenen Sandwüsten Zentralasiens. Im Westen Kaschmir, die schartige Grenzlinie zu Pakistan. Im Osten erhebt sich endlos das einsame, von Nomaden bevölkerte tibetische Hochland. Ein Land der Meditation, der Mönchsdebatten und der monastischen Gelehrsamkeit. Selbst für die Verhältnisse im Himalaja ist Zanskar ein weltabgeschiedener Ort.

Tiefes Schweigen, tiefer Schnee und tiefe Einsamkeit. Das sind die inneren Koordinaten, die mir am meisten bedeuten. Es gab mehrere Gründe, warum ich diese Abgeschiedenheit, diesen Rückzug von der Welt gesucht habe. Absoluter Frieden und Ruhe. Abgeschiedenheit ist ein Geisteszustand – entweder hat man ihn, oder man zieht los und sucht ihn. Doch wenn man diese besondere Form von Einsamkeit einmal gefunden und von ihren Früchten gekostet hat, dann kehrt man immer wieder dorthin zurück, um sich mit der Wildheit und der blanken Leere der Berge zu verbinden. Die Sehnsucht nach diesen Bergen ist vielleicht ein zentraler Teil des Menschseins.

Die Vorstellung, den zugefrorenen Zanskar abwärtszureisen, lockte mich mindestens ebenso sehr wie die Stille des Winters. Schlafen unter freiem Himmel, in Höhlen, im Schnee – sich irgendwie durchschlagen. Ein falscher Tritt, ein Sprung im Eis, ein fataler Ausrutscher in Richtung des offenen Wassers, und man ist verloren. Der Fluss ist reißend, tief und eisig kalt. Der schwere Rucksack zieht einen im Nu in die Tiefe. Ein schnelles Ende. Zanskar im Winter ist reine Gefahr.

Diese Reise den gefrorenen Fluss hinab wollte ich unbedingt machen, mehr als alles andere auf der Welt. Soweit ich wusste, hatte noch nie ein Mensch aus dem westlichen Kulturkreis die Freuden und die Gefahren gekostet, die er aufbot. Auch wenn ich diese Herausforderung begrüßte, so hatte ich doch viel zu lernen. Die Berge riefen mich in ihrer stillen Sprache, die ich noch zu entschlüsseln hatte. Ich sehnte mich nach Eis und Einsamkeit, aber die Berge halten so manche Tücke bereit.

Die Straße aus Eis


Manchmal, wenn das Eis klar war, konnte ich durch die Eisdecke hinuntersehen bis auf den Grund des Flussbetts, in dem sich Kiesel in vielen Farben tummelten: graue, rostbraune, schwarze, orangefarbene und sogar welche in zartem Lila. Das Wasser selbst hatte einen berauschenden Türkiston. Dann wieder war die Eisdecke so dick, fest und undurchsichtig, dass man sie wohl mit einem Panzer hätte befahren können. Wo die Eisdecke dünn wurde, war der Fluss gefährlich. Eine hauchdünne Schicht, unter der unsichtbare Wirbel leise dahinstrudelten. Eine Falle für den Schritt dessen, der nicht auf der Hut war.

Sobald man seinen Fuß darauf setzte, hinterließ der gefrorene Fluss unauslöschlich sein Mal im Geist. Er wurde zum Spiegel der Seele. Er prägte mir eine innere Stärke, eine Zuversicht ein, die mich für den Rest meines Lebens nicht mehr loslassen würde. Eine Art inneren Kompass. Es war ein Initiationsritus. Eine Einweihung. Die Menschen in Zanskar nennen den gefrorenen Fluss chadar: »Eisplatte«, »Eisstraße«, »Eisdecke« oder einfach »der Vereiste«. Sie zollen ihm Respekt. Im Winter spielt er in ihrem Leben die Hauptrolle.

Man lernt schnell, das Eis zu lesen, erfasst mit einem Blick alte Bruchstellen und Risse, scannt es auf Unebenheiten, welche die Absichten und Tricks des Flusses verraten. Fließrichtung und Geschwindigkeit ändern sich in einem schwer durchschaubaren, quirligen Wechselspiel. Massive Strömungen, verwoben zu komplexen Mustern. Ströme eingefangener Luftblasen. Zu langen Schnüren aufgefädelt, als befände sich dort unten ein Taucher. Bogig, spiegelverkehrt und vielfach geschichtet. Hypnotisierend. Das erstarrte Fließen. Eingeschlossen ins Eis. Geliert, verfestigt, stumm.

Das Gefühl, tagelang in der Klamm festzuhängen, hat überhaupt nichts Unangenehmes. Es ist sogar tröstlich, so als würden die Berge einen willkommen heißen. Ein Gefühl der Erwartung, ein gewisser Nervenkitzel, als würde man sich auf verbotenes Gelände vorwagen. Ein Schaudern in der kalten, schneidenden Frühmorgenluft. Man fühlt sich durch und durch lebendig. Das Adrenalin zeigt Wirkung. Deine Atmung verändert sich, man ist sich jedes einzelnen Geräusches gewahr. Man lotet die Tiefen der Stille aus. Man hängt nicht einfach in der Klamm fest, man folgt einem Mäandern, das sich um einen mächtigen Gebirgszug windet und ihn schließlich durchschneidet. Erdgeschichte im Querschnitt, bloßgelegt. Sedimentgestein aus Millionen Jahren, gewunden, verdreht, stellenweise fast senkrecht aufragend, buddhistische und geologische Zeit gleichauf. Man rutscht, schlittert und schlurft, als schleife der Fluss einen vor sich her. Diese Reise hat ihre ganz eigene Dynamik, wie ein silberner Ariadnefaden.

Ist man einmal auf dem Chadar unterwegs, dem gefrorenen Fluss, wird alles anders. Das Leben folgt anderen Richtwerten. Die Welt schrumpft zusammen auf diese Klamm. Man wird sehr fokussiert, wie jeder Kletterer es sein muss. Man misst sich am Fels, am Eis, am gefrorenen Fluss selbst. Man reckt sich in die Höhe, voll Zuversicht, das Ohr geeicht auf die Stimme des Flusses. Man lernt, seinen Tonfall zu deuten, wenn man mit dem Bergstock das Eis abklopft und geduldig auf das Echo horcht und dann auf das Echo des Echos. Um abzuschätzen, wie tragfähig das Eis ist. Man taucht ein in die Energie des Flusses. Man liest seinen Geist, wie er sich dreht und wendet, wie der Geist eines wilden Tieres. Man berechnet seinen Lauf, wie er unter dem Eis und über dem Eis fließt. Man wartet darauf, wie er das Signal zurückwirft wie ein Echolot. Worauf es ankommt, ist die Art des Widerhalls, die Höhe des Tons. Klopf, klopf, klopf. Man lauscht, was er einem antwortet. In jeder Schwingung liegt eine Unsicherheit. Daher liest man das Eis auch mit den Augen. Jede Unregelmäßigkeit wird registriert und protokolliert, nur für den Fall, dass sich die Klangfarbe ändert. Man orientiert sich an dem seltsam verwachsenen Wacholderbaum, den kleinen nallahs an den Seiten: Felskanälen, Seitentälern oder steilen Schluchten und Wasserläufen, die häufig ausgetrocknet sind. An Höhlen, hohen vereisten Wasserfällen, alten Lawinenkegeln, bestimmten Felsvorsprüngen, seltsamen Mustern im Schichtgestein, am Wechsel der Farben und des Lichts.

Man lernt, dass die Eisbildung bei Flüssen zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich verläuft. Manchmal bricht sich der vereiste Fluss Bahn, bäumt sich drei oder mehr Meter auf in die Luft, wuchtig und wild, sodass sich massige Schollen von Packeis übereinandertürmen. Manchmal dröhnt der sich vorwärtsschiebende, berstende Eisfluss laut wie Artilleriefeuer, ein scharfes Krachen, das die schmalen Wände der Klamm hindurchhallt. Und einen auf Trab hält. Weil das Krachen näher kommt. Manchmal aber schweigt der eisige Fluss auch. Dann wieder spricht er in Rätseln. Und man muss seine Orakel deuten. Lernen von den Alten. Auch von ihrem Schweigen. Der Geist ist immer wachsam.

Als ich mit den Zanskari den gefrorenen Fluss hinabwanderte, war ich mir aber nicht nur seiner Gefahren bewusst, sondern auch seiner überwältigenden Schönheit. Zeit war bedeutungslos. Als würden wir im Kosmos kreisen, losgelöst von der Sicherheit der Welt, wie wir sie kannten. Die Zeit, in der wir uns bewegten, war nur geliehen. Wir befanden uns auf einer abenteuerlichen Reise, die größer war als wir. Die Bande, die uns mit Fels und Bergen verknüpften, waren ebenso so stark wie die zwischen uns.

Manchmal fühlte ich...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2021
Übersetzer Elisabeth Liebl
Sprache deutsch
Original-Titel The Frozen River
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Biografie • Biographien • Der Salzpfad • eBooks • Entschleunigung • Into the wild • Natur • Paolo Cognetti • Rynor Winn • Sehnsucht • Trecking • Wandern
ISBN-10 3-641-26942-3 / 3641269423
ISBN-13 978-3-641-26942-5 / 9783641269425
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