Mein englisches Bauernleben (eBook)

Die Farm meiner Familie und das Verschwinden einer alten Welt
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27758-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein englisches Bauernleben -  James Rebanks
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein so poetisches wie passioniertes Buch über die Bewahrung des Landes und traditioneller Formen der Landwirtschaft - »Sunday Times« Naturbuch des Jahres 2020
James Rebanks schaute als Junge einst seinem Großvater zu, wie der traditionelle Landwirtschaft betrieb in einer kargen, herausfordernden nordenglischen Landschaft, die geprägt war von einem Flickenteppich aus Weiden, Wiesen, Feldern, kleinen Höfen, artenreichen Heckenlandschaften. Jetzt ist er selbst der Bauer des ererbten Familienhofes, aber die Arbeit und das Land haben sich wie überall auf der Welt tief greifend verändert: Die alte bäuerliche Lebensweise in und mit der Natur ist verlorengegangen und vieles, ob Tiere oder Pflanzen, aus der Landschaft verschwunden. In seinem über weite Strecken fast poetisch anmutenden Text verharrt Rebanks jedoch nicht im wehmütigen Blick auf eine untergegangene Welt. Er versucht auf seinem Hof, überliefertes Wissen für die Gegenwart nutzbar zu machen, und gibt dem Leben als Kleinbauer eine hoffnungsvolle Perspektive.

James Rebanks, geboren 1974, ist Farmer und Schäfer im Lake District im Norden Englands, wo seine Familie seit über sechshundert Jahren ihrer Arbeit in dieser kargen Landschaft nachgeht. Sein erstes Buch, der eindrucksvolle autobiografische Bericht »Mein Leben als Schäfer«, war ein großer internationaler Erfolg und verschaffte ihm in England fast Kultstatus. Einblicke in sein Leben auf Twitter (@herdyshepherd1) und Instagram.

Wir saßen stumm im Warteraum der Kanzlei, hockten wie nervöse Krähen unbequem auf den harten Stühlen. An den Wänden hingen steife Porträts der Kanzleigründer, die streng auf uns herabblickten. Neben uns saß eine schon leicht ergraute Mutter mit ihrer Tochter. Die beiden unterhielten sich flüsternd. Dann wurden sie von einem Mann im Nadelstreifenanzug die Treppe hoch gewiesen. Diese muffigen Büroräume, die gut in einen Dickens-Roman gepasst hätten, lagen in unserer nächsten Kleinstadt gleich neben der Sandsteinkirche. Generationen ländlicher Familien, die hier zur Klärung juristischer Angelegenheiten durch die Tür getreten waren, hatten mit ihren Sonntagsschuhen die Stufen abgewetzt.

Meine Familie wurde 1420 erstmals urkundlich erwähnt, anlässlich eines Rechtsstreits mit einem Aristokraten, der in der Nachbargemeinde ansässig war. Es ging um Landbesitz. Heute waren wir bei diesen Anwälten, die seit mindestens drei Generationen die Rechtsgeschäfte unseres Hofs führten, um uns das Testament meines Vaters in allen Einzelheiten verlesen zu lassen.

Der Anwalt meines Großvaters wurde einfach »Charles« genannt. So hieß es beim Auftreten von Problemen, die auch nur im Entferntesten mit juristischen Dingen zu tun haben könnten: »Wir sollten in dieser Sache lieber Charles fragen.« In Marktstädtchen wie dem unseren hatte es lange eine kleine Mittelschicht aus Experten gegeben, die sich mit den Belangen der Bauern und anderer befassten, die vom Land lebten.

Eine junge Frau, die hier anscheinend zur Sekretärin ausgebildet wurde, bot mir eine Tasse Kaffee an. Eine ältere Frau hatte sie mit einem Ellbogenstups und Geflüster dazu aufgefordert, mich zu fragen, aber es stellte sich schnell heraus, dass sie nicht wusste, wie die Kaffeemaschine zu bedienen war. Die junge Frau wollte in der neuen Stelle sichtlich ihr Bestes geben, musste sich aber erst noch zurechtfinden. Mit zitternden Händen hantierte sie mit den Tassen. »Ich gehöre nicht zu den feinen Leuten, die Kaffee trinken«, murmelte sie verlegen. Die ältere Frau schob sie sanft, aber bestimmt zur Seite und machte den Kaffee selbst. Da zog sich die junge Frau hinter die Theke zurück, mit einem Blick, als würde sie am liebsten davonlaufen. Ich kenne diesen Blick. Bis ich Mitte zwanzig war, bekam ich Schweißausbrüche, wenn ich mit »feinen Leuten« reden musste – allen, die irgendwie nach Mittelschicht oder nach »Studierten« aussahen. Neben ihnen kam ich mir klein vor und wurde oft mürrisch und schweigsam. Sie waren im Besitz aller Wörter. Sie wussten über alles Bescheid, ich nicht.

Kaum war der Kaffee serviert, wurden wir von der älteren Frau höflich über den Gang in einen Raum geführt, in dem ein großer Lacktisch stand, umgeben von gepolsterten Lederstühlen. Durch das Fenster blickte man auf ein Schieferdach, auf dem zwei graue Tauben ihre Trippeltänze tanzten. Hinter uns trat eine Frau herein und ging an meiner Mutter vorbei; im Arm trug sie einen Stapel alter, prall gefüllter Mappen, zusammengehalten mit Schnüren und Bändern. Sie stellte sich vor und erklärte, dies seien die Urkunden für unser Land. Die Bänder wurden aufgeknotet, und die Mappen quollen auseinander wie ein dicker Bauch beim Lösen des Gürtels. Es juckte mich in den Fingern, die Papiere zu öffnen, dieses dicke Bündel voller unerzählter Geschichten, sie in die Hand zu nehmen. Aber offenbar war das nicht üblich, denn die Anwältin ging gleich zu den juristischen Fragen über, deretwegen wir gekommen waren, und die Urkunden blieben lose ausgebreitet, aber zusammengefaltet auf dem Tisch liegen. Sie sprach, aber ihre Worte rauschten an mir vorbei. Sie bemerkte, dass ich abgelenkt war, und hielt inne. Da fragte ich, ob ich mir die Urkunden ansehen dürfe. Sie bejahte, schob mir einige hin und erklärte ein paar Dinge dazu. Dann legte sie uns die ersten zwei, drei Dokumente in die Hände und schlug sie an ihren steifen Falten auseinander. Sie klappten auf wie riesige Pappschmetterlinge, die ihre Flügel entfalten.

Diese Blätter enthielten, was einer schriftlich festgehaltenen Geschichte unseres Landes am nächsten kommt – etwas anderes gibt es nicht. Die aufgeschlagenen Seiten waren über und über mit einer fast nicht entzifferbaren, aber gestochen scharfen Handschrift beschrieben, dazu kamen mit Pastellfarben getönte Skizzen der Felder und Wiesen. Jedes Blatt begann mit einer riesigen, altertümlichen Initiale, und im Anschluss waberte unzugängliche Juristensprache über die Seite. Unten klebten Siegel aus burgunderrotem Wachs, umrahmt von krakeligen Unterschriften. Während sich meine Augen an das Dokument und die Feldskizzen gewöhnten, öffnete sich mir eine halb vertraute Welt von Feldnamen und markanten Landschaftszügen – Bäume, Bäche, Sträßchen, Felder –, eine Art Blaupause aus Tinte und Papier der realen Landschaft aus Wiesen, Felsen, Ackerboden, Wald und wiederkehrenden Naturräumen, die ich kannte. Eingezeichnet waren auch historische Denkmäler, zum Beispiel archäologische Funde, die ich noch nie gesehen hatte; sie hatten alle den Beinamen »keltisch«.

In diesen Bündeln stand die Geschichte der Besitzverhältnisse eines jeden Stück Landes, jede Transaktion war im Detail darin festgehalten, und das über Jahrhunderte hinweg. Das letzte Mal waren diese Urkunden für meinen Vater oder Großvater zur Einsicht hervorgeholt worden, und davor für die Leute, die vor uns das Land bewirtschaftet hatten, denn die übrige Zeit lagerten die Dokumente, geschützt vor unseren schmutzigen Händen, in Archiven. Sie wurden nur zurate gezogen, wenn es Streitigkeiten über einen Grenzverlauf oder Besitzverhältnisse gab oder wenn jemand starb. Die Feldnamen erregten meine Aufmerksamkeit:

Greenmire (Grüner Sumpf)

Little Greenmire (Kleiner grüner Sumpf)

Smithy Brow (Schmiedkuppe)

High Stoney Beck (Hoher steiniger Bach)

Clovenstone (Kleefels)

Cloven Stone Rigg (Kleefelskamm)

Browfield (Kuppenfeld)

Wood Garth (Waldgarten)

Long Field (Langes Feld)

Irgendwo enthielt dieses Urkundenbündel auch die notarielle Abwicklung des Erwerbs von vierzig Hektar in den frühen Sechzigerjahren durch meinen Großvater. An einem Sonntagnachmittag hatte er meinen Vater, damals ein schlaksiger Teenager, und seinen Schwager Jack, der das Land besser kannte als er selbst, zu einem Ausflug mitgenommen, bei dem er ihnen »etwas zeigen« wollte. Er fuhr zu dieser kleinen, heruntergekommenen, schlecht eingezäunten, verstreuten Ansammlung von Wiesen und Feldern, die in diesen Urkunden erwähnt waren; zusammen ergaben sie eine »Fell Farm«, einen Hof in den Fells, den Bergen des Lake District. Dort erklärte er ihnen, er werde das Geld bei der Bank leihen und die Farm als Sommerweide für sein Vieh und seine Schafe kaufen. Sie kostete 14 000 Pfund. Es gab auch Urkunden über die zwanzig Hektar, die mein Vater und meine Mutter inmitten dieser Landstücke einem weiteren Bauern abkauften, der seinen Hof aufgab. So wurde aus dem Flickwerk der »Fell Farm« ein Ganzes. Später, in den Neunzigerjahren, kamen noch weitere sechzehn Morgen dazu, als angrenzendes Land verkauft wurde. Bald würden in diese Archive auch die Urkunden über die vierzehn Morgen eingereiht, die meine Frau und ich an der Straße hinter unserem Haus in den Wochen nach dem Tod meines Vaters kauften, weil sie so dicht bei unserem Hof lagen und für unsere Schafe und Rinder nützlich wären.

Diese Dokumente zeigten, wie Land immer wieder von einer Familie zur nächsten überging, und machten mir bewusst, dass ein landwirtschaftlicher Betrieb keine feste Größe ist, sondern sich oft mit jeder Generation verändert, wenn Familien Land kaufen, pachten oder verkaufen. Die Geschichte des Landes verlief genauso ungeordnet und kompliziert wie die Geschichte der meisten Familien. Die Bindung der Menschen an ihr Land erneuert sich mit jeder Generation, die den Hof weiterführt und Arbeit hineinsteckt. Sie kann auch verloren gehen. Während die Anwältin redete, wurde mir klar, dass die Zukunft meiner Familie in dieser ländlichen Ecke Nordenglands von meinem Geschick abhing, durch die Nutzung unseres Landes (und durch alles, was mir sonst noch einfiel) genug zu verdienen, um unsere Rechnungen zu bezahlen, unsere Schulden zu bedienen und unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ich hatte auf unserem Hof gearbeitet und für eine Schafherde gesorgt, seit ich ein Teenager war, aber ab jetzt war alles anders. Als wir die ausgetretenen Sandsteinstufen der Kanzlei wieder hinunterstiegen, tat ich es in dem Bewusstsein, dass ich jetzt »der Bauer« war.

~

Die Monate nach dem Tod meines Vaters waren die härtesten meines Lebens. Ich hatte immer der Bauer sein wollen, der Kapitän des Schiffs, der das Steuer in der Hand hielt, aber als es so weit war, spürte ich nur eine innere Leere. Die Welt erschien mir in einem öden Grau. Jenseits unseres kleinen Tals schienen die Leute überall den Verstand verloren zu haben, wählten Idioten und taten in ihrem Furor seltsame Dinge. Durch England zogen sich tiefe Gräben, die Einheit war zerbrochen. In diesen Monaten hatte ich plötzlich das Gefühl, ich hätte mich verirrt. Mir war, als wäre ich immer hinter anderen hergelaufen und hätte mich, wenn es schwierig wurde, mit ihnen ausgetauscht und von ihnen beruhigen lassen. Dann waren sie verschwunden. Der Hof war ein einsamer Ort geworden und wurde ärmer, wenn er nicht geteilt wurde. Und mit jedem Jahr, das verging, wurden die Bauern weniger, schrumpften zu einer verschwindend kleinen und zunehmend machtlosen Minderheit. Unsere Welt fühlte sich immer brüchiger an und könnte jetzt tatsächlich in Scherben gehen.

~

Laut UN übersiedeln monatlich...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2021
Übersetzer Maria Andreas
Sprache deutsch
Original-Titel English Pastoral. An Inheritance
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Agrarindustrie • Agrarwende • Alternative Landwirtschaft • Artenvielfalt • Bauernsterben • Biografie • Biographien • Dirk Steffens • Dörte Hansen • eBooks • Flurbereinigung • Grüne Landwirtschaft • Kleinbauern • Lake District • Landwirtschaft • Lebensmittelproduktion • Mein Leben als Schäfer • Nachhaltigkeit • Nahrungsmittelindustrie • Not der Bauern • Ökolandbau • Pestizide • Raynor Winn • Robert Macfarlane • Schäfer • Viehhaltung • Weidewirtschaft
ISBN-10 3-641-27758-2 / 3641277582
ISBN-13 978-3-641-27758-1 / 9783641277581
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten | Der Nummer 1 …

von Florian Illies

eBook Download (2023)
S. Fischer Verlag GmbH
22,99
Eine Familiengeschichte der Menschheit

von Simon Sebag Montefiore

eBook Download (2023)
Klett-Cotta (Verlag)
38,99
Die Biografie - Deutsche Ausgabe - Vom Autor des Weltbestsellers …

von Walter Isaacson

eBook Download (2023)
C. Bertelsmann (Verlag)
32,99