Wahre Verbrechen (eBook)

Die dramatischsten Fälle einer Gerichtsreporterin - True Crime
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-28187-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wahre Verbrechen -  Christine Brand
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Gerichtsreporterin und Bestsellerautorin Christine Brand erzählt wahre Verbrechen, begangen von Menschen die unser aller Nachbarn sein könnten.
Ein unauffälliges Ehepaar wird zum tödlichen Duo - mit einem absurden Motiv. Ein Mann gesteht den Mord an seiner Frau und wird doch freigesprochen. Ein kleines Dorf wird von einer unvorstellbaren Tat erschüttert. Christine Brand, Autorin des Bestsellers »Blind« und weiterer Kriminalromane um ein Schweizer Ermittlerduo, war als Gerichtsreporterin bei den Prozessen zu diesen und anderen Fällen hautnah dabei und hat Einblicke in die Geschichten von Tätern, Opfern und Publikum wie kaum jemand sonst. Sie erzählt von den Verbrechen, spannender und oft unglaublicher als jeder Krimi, und davon, wie es ist, im Gerichtssaal zu sitzen und in die tiefsten Abgründe der Menschen zu blicken.

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental in der Schweiz, arbeitete als Redakteurin bei der »Neuen Zürcher Zeitung«, als Reporterin beim Schweizer Fernsehen und als Gerichtsreporterin. Im Gerichtssaal und durch Recherchen und Reportagen über die Polizeiarbeit erhielt sie Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie. Neben der erfolgreichen Milla-Nova-Reihe erscheinen bei Blanvalet auch ihre True-Crime-Titel »Wahre Verbrechen« über Kriminalfälle, die sie als Gerichtsreporterin begleitete. Christine Brand lebt in Zürich und auf Sansibar.

Der Jahrhundertmörder


»Ich habe immer bei allem gedacht, ich kann das mit mir alleine ausmachen. Aber da gab es diesen einen Vorfall – über den habe ich mit meinem Vater gesprochen. Es passierte ganz am Anfang, nach meiner Einarbeitungszeit, während eines Nachtdienstes. Ich weiß noch genau, welche Kollegen dabei waren. Es geschah auf der Intensivstation 211.

Ein Patient hat massiv zu bluten begonnen. Er war bei Bewusstsein und sagte, es gehe ihm nicht gut. Die Flaschen füllten sich rasch mit Blut, alles ging ganz schnell, alle möglichen Ärzte und Pflegekräfte wurden alarmiert, alles was da war, war innerhalb von Minuten im Zimmer. Er wurde beatmet und ins Koma versetzt, und sein Brustkorb wurde geöffnet. Ich stand hinter dem Arzt, zog mir die Einweghandschuhe an und musste mit der Hand das Herz ergreifen, um es mechanisch am Pumpen zu halten.

Das ist alles auch erst mal gut gegangen.

Aber dann, nach der Arbeit, saß ich im Auto und war nicht in der Lage loszufahren. Das war einfach zu schnell und zu viel für mich, ich konnte das nicht verarbeiten.

Darüber habe ich also mit meinem Vater gesprochen.

Er fragte mich: ›Bist du sicher, dass du da richtig bist?‹ Und ich antwortete mit Ja, ich wollte vor meinem Vater nicht eingestehen müssen: Papa, ich schaffe das nicht. Ich wollte es mir selber nicht eingestehen. Ich habe meine Gefühlslage vor mir selbst verleugnet.

Die ehrliche Antwort wäre gewesen: Eigentlich ist das nichts für mich. Stattdessen sagte ich: ›Ich schaffe das schon.‹«

Er hat es nicht geschafft.

Hätte Niels H. damals zugeben können, dass er der falsche Mann für diesen Job ist, wäre er nicht zum größten Serienmörder der deutschen Nachkriegszeit geworden.

*

Die Weser-Ems-Halle in Oldenburg ist siebenhundert Quadratmeter groß. Dreihundertfünfzig Stühle stehen da in Reih und Glied, rot gepolstert, wie in einem Konzertsaal. Doch die Stimmung wiegt schwer und legt sich wie ein Schatten über die Menschen, die sich an diesem nasskalten Morgen hier einfinden. Auch ich kann mich ihr nicht entziehen. Zu gewaltig ist die Last dieser Geschichte, zu erdrückend. Immer wieder denke ich an die Zahl der Opfer, die schwer zu fassen ist.

Ein Absperrband trennt verschiedene Sitzbereiche voneinander ab: Journalisten, Zuschauer, Angehörige.

Viele Angehörige.

Es kommt mir vor, als ob ich ihren Schmerz spüren könnte, als ob er sich ausbreitete im Saal wie eine leise, traurige Melodie. Tatsächlich sitze ich mitten in einer Trauergemeinde, heute, hier, in der riesigen Halle, in der sonst getanzt, gefeiert, konferiert wird, in der Stars wie Vanessa Mae auftreten. Die Menschen sind nicht zusammengekommen, um Abschied zu nehmen, das haben sie vor langer Zeit getan – sondern um Antworten auf die Frage zu erhalten, warum ihre Liebsten überhaupt gehen mussten.

Es ist der 30. Oktober 2018, die Weser-Ems-Halle ist für die nächsten Wochen zu einem Gerichtssaal umfunktioniert worden. Hier findet ab heute ein Verfahren statt, das alle Dimensionen sprengt: der größte Mordprozess in der Geschichte der Bundesrepublik.

Schon ganz am Anfang zeigt sich, dass alles an diesem Prozess außerordentlich ist. Der vorsitzende Richter Sebastian Bührmann beginnt mit einer Schweigeminute. Ich erhebe mich, gemeinsam mit allen anderen im Saal. Niemand bleibt sitzen, keiner sagt ein Wort. Ich erlebe es zum ersten Mal – und ich bin schon lange dabei –, dass in einem Gerichtssaal der Opfer gedacht wird.

Bevor sich Richter Bührmann demjenigen zuwendet, um den sich der Prozess hier dreht, richtet er seine Worte ausdrücklich an die Hinterbliebenen und Angehörigen.

»Wir werden mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen. Aber die vollständige Wahrheit werden wir nicht ermitteln können.«

Weil nur einer die ganze Wahrheit kennt und weiß, um wie viele Opfer es hier tatsächlich geht. Doch Niels H. kann sich nicht mehr an alle erinnern. Er hat zu oft getötet, als dass er seine Opfer zählen könnte.

Vielleicht zweihundert, vielleicht dreihundert?

Die Polizei geht von über dreihundert möglichen Opfern aus. Doch viele der Toten sind längst kremiert worden und können nicht mehr obduziert werden. Viele von Niels H.s Taten werden für immer unentdeckt bleiben. Aber nicht alle.

Die Anklage lautet auf Mord an einhundert Menschen. Hundertsechsundzwanzig Nebenkläger mit siebzehn Anwälten nehmen am Prozess teil. Die Staatsanwältin braucht über eine Stunde, bis sie die Namen der Opfer vorgelesen hat. Hundert Namen, hundert Geburtstage, hundert Todestage. Ihre Worte erklingen monoton über die Lautsprecheranlage.

Niels H., einundvierzig, sitzt da vor all den Opferfamilien, bullig, stämmig, ein Kopf wie ein Stier. Er stützt ihn auf seine Hand, fährt sich hin und wieder übers Gesicht. Ansonsten keine Gefühlsregungen.

Später wird ein Opferanwalt ihn fragen, ob er jemals daran gedacht habe, mit dem Töten aufzuhören.

»Nein.«

Niels H. spricht mit klarer Stimme.

*

Niels H. wusste schon immer, was er einmal werden wollte, schon als Kind: Krankenpfleger, genau wie sein Vater, die Oma, der Opa, die Tante, der Onkel. Sein Traumberuf. Oder aber Feuerwehrmann, doch das ging nicht, das war früh schon klar, denn Niels leidet massiv an Höhenangst, selbst Leitern hochklettern ist nicht drin. Auch kann er bis heute nicht über Brücken fahren, außer er setzt sich im Auto so hin, dass er nicht hinaussehen kann. Aber der Rettungsdienst, sagt er, das sei schon immer sein Ding gewesen, da sei er hineingewachsen, familiär bedingt.

»Die größte Motivation kam von meiner Oma.« Niels H. schwärmt davon, wie zufrieden seine Großmutter jeweils war, wenn die »Patienten frisch gewaschen im Bett gelegen haben«. Er merkt nicht, wie zynisch es klingt, wenn er sagt: »Ich habe den Beruf erlernen wollen, weil es mir darum ging, Menschen zu helfen. So habe ich das mitbekommen von meiner Oma und meinem Vater.«

Hin und wieder holte der Vater den kleinen Niels mit dem Krankenwagen vom Kindergarten ab. Das war natürlich eine große Sache, das machte Eindruck, und die anderen Kinder wurden neidisch.

Niels H. sagt, er sei »behütet« aufgewachsen in Wilhelmshaven, »da gab es keine Auffälligkeiten, keine Gewalt«.

Sein ehemaliger Lehrer an der Integrierten Gesamtschule Wilhelmshaven erklärte gegenüber dem Magazin Der Spiegel: »Es ist mir unbegreiflich, wie aus diesem unkomplizierten Schüler ein Mörder werden konnte.«

Man stößt fast ausschließlich auf Geschichten eines netten Jungen, wenn man in Wilhelmshaven nach Niels H. fragt. Er war ein sportlicher Bursche mit dunklen Locken, weder Außenseiter noch Einzelgänger, selten um einen flotten Spruch verlegen. Mitschüler erinnern sich an einen »liebenswerten, lustigen Kerl«, einige Mädchen waren verliebt in ihn.

Ein anderer Lehrer beschreibt den jungen Niels als angenehmen, unauffälligen, gut integrierten Typen. »Ich hatte den Eindruck, bei den H.s herrschen vernünftige, harmonische Familienverhältnisse.«

Mit sechzehn arbeitete Niels H. ehrenamtlich beim Arbeiter-Samariter-Bund. Er spielte Fußball, im Mittelfeld und im Sturm. Er war immer für ein Bier zu haben, hatte eine Freundin, alles normal.

Wenn man die Menschen sprechen hört, scheint es zwischen dem Kind Niels H. und dem Mörder Niels H. nicht die geringste Verbindung zu geben. Als existierten da zwei verschiedene Persönlichkeiten. Ich frage mich, was bloß passiert ist zwischen dem Davor und dem Danach, und ertappe mich dabei, dass ich auf eine Erklärung hoffe für eine monströse Mordserie, die man nicht erklären kann.

*

Es ist der 7. Februar 2000. Die Nacht liegt schwarz über der Stadt Oldenburg. Nur in den Gängen der städtischen Klinik bleibt das Licht immer grell. Niels H. hat Nachtschicht. Der Krankenpfleger arbeitet am liebsten nachts, wenn nicht viel Betrieb herrscht.

Die Station liegt ruhig da, der Gang ist leer. Niels H. schließt eine Zimmertür hinter sich, drei Schritte, er steht am Bett der herzkranken Elisabeth S. Ganz ruhig zieht er die Spritze auf, setzt sie an und verabreicht der Patientin ein Medikament namens Lidocain, ein Mittel, das unter anderem bei Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird. Das Herz der Siebenundsiebzigjährigen setzt aus.

Sofort beginnt Niels H. mit der Reanimation. Darin ist er richtig gut, einer der Besten, obwohl er erst seit einem halben Jahr als Pfleger auf der Abteilung 211 im Klinikum Oldenburg arbeitet, der herzchirurgischen Intensivstation. Niels H. spürt das Adrenalin, das seine Adern flutet, die Herausforderung, den Kick. Er holt die Frau ins Leben zurück. Doch die Reanimation ist eine Qual für einen geschwächten Körper, ein brutaler Akt, ihn ins Diesseits zurückzuzerren, nachdem er seine Funktion schon aufgegeben und das Leben losgelassen hat. Für das Herz der alten Frau ist es zu viel. Trotz der zunächst erfolgreichen Reanimation stirbt Elisabeth S. eineinhalb Stunden nach dem Vorfall.

Niels H., dreiundzwanzig Jahre jung, hat gerade mutmaßlich seinen ersten Mord begangen. Es ist möglich, dass er schon davor getötet hat. Es ist sicher, dass er es danach erneut tun wird. Immer wieder.

Er mordet ausgerechnet an einem Ort, wo sich die Opfer behütet fühlen, wo sie ihr Schicksal vertrauensvoll in die Hände der Experten legen, wo ihre Angehörigen sie sicher wähnen. Es sind Todesfälle, die nicht auffallen, weil in Krankenhäusern auch gestorben wird. Es sind Morde, die viel zu lang unbemerkt bleiben, weil niemand hinschaut...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Blind • Der Bruder • Die Patientin • eBooks • echte Fälle • Echte Kriminalfälle • Ferdinand von Schirach • Gerichtsreporterin • Gerichtsverhandlung • Kriminologie • Michael Tsokos • Michelle McNamara • Milla Nova und Sandro Bandini • Mörder • Schweiz • True Crime • True Crime Bücher deutsch • Verbrechen in der Nachbarschaft • Wahre Verbrechen • ZEIT Verbrechen
ISBN-10 3-641-28187-3 / 3641281873
ISBN-13 978-3-641-28187-8 / 9783641281878
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