Der Zeitindex (eBook)

Thriller
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
432 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-24681-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Zeitindex -  Christian Cantrell
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Die nahe Zukunft. Ein mysteriöser Serienkiller hält die Welt in Atem, denn die einzige Spur sind seltsame Zahlen, die er auf den Körpern seiner Opfer hinterlässt. CIA-Agentin Quinn Mitchell wird auf ihn angesetzt, und schon bald führt ihre Spur sie zu einer schockierenden Entdeckung - denn der Killer scheint mehr über Quinn zu wissen als sie selbst. Plötzlich muss Quinn sich den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit stellen ...

Christian Cantrell studierte an der George Mason University in Washington und arbeitet als Softwareentwickler bei Adobe Systems. In seiner Freizeit widmet er sich dem Schreiben von Science-Fiction-Romanen. Der Autor lebt in North Virginia.

1

Agentin des Chaos


Bevor sie aufsteht, zieht Kira als Erstes ihre Beine an. Sie stehen in der Stehhilfe aus Stahl auf einer Ladematte neben dem Bett, und als die junge Frau sich aufrichtet, spannen sich ihre Rücken- und Schultermuskeln an. Die Nervenadapter in ihren Oberschenkeln justieren sich magnetisch an den Kontakten am Ende der Mulden aus Karbonfaser, und die Schnittstellen ziehen sich zusammen, bis die Verbindung stabil ist.

Irgendwo hat sie eine Kunsthaut, die sie darüberziehen kann, und wenn sie die Nahtstellen, an denen das texturierte Urethan und ihr Gewebe aufeinandertreffen, mit Shorts oder einem engen Rock kaschieren würde, sähe sie so aus, dass sie auf der Straße Begehren und Neid statt Neugier, Abscheu oder Mitleid erwecken würde.

Doch Kira lebt allein, deshalb bleiben die servomechanischen Gliedmaßen unkaschiert, und ihre Kleidung beschränkt sich auf Unterwäsche, Tanktop und die Metabrille im Pilotenstil. Ihre Zuflucht in der Penthouse-Suite des verdrehten und langsam rotierenden Infinity Moscow Tower hat sie seit fast vier Jahren nicht mehr verlassen. Sie hat keinen Grund, sich auch nur die Zähne zu putzen oder beim Pinkeln die Badezimmertür zu schließen.

Kira arbeitet nachts. Ihr Arbeitsplatz ist ihre Wohnung, und ihre Werkzeuge sind Instrumente der Täuschung und der Konspiration. Proxys verbergen ihre IP-Adresse und verweisen auf ihre zahlreichen Identitäten. Ihr Aufenthaltsort lässt sich vor der Außenwelt verbergen, doch Echtzeitinteraktion lässt sich nicht fälschen, weshalb Kira nachtaktiv geworden ist. Ihr Boss bezeichnet sie als »Triebkraft des Wandels«, doch das ist eine Verdrehung der Tatsachen. Sie ist eine Triebkraft des Chaos.

Ihre Abendroutine beginnt damit, dass sie Tee macht. Sie schaltet den Wasserkocher in der Küche ein, und während sie wartet, bis das Wasser kocht, setzt sie sich hin, um den Monitor an ihrem Handgelenk einer Schnellladung zu unterziehen. Das Gerät lässt sich nicht entfernen, sodass sie es an Ort und Stelle laden muss. Sie verschränkt die Finger und beugt sich vor, beide Arme flach auf die Matte gelegt. Ein Blitz-Symbol taucht am Rand ihres Gesichtsfelds auf und zeigt an, dass ihre Brille über das biomagnetische Feld aufgeladen wird.

In die Ladematte sind Schichten einander überlappender Drahtspulen eingearbeitet, die warm, aber nicht heiß werden sollen, und als es verbrannt riecht und ein leiser Knall zu hören ist, schnellt sie hoch und weicht zurück. Ihr wird klar, dass es einen Kurzschluss gegeben hat. Mit einem Fußtritt löst sie sofort das Kabel aus der Steckdose, eilt zur Spüle und hält den Arm unter den kalten Wasserstrahl.

An der Innenseite des Unterarms haben sich bereits rundliche rote Quaddeln gebildet. Es tut weh, aber sie ist Schmerzen gewohnt. Sie hat ständig Schmerzen und deshalb gelernt, sie lediglich zu registrieren, statt sie an sich heranzulassen.

Bevor die Raketen eingeschlagen sind, war Kira die Haupteinnahmequelle ihrer Familie, und noch ehe sie das Krankenhaus verlassen konnte, hatten ihre Eltern dafür gesorgt, dass sie wieder vor einem Computer saß. Zu Hause hatte ihr Vater sie zwischen dem Schreibtisch und der Toilette hin und her getragen, und ihre Mutter hatte ihr die Verbände gewechselt, ihr Suppe gebracht und sie gebadet. Über den Vergeltungsangriff, den sie mit ihrer Arbeit provoziert hatte, hatten sie kein Wort verloren. Das gehörte der Vergangenheit an, und die ließ sich nicht ändern. Kira musste früh lernen, dass manche Menschen es sich nicht erlauben können, sich den Ängsten von gestern oder den chronischen Schmerzen der Gegenwart hinzugeben.

Wenn ihr persönliches Überwachungssystem ausfällt, soll sie unverzüglich ihre Betreuer informieren. Scheiß drauf. Sie weigern sich, irgendwas anderes als russische Ware zu verwenden, was bedeutet, dass die Hälfte davon Schrott ist und die andere Hälfte beschissene Firmware, die jedes Scriptkiddie hacken könnte. Wenn ihr Monitor ausfällt und ihre Biometrik plötzlich offline geht, können sie sich denken, dass ihr Ladegerät durchgeschmort ist.

Kira schiebt die Balkontür auf, um zu lüften. Für gewöhnlich sieht sie erst nach den Tauben, wenn der Tee zieht, doch heute tritt sie in den kalten Moskauer Abend hinaus.

Einmal pro Tag trifft ein Vogel mit einem handgeschriebenen Chiffrierschlüssel ein, den man ihm am Bein befestigt hat. Tauben übermitteln Botschaften eigentlich nur in eine Richtung. Sobald sie sich an ein Zuhause gewöhnt haben, fliegen sie immer dorthin zurück. Um sie erneut einzusetzen, muss man sie einsammeln und wieder verteilen. Diese Tauben aber sind genetisch verändert worden und haben ein zweigeteiltes Gehirn, dessen Hälften lichtabhängig dominieren. Tagsüber fliegen sie in die eine Richtung, nachts in die andere. Wie Kira haben auch die Taubenbetreuer gelernt, deren multiple Identitäten in Waffen zu verwandeln, die sich gegen zahlreiche Feinde einsetzen lassen.

Der heutige Vogel ist noch nicht eingetroffen, doch die Nachtluft tut gut, deshalb geht Kira nicht wieder hinein. Sie spürt den Frühling in den Silikonkacheln, als sie am Taubenschlag vorbeigeht, legt ihren verletzten Arm auf das kalte Metallgeländer und schaut über die Stadt. Sie fröstelt, doch ihr ist nicht so kalt wie früher. Die Beine machen 36 Prozent der Wärme abstrahlenden Oberfläche eines Erwachsenen aus. Und Kiras kybernetische Prothesen geben Wärme ab, die ihr Oberkörper absorbiert.

Kiras Beziehung zu ihren Beinen ist inzwischen symbiotisch. Sie kommuniziert mit ihnen über die Nervenbahnen, die sie als kleines Mädchen ausgebildet hat, und die Beine interpretieren ihre Absichten, stimmen sich miteinander ab und geben die sensorischen Eindrücke auf demselben Weg zurück. Meistens läuft dieser Prozess unbewusst ab, doch hin und wieder kommt es zu einer Fehlkommunikation. Wenn sie das Gefühl hat, ihre Beine seien plötzlich taub geworden, rekalibriert sie sie mittels einiger einfacher Diagnoseanweisungen.

Diesmal nimmt sie die nervliche Dissonanz als Schwindelanfall wahr. Ihre Beine befördern sie zwei Schritte zurück, als wollten sie ihr helfen, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, das jedoch gar nicht gefährdet war. Und dann tritt das hintere Bein fest gegen das Geländer, sodass eine Delle entsteht.

Da die Signale in beide Richtungen übermittelt werden, versteht Kira genau, was vor sich geht. Ein Teil von ihr hat sogar aktiv Anteil daran, obwohl sie sich dagegen sperrt. Die Signale beeinflussen sie, als hätte sich die Kausalitätskette umgekehrt; indem sie daran denkt, dass sie gegen das Geländer getreten hat, sendet sie unwillkürlich weitere Signale an ihre Beine, was zur Folge hat, dass sie erneut gegen das Geländer tritt, sobald ihr Gleichgewicht wiederhergestellt ist.

Die Aluprofile lösen sich aus der Verankerung, und nach dem dritten Tritt stürzt das ganze Mittelsegment sich überschlagend in die Dunkelheit. Jetzt wird Kira klar, dass man sie infiltriert hat und dass ihr nur wenige Sekunden bleiben, um die Beine zu lösen. Doch die Verriegelung reagiert nicht. Und weil moderne russische Prothesen unmöglich kaputtgehen können, gibt es auch keinen Mechanismus für den Notfall.

Sie macht zwei Schritte nach vorn, und dann entsteht eine furchtbare, stille Pause. Das Scheppern, mit dem das Geländer auf die Straße knallt, hallt von den umliegenden Gebäuden wider, und ihr Verstand nutzt den Aufschub, um eine irrwitzige Berechnung anzustellen. Kira hat aufgehört, sich zu wehren, und versucht sich zu konzentrieren. Sie weiß, dass sie den nächsten Schritt physisch nicht verhindern kann, aber sie könnte vielleicht trotzdem die Kontrolle zurückerlangen.

Mit geschlossenen Augen atmet sie durch und zwingt sich zur Ruhe. Sie wird gelassen und ausgeglichen und fühlt sich auf einmal wieder kräftig und groß. Entschlossen und ihrer selbst gewiss. Sie kann nicht mehr genau sagen, wer oder was die Kontrolle hat, doch sie weiß, der einfachste und schnellste Weg fort von dem Schmerz ihrer Vergangenheit ist, den nächsten Schritt zu wagen. Erfüllt von einer tiefen Ruhe, tut sie den letzten Schritt und stürzt sich von der obersten Etage des Hochhauses.

Sie hat nicht das Gefühl zu fliegen, zu schweben oder frei zu sein. Freier Fall ist weder friedlich noch meditativ. Das Rauschen der vorbeiströmenden Luft schwillt zu einem Tosen an, zerrt an ihrem Hemd und reißt ihr die Brille vom Gesicht. Sie spürt, dass sie nach vorn kippt und sich dreht, und versucht unwillkürlich, sich aufzurichten. Doch sie kann nichts weiter tun, als in den kalten schwarzen Wind hineinzuschreien, bis sie keine Luft mehr hat, und als sie Atem holen will, merkt sie, dass ihre Lunge zu schwach ist, um Luft aus dem Tosen herauszusaugen. Die junge Frau ist still und erschlafft, als sie unten aufprallt, und der Knall, mit dem sie auf dem Beton aufschlägt, hallt durch die Dunkelheit.

Als ihr Körper verdreht und entstellt daliegt, röten sich die Verbrennungen an Kiras bleichem Unterarm noch stärker und werfen Blasen. Doch auch wenn sie von sich überlappenden konzentrischen Spulen im Inneren eines weichen Polymers herrühren, sind sie nicht kreisrund. Als wären nur bestimmte Drahtelemente defekt. Die frische Verletzung verwandelt sich in eine Reihe von Ziffern, gebildet aus Ringsegmenten – in die Zahlenfolge 6809.

»Niemand ist unantastbar«, sagt der Israeli. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe.«

Der groß gewachsene Mann steht hinter ihm. Beide betrachten das Bild einer angezapften Überwachungskamera, das auf einer Scheibe aus Plasmaglas angezeigt wird. Der Feed wird in den Falschfarben des Infrarotspektrums wiedergegeben, und das, was sie beobachten,...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2021
Übersetzer Norbert Stöbe
Sprache deutsch
Original-Titel Scorpion
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Agententhriller • CIA-Agent • eBooks • Mord • Nahe Zukunft • Science-Thriller • scorpion • Serienkiller • Thriller • Wissenschaftsthriller • Zeitreise
ISBN-10 3-641-24681-4 / 3641246814
ISBN-13 978-3-641-24681-5 / 9783641246815
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