Nachruf (eBook)

Stefan-Heym-Werkausgabe

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
944 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-27821-2 (ISBN)

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Nachruf -  Stefan Heym
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Stefan Heym (1913-2001) ist eine Jahrhundertfigur. Sein Leben war aufs Engste mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben: Er floh vor den Nationalsozialisten, wurde in die USA eingebürgert, unterstützte die amerikanischen Invasionstruppen bei der psychologischen Kriegsführung, übersiedelte 1953 in die DDR und leistete trotzdem Widerstand gegen die SED. »Nachruf« ist die mitreißende Lebenserzählung eines deutschen Juden und linken Utopisten und das bewegende Dokument eines der streitbarsten Schriftsteller der Nachkriegsliteratur.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, floh vor der Nazidiktatur nach Amerika, verließ das Land in der McCarthy-Ära und lebte von 1952 an in der DDR. Sein kritischer, unbeugsamer Geist machte ihn zur Symbolfigur. Als Romancier und Publizist wurde er international bekannt. 1994 eröffnete er mit einem engagierten Plädoyer für Toleranz als Alterspräsident den Deutschen Bundestag. 2001 starb er auf einer Vortragsreise in Israel.

1


Natürlich gibt es das nicht, ich weiß. Kein Neugeborenes ist, kaum daß es den ersten Schrei ausgestoßen, bewußter Beobachtung fähig. Es mag Bewegungen in seiner Umgebung bemerken, Licht, Schatten. Aber Gestalten unterscheiden, Stimmen, Worte?

Dennoch findet sich in seinem Gedächtnis, als erstes Bild des Films, den ein jeder mit sich herumträgt: wie er der jungen Mutter in den Arm gelegt wird, und die Wärme des Arms, der ihn nun umfängt, die Geborgenheit – das Gefühl, das er immer wieder suchen wird sein Leben lang. Und dazu die freudig trompetende Stimme des Arztes, des Dr. Götz: »Ein Jungchen! Ein sehr schönes Jungchen!« Der Dr. Götz hat Lachfältchen im Gesicht, die lose Haut unterm Kinn ist gleichsam aufgespießt auf den Ecken des gestärkten Hemdkragens, die wulstigen Lippen sind in die Breite gezogen.

Es war eine Erstgeburt, vorgenommen im Schlafzimmer der Wohnung im zweiten Stock des Hauses Kaiserplatz 13 in der sächsischen Industriestadt Chemnitz; vom Fenster aus hat man die Sicht auf das Frühlingsgrün der Bäume auf dem Kaiserplatz. Der Arzt mag Komplikationen erwartet haben, die junge Frau ist eher zierlich gebaut, aber die Geburt verlief normal: ein schönes Jungchen, ein braves Jungchen, nur ein Mädchen hätte es werden sollen, wie das Jungchen später erfuhr, sogar den Namen hatte es schon, Helene, nach der verstorbenen Mutter des Vaters, des Kaufmanns Daniel Flieg aus der kleinen Stadt Schrimm in der Provinz Posen; nun wird notgedrungen aus Helene ein Helmut, und wenige Tage später wird er, wie sich’s gehört, beschnitten, vom Lehrer Sommerfeld und mit dem Daumennagel, knips, ab.

Das Haus Kaiserplatz 13 existiert nicht mehr. In meinem Besitz befindet sich ein Photo von S. H., darauf steht er, in amerikanischer Uniform, vor den Resten seines Geburtshauses, der Vorderwand mit den hohlen Fenstern und den schwärzlich angesengten, ehemals roten Ziegeln. Er steht da breitbeinig, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Kappe schief auf dem Schädel. Ein Sieger?

Ich weiß noch, was ihm durch den Kopf ging. Daß alles ganz anders war als erwartet, und war dies wirklich die Rückkehr, die Rückkehr zu den Wurzeln? Da war nicht nur der Krieg gewesen, der die Bäume auf dem Platz geknickt und das Haus zertrümmert hatte bis hinein in das Souterrain vorn rechts, wo der Schuhmacher Bernhardt immer gesessen hatte unter seiner weißen Glaskugel, die Holzstifte zwischen den Lippen; auch die Proportionen hatten sich verändert, waren geschrumpft. Aber wenn er die Augen schloß, waren sie alle wieder da, die Bilder der Kindheit, die aus ihm unerfindlichen Gründen stets in Sonnenlicht getaucht waren. Also ein glückliches Kind?

Der amerikanische Soldat vor der übriggebliebenen Vorderwand des Hauses Kaiserplatz 13 schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern und geht.

Wie groß die Freude des Kaufmanns Daniel Flieg über die Geburt des Stammhalters gewesen ist, läßt sich schwer sagen; er war ein Mensch, der seine Emotionen selten zeigte, und seinen Kindern gegenüber fast nie. Er muß vieles in sich hineingeschluckt haben, verdrängt, wie man heutzutage sagt, und wenn er des Abends stundenlang in der Sofaecke saß, den Brockhaus auf dem Knie, doch ohne die Seite zu wenden, spürte der kleine Sohn plötzlich die Fremdheit des Mannes, die nicht zuließ, daß man ihm auf den Schoß kroch und sich anschmiegte an ihn. Daniel Flieg war ein Pflichtmensch, mit preußisch-gerader Haltung; auf Sonntagsspaziergängen wurde Helmut durch die nach hinten gedrehten Ellbogen der Spazierstock geschoben; der Stock, waagerecht gegen das Rückgrat gepreßt, zwang zu aufrechtem Gang, Kopf hoch, Junge, Brust heraus. Das war dem Jungen nicht einmal unangenehm, und er hatte ja auch nichts einzuwenden gegen eine gute körperliche Haltung; untergründig lag darin, daß man rechtzeitig etwas tun mußte gegen den krummen jüdischen Rücken.

Aber die Pflicht, die zu erfüllen war, war nicht nur eine preußische; sie war jüdisch ebenso, denn sie war Pflicht vor allem der Familie gegenüber. Früh schon war dem Kaufmannslehrling Daniel Flieg durch den Tod seines Vaters, Abraham hatte er geheißen, und den bald darauf folgenden Tod der Mutter die Sorge um die Geschwister auferlegt worden, ihrer sieben an Zahl, darunter fünf Mädchen, die alle der Reihe nach unter die Haube gebracht werden mußten: Recha (vergast), Linka (vergast), Dora (emigriert), Regina (vergast), Liesel (emigriert). Ohne eigenes Verschulden war der Kaufmannslehrling Daniel Flieg also in die Rolle des Milchmanns Tewje aus Anatevka geraten, in eine Rolle, der er sich nicht entzog, das wäre undenkbar gewesen, und um deretwillen er die Verse verkümmern ließ, die sich in seinem Kopfe bildeten, und seine Phantasie abschnürte, der nachzuhängen ihm gegeben war. Oh nein, die Mädchen wurden verheiratet, eine nach der anderen, und je jünger die Schwester, desto höher stand der Erkorene im bürgerlichen Leben: die Älteste bekam einen, der nicht viel mehr als ein Schnorrer war, ein seelensguter Mensch und später besonders geliebt von dem Knaben Helmut; die jüngeren wurden Rechtsanwälten und Notaren gegeben, der reicheren Mitgift entsprechend. Im tiefsten Innern muß Daniel Flieg die Familie gehaßt haben, deren Patriarch er schon in jungen Jahren war; der Knabe Helmut hatte ein Gespür dafür, auch wenn ihm nicht sofort bewußt wurde, was der Blick bedeutete, die Handbewegung, mit der sein Vater die Tanten empfing, die nun ihrerseits den Kronprinzen mit bewunderndem Jauchzen begrüßten: Ach, was für ein hübsches und begabtes Kind!

Schrimm lag in der Provinz Posen, die Provinz Posen war preußisch, ihre Juden daher deutsche Juden. Aber die russische Grenze lag doch sehr nahe, so nahe, daß der Schatten der Deklassierung auch auf die Schrimmer Juden fallen konnte: waren sie nicht doch vielleicht ostjüdisch eingefärbt? Ostjude aber hieß speckiger Kaftan, Singsang-Stimme, mit den Händen reden, Körpergeruch, faule Geschäfte, hieß verachtet werden von den Goyim, den Ariern, wie sie sich bald nennen sollten. Wollte man das abschütteln, dieses Stigma, wollte man anerkannt werden als Deutscher und als Patriot, so mußte man fort aus dem Posenschen; je weiter nach Westen man ginge, desto besser würde man die Schwestern versorgen, den jüngeren Brüdern die Bahn brechen können für eine solide Zukunft.

Also kam Daniel Flieg, der inzwischen ausgelernt und sich als kaufmännischer Vertreter etabliert hatte, nach Chemnitz in Sachsen, welches mit seiner aufstrebenden Industrie – Textil, Maschinenbau – weit genug von den östlichen Einflüssen entfernt lag, um Fragen bezüglich der Schrimmer Herkunft nicht aufkommen zu lassen, und welches ihm Gelegenheit bot, Fuß zu fassen, sich zu entwickeln, den Schwestern und Brüdern zu helfen, solange sie seine Hilfe brauchten, um dann, endlich, sich selber leben zu können. Die Gelegenheit war eine Einheirat.

Ich weiß nicht, wer sie zusammenführte, den jungen Kaufmann Daniel Flieg und das Mädchen Elsa, einzige Tochter des Harry Primo, des Junior-Chefs der Firma B. Eisenberg & Sohn, Strumpf- und Wirkwaren, ob es der Zufall war, oder gemeinsame Bekannte, oder gar ein Heiratsvermittler; ihr Sohn Helmut hatte eine merkwürdige Scheu vor derart Fragen an die Eltern; und auch in späterer Zeit, da S. H., Verfasser mehrerer erfolgreicher Romane bereits, schon aus professioneller Neugier hätte nachforschen müssen, vermied er das Thema in seinen Gesprächen mit der Mutter. Aus welchen Gründen auch immer, das Liebesleben der Eltern war ihm tabu; er hat sich, mit einer Ausnahme, über die zu berichten sein wird, stets abgewandt, wenn ein Stück nacktes Fleisch von Vater oder Mutter ihm ins Blickfeld geriet.

Das Mädchen Elsa, oder Else, wie sie sich dann nannte, war von ganz eigenartiger Schönheit. Das mag, vom Sohne geschrieben, übertrieben klingen, aber die Rötelzeichnung, die der Maler Weinheimer von ihr angefertigt hat und die dann von den Nazis fortgeschleppt und wahrscheinlich vernichtet wurde, beweist es. Das Bild zeigte ihre sanften Augen, ihre weichen Züge, eine mittelhohe, leicht geschrägte Stirn über gerundeten Brauen, Lippen und Mund wohlproportioniert, ein kleines Kinn mit Grübchen, gutgeformte Ohren, deren eines ein wenig abstand, und dunkles, gewelltes Haar. Und dann, S. H. unvergeßlich, war da die Stimme, die weder zu tief noch zu hoch lag und die er nie, hier ist seine Erinnerung zuverlässig, in schrillem Ton oder überlaut gehört hat. In seinem Film sieht er den Kleinen – sechs wird er gerade geworden sein und trägt den Schulranzen auf dem Rücken –, wie er die Treppe zur zweiten Etage hinaufeilt, sieht in der Wohnungstür oben, vom Licht angestrahlt wie ein Engel, die Mutter, die ihn erwartet, und wie sie die Arme breitet und ihn zu sich nimmt und er sich an ihren Leib preßt.

Als der Kaufmann Daniel Flieg, zweiunddreißig Jahre alt, die zwanzigjährige Elsa Primo heiratet, ist der alte Eisenberg noch am Leben, der Gründer der Firma, die ihre bescheidenen Büroräume in einem Eckhaus der Moritzstraße hat, ein paar Schritte außerhalb des früheren Befestigungsrings der Stadt. Urgroßvater Eisenberg trug, an schwarzem Band, einen Klemmer auf der Nase; auch besaß er eine laut tickende Taschenuhr, die an zwei über den Bauch geschwungenen Teilen einer goldenen Kette hing und deren Deckel, auf einen Druck des Daumens hin, schnalzend aufsprang und den Blick auf das Zifferblatt und die beiden verschnörkelten Zeiger freigab. Außerdem roch der Urgroßvater immer so angenehm – nach Alter, dachte der Kleine, aber es dürfte wohl ein Eau de Cologne gewesen sein – und hatte in seiner Westentasche eine silberne Schnupftabaksdose, die aber keinen Tabak...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Reihe/Serie Stefan-Heym-Werkausgabe, Autobiografisches, Gespräche, Reden, Essays, Publizistik
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alterspräsident • Chemnitz • DDR • eBooks • Flucht vor den Nazis • Gesamtausgabe • Helmut Flieg • McCarthy-Ära • New York • Of Smiling Peace • Prag • Ritchie Boys • USA • Werkausgabe
ISBN-10 3-641-27821-X / 364127821X
ISBN-13 978-3-641-27821-2 / 9783641278212
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