Die Städte (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
190 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76778-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Städte -  Andreas Maier
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In der neuen Folge seiner Ortsumgehung nimmt uns Andreas Maier mit auf Reisen. Er zeichnet das Bild der vergangenen Jahrzehnte anhand der Städte und Landschaften, die die Urlaubsrouten einer mobilitätsbesessenen Gesellschaft flankierten. Mal ist er als siebenjähriges Kind mit den Eltern im Auto unterwegs zur verhassten Ferienwohnung in Brixen, mal trampt er als Sechzehnjähriger nach Südfrankreich und hört sich Nacktbusendiskurse am Strand an. Im Piemont klappt ein Selbstmord ganz und gar nicht, und schließlich, als der Billigfliegertourismus massenhaft über uns hereinbricht, fährt er lieber nach Weimar und sieht dort zu seiner Überraschung die neuen Rechten über den Frauenplan marschieren.
»Ach, vergeblich das Fahren!«, dichtete einstmals Gottfried Benn. Die Vergeblichkeit seines und womöglich unser aller Fahrens und Reisens schildert Andreas Maier in seiner ihm eigenen raffinierten und wie immer hochkomischen Art. Dabei gelingt ihm mit zauberhafter Leichtigkeit ein Gesellschaftsporträt über drei Jahrzehnte hinweg.



<p>Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschlie&szlig;end Altphilologie. Er lebt in Frankfurt am Main.</p>

 
 
 
 
 

Autofahren war zu Beginn vollkommen natürlich. Seit ich denken konnte, hatten wir zwei Autos, den Dienstwagen meines Vaters und das Auto meiner Mutter. Sie übernahm alle paar Jahre den abgelegten Wagen meines Vaters. In meiner Kindheit stammten beide Automobile in unserer Garage immer von Mercedes Benz. Zugfahrten habe ich mit meinen Eltern keine erlebt.

An die Kindheits-Autofahrt nach Rom kann ich mich nicht erinnern, oder sie ist überlagert von den zahllosen Fahrten, die wir nach Innsbruck und nach Südtirol machten. Sie verliefen immer gleich. Am Vorabend wurde gepackt, die Koffer wurden neben die Eingangstür postiert und der Wecker auf eine so frühe Uhrzeit gestellt, daß wir noch vor dem Berufsverkehr das Autobahnkreuz Nürnberg passiert hatten. Dann war das Unternehmen strategisch schon so gut wie gewonnen.

Ich saß also, quasi noch betäubt, morgens um halb vier in unserer kahlen Küche am Frühstückstisch und nahm ein Glas Milch oder Tee zu mir, mein Vater fuhr das Auto aus der Garage und bepackte nach einem bestimmten System den Kofferraum. Dinge mußten auch im Innenraum untergebracht werden, zum Beispiel auf der Rückfensterablage. Provianttüten kamen nach vorn in den Fußraum des Beifahrersitzes, auf dem meine Mutter saß. Auf der Rückbank nahmen wir drei Kinder Platz und würden dort die nächsten Stunden auf engstem Raum miteinander verbringen. Bei Dunkelheit wurde das Haus abgeschlossen, im Regelfall fuhren wir für mehrere Wochen. Aus der Ausfahrt heraus, meine Mutter schiebt das Hoftor zu, und dann beim Losfahren auf den ersten Kilometern die Überlegung: Haben wir nichts vergessen, ist alles dabei? Ausweise? Schecks?

Die erste Zeit fühlte sich an wie dunkles, schweres Blei. Neben mir Schwester oder Bruder, drei Kinder auf eineinhalb Metern. Da ich später lesen wollte, durfte ich an einem der Fensterplätze sitzen. Noch aber ist schwarze Nacht. Die Müdigkeit lähmt dir alle Glieder, du kannst kaum denken. Draußen ziehen Dunkelheit und Lichter vorbei, noch fast keine Autos, es ist gegen vier Uhr morgens. Schlafen geht nicht. Von vorn macht die Mutter Versorgungsversuche, sie hat die Beutel zu ihren Füßen, Kaffee, Tee, geschmierte Brote, alles in Butterbrotpapier verpackt, in späteren Jahren in Zellophan oder in Alufolie, am Ende der Fahrt wird sich einer der Beutel in einen Müllbeutel für die benutzten Verpackungsmaterialien verwandelt haben. Dieser wandert am Ankunftsort in den Mülleimer (von dort geht seine Reise dann weiter).

Noch aber ist es schwarz, und das einzige, was ich tun kann, ist, mich nicht zu rühren (so hält man die Müdigkeit besser aus) und darauf zu starren, wie die Lichter vor meinem Fenster vorbeisausen. Landstraße, noch eine Tankstelle an der Landstraße, dann bei Florstadt auf die Autobahn, beschleunigen, der Vater tritt für mich nur als Schulterpartie in Erscheinung, sein Kopf ist von der Kopfstütze verborgen. Schon arbeitet die Mutter mit den Beinen, weil ihr das Sitzen schnell unangenehm wird und ihre Beine sowieso Durchblutungsprobleme haben.

Wortlosigkeit hat sich eingestellt. Keiner spricht. Das Nichtsprechen wird der Mutter irgendwann zur Last, dann sagt sie etwas. Nur um zu sprechen und sich zu versichern, daß der andere, der am Steuer, noch da ist und ebenfalls mit ihr spricht. Meistens sind es immer noch Vergegenwärtigungsversuche des eben verlassenen Hauses. Hast du Frau Eiler den Briefkastenschlüssel gegeben? Haben wir den Küchenrolladen herabgelassen? Hast du den Termin mit dem Herrn Buresch verschoben?

Oder mein Vater: Hast du den Schriftsatz Möller noch gemacht?

Sie hat den Schriftsatz Möller noch nicht gemacht, aber das läßt sich auch von Italien aus erledigen. Denn vorausgesetzt, es handelt sich um eine Fahrt in die Ferienwohnung nach Südtirol, steht dort ja eine Schreibmaschine.

Dann wieder Schweigen, Fahren, Vor-sich-hinDämmern, der Schwester ist langweilig, sie kann sich nicht einkapseln in ihre Müdigkeit, vielleicht ist sie auch gar nicht müde. Wahrscheinlich freut sie sich sogar auf den bevorstehenden Bühnenwechsel. An dem Ort, zu dem wir fahren, sind zwar ihre Freundinnen nicht vorhanden, aber es gibt andere Kinder, mit denen sie anbandeln kann. Oder Jugendliche. Zum Beispiel auf dem Tennisplatz unten vor unserem Wohnblock. Sie fragt, wann kommt eine Tankstelle, wann können wir mal aussteigen usw.

Bevor aber getankt wird, muß Nürnberg geschafft sein. Getankt wird immer erst hinter Nürnberg, meist sogar erst in der Gegend um München. Dennoch muß vorher mindestens die Schwester einmal hinaus, meist auch die Mutter, wegen des Morgenkaffees.

Aber es ist immer noch dunkel. Nur die Autos werden langsam mehr um uns herum. Endlos zieht sich die Zeit. Wenige Gliederungspunkte unterwegs. Kreuz soundso, Kreuz soundso. Bald sind wir am nächsten Kreuz, und der Vater kündigt es an: Bald sind wir am Kreuz soundso. Vielleicht ist es der einzige Satz, der in einer Zeitspanne von zwanzig, dreißig Minuten fällt. Wie aus dem Nichts wird er in die Dunkelheit gesagt. Der Satz kommt von der im Schummerlicht der Instrumente erahnbaren Schulterpartie, die da vorn das Auto steuert, den schwer bepackten Mercedes Benz. Jeder kleinste Winkel ist ausgenutzt, ein Auto quasi zum Bersten voll, und dazu noch fünf Menschen darin. So könnte man auch von zu Hause flüchten, wenn Krieg ausgebrochen wäre. Als würde es ums Überleben gehen. Nehmt, was ihr tragen könnt, alles andere ist verloren! Um uns herum immer mehr von diesen Flüchtlingen mit ihren Habseligkeiten, die sie in allen Winkeln ihres jeweiligen Automobils verstaut haben. Aus den verschiedensten deutschen Städten (man sieht es an den Nummernschildern) flüchten sie in den Süden und müssen noch vor Sonnenaufgang Nürnberg erreichen. Als Schwarm rasen sie dahin, hundertsechzig, hundertachtzig Stundenkilometer, leben dann wochenlang von ihrem Flüchtlingsgut und kommen anschließend zurück in ihre Häuser und packen ihr Flüchtlingsgut wieder aus, dann wäscht die Mutter erst einmal fünf Ladungen Wäsche, um sich von der Flucht zu erholen und alles wieder in Ordnung zu haben, bis die nächste Flucht ansteht in den nächsten Schulferien.

Ich weiß, daß ich diese Dunkelheit aussitzen muß. Ich weiß auch, daß sie vorbeigehen wird. Aber erst bei Nürnberg. Denn bei Nürnberg geht die Sonne auf. Kommt der erste Streif am Horizont zu weit vor Nürnberg, denkt der Vater, er muß noch schneller fahren. Dann aber sagt die Mutter: Rase nicht so!

Nun der erste Lichtstreif. Ich kann zusehen, wie er breiter wird, schöner, über den Wäldern. Aus dem dunklen Nichts, durch das bislang bloß Leuchten sausten, schälen sich nun schwarze Massen heraus, die über die Straße jagen, die Autos werden auch außerhalb der Scheinwerferkegel sichtbar, wenn auch zunächst nur wie Schatten ihrer selbst. Als schwarze Schattenklumpen sehen sie bedrohlich und unförmig aus. Ich sitze selbst in einem solchen Schattenklumpen, unsichtbar, hinter Glas im Nichts, und werde von meinem Vater, der Schulterpartie, an den anderen Klumpen auf der Gegenfahrbahn vorbeigerast. Ein Huschen in ihren Augenwinkeln, kaum eine Zehntelsekunde. Unsere Familie. Ein identisches Huschen mit allen anderen Schwarzklumpenhuschenden. Die einen auf Nürnberg zu, die anderen von Nürnberg weg.

Meine Schwester ist unruhig, bald wird sie quengelig werden, mein Bruder programmiert etwas auf seinem Hewlett-Packard-Taschenrechner. Offenbar geht das in der Dunkelheit infolge der Leuchtanzeige. Ich verstehe von dem, was er tut, nichts, er erinnert mich aber an Mr. Spock mit seinem Tricorder. In einer halben Stunde, vielleicht erst in einer Dreiviertelstunde wird mein Bruder Perry Rhodan lesen und ich Asterix. Oder er wird weiterprogrammieren. Ich werde aber Asterix lesen. Für meine Asterixhefte habe ich ein kleines Köfferchen aus fester Pappe. Außen habe ich es mit einer braungeblümten Folie beklebt. Das Köfferchen besitzt einen Griff und ein richtiges mechanisches Schloß. Die Hefte passen genau hinein, und bei jeder Fahrt liegt es hinter mir auf der Ablage, sonst darf da nichts an diesen Platz, das wissen alle Beteiligten. Wenn diese Fahrt nach 1975 stattfindet, dann ist bereits das eine fehlende Asterixheft ersetzt, das mir Grenzpolizisten beim Übertritt in die DDR abgenommen haben. Meine Eltern hatten damals das Köfferchen nicht erlaubt, sie hatten nur ein einziges Asterixheft erlaubt, es lag auf der Rückbank...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2021
Reihe/Serie Ortsumgehung
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Athen • Auto • Autobahn • Autofiktion • biarritz • Billigflieger • Brixen • Das Haus • Das Zimmer • Der Kreis • Der Ort • Die Familie • Die Straße • Die Universität • Fahren • Familie • Flugzeug • Frankreich • Friedberg • Gesellschaft • Griechenland • Heimat • Landschaften • Mobilität • neues Buch • Ortsumgehung • Piemont • Reisen • ST 5247 • ST5247 • Städte • Südtirol • suhrkamp taschenbuch 5247 • Trampen • Unterwegs • Urlaub • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis • Zuhause
ISBN-10 3-518-76778-X / 351876778X
ISBN-13 978-3-518-76778-8 / 9783518767788
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